„Syrien: Eine eingefrorene Revolution, die plötzlich aufgetaut ist“
Der Sturz des Assad-Regimes hat die Welt überrascht – und den Menschen in Syrien neue Hoffnung gegeben. Ein Gespräch über die Folgen des Machtwechsels mit dem Nahost-Experten Carsten Wieland.
IP: Das koordinierte Vorgehen der Milizen und Fraktionen in Syrien gilt vielen Beobachtern als Hinweis darauf, dass die Beteiligten den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes gemeinsam voranbringen wollen. Was macht Sie optimistisch, dass das gelingt?
Carsten Wieland: Insgesamt war es ein Übergang, den man sich so kaum hätte vorstellen können. Es gab nur sehr wenige tote Zivilisten, es wurden lokale Abkommen mit religiösen und ethnischen Minderheiten wie den Alawiten und Kurden geschlossen, und sogar von nichtislamischen Gruppen wie den Drusen gab es aus dem Süden Verstärkung. Ich habe auch mit Christen in Damaskus gesprochen, die sehr erleichtert waren. Zum Vergleich: Bei der Niederschlagung der Aufstände 2011 und in den Folgejahren durch Baschar al-Assad gab es Hunderttausende Tote.
Muhammad al-Dscholani, Anführer der islamistischen HTS-Miliz, hat zudem eine Amnestie und eine Befreiung der Gefangenen angekündigt. Auch seine Aussagen zu religiöser Toleranz stimmen viele optimistisch. All das schweißt die Syrer derzeit eher zusammen, als dass es sie spaltet.
Darüber hinaus war die noch von Assad eingesetzte Regierung von Premierminister Mohammad al-Dschalali gewillt, freiwillig zu kooperieren und die Institutionen nicht so hasenfüßig zu verlassen, wie es Assad mit dem gesamten Land getan hat. Das Treffen zwischen al-Dscholani, al-Dschalali und dem bisherigen Chef der Rebellenregierung in der Provinz Idlib, Mohammed al-Baschir, der nun für ganz Syrien zuständig sein soll, hatte den Charakter eines gemeinsamen Rates. Ein solches Format kann dabei helfen, den Zusammenbruch staatlicher Institutionen zu verhindern. Wie lange diese Zusammenarbeit anhält, müssen wir beobachten.
Derzeit ist die islamistische Rebellengruppe HTS die wichtigste Kraft im Land. Welche Rolle spielen das kurdische Militärbündnis SDF (Syrian Democratic Forces) und andere syrische Gruppierungen?
Neben der HTS waren auch andere Gruppen am Sturz Assads beteiligt, die natürlich in irgendeiner Form an der Macht beteiligt werden wollen. HTS-Chef al-Dscholani muss nun sowohl die Interessen und Machtbestrebungen der verschiedenen Gruppen austarieren als auch die teilweise radikalen Fraktionen innerhalb der HTS im Zaum halten. Momentan habe ich nicht den Eindruck, dass es dabei größere Auseinandersetzungen gibt.Aber das ist natürlich eine Momentaufnahme.
Ein sensibler Punkt bleibt das Verhältnis zwischen den protürkischen Rebellen der „Syrischen Nationalen Armee“ (Syrian National Army, SNA) und der SDF. Hier gab es Kämpfe im Norden, aber auch lokale Waffenstillstände. Die kurdische Autonomieregierung hat bereits positiv und konstruktiv auf den Fall Assads reagiert, indem sie einen allgemeinen Waffenstillstand forderte und betonte, dass sie sich ebenso als Teil des neuen Syriens sieht und Kooperation anbietet.
Was könnte einen friedlichen Übergang doch noch gefährden?
Problematisch ist weniger die HTS, die für Disziplin auf den Straßen gesorgt hat. Vielmehr sind es die eben erwähnten SNA-Truppen, die zum Teil antikurdisch eingestellt sind und den Ruf haben, eher schlecht zu kämpfen, aber gut zu plündern. Ohne eine türkisch-kurdische Aussöhnung oder politische Lösung bleibt die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern bestehen.
Ein weiteres Gefahrenpotenzial liegt in der wahrgenommenen Bedrohung durch Israel. Nach dem Sturz Assads hat Israel die bisher heftigsten Luftangriffe auf das Nachbarland geflogen, was die Souveränität und Integrität Syriens in einer ohnehin politisch hoch instabilen Zeit weiter schwächt. Zudem verletzt Israel internationales Recht mit der Besetzung der neutralen Pufferzone auf dem Golan, die 1974 mit dem Truppenentflechtungsabkommen eingerichtet worden war. Al-Dscholani muss irgendwann dazu Stellung beziehen – und steht vor einem Dilemma: Kritisiert er Israel, um die eigenen Fraktionen zu beruhigen, könnte sich das negativ auf seine Kontaktsuche im Westen und die offizielle Einbindung von HTS in den UN-Friedensprozess auswirken.
Israel hatte nach den Schlägen gegen die Hisbollah und den Iran die Chance, viele Syrer für sich zu gewinnen. Doch die Netanjahu-Regierung droht diese Chance zu verspielen.
Inwiefern spielt die Zivilgesellschaft in Syrien aktuell eine Rolle?
Die Zivilgesellschaft hat sich bereits eingebracht. Überall in Syrien sind örtliche Komitees entstanden, die geholfen haben, die Straßen zu sichern. Es war wie eine eingefrorene Revolution, die plötzlich aufgetaut ist. Die Frage wird sein, welche Rolle die Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau unter HTS spielen darf und wird.
Wie wichtig ist eine rasche juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes, um einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess zu ermöglichen? Wie und wo könnte sowas geschehen?
Das ist eine riesige Aufgabe für Syrien. Die Bilder aus Assads Schlachthaus Saidnaya und anderen Gefängnissen sind für die Syrerinnen und Syrer einerseits sehr schmerzhaft, andererseits aber auch eine große Erleichterung. Gerade im Rahmen einer von al-Dscholani angekündigten versöhnlichen Politik, die auf kollektive Bestrafungen oder Rachefeldzüge verzichtet, eröffnet sich die Chance zur Aufarbeitung und irgendwann möglicherweise auch zur Versöhnung.
Darüber hinaus könnte der von den Vereinten Nationen eingeführte Mechanismus für die Untersuchung und Verfolgung schwerster Kriegsverbrechen in Syrien, der sogenannte IIIM (International, Impartial and Independent Mechanism), ein Forum für eine internationale Anklagebehörde bieten. Es gibt bereits sehr viel gesammeltes Material, etwa in Form von Zeugenaussagen, das die UN-Untersuchungskommission zu Syrien über Jahre hinweg gesammelt hat. All das kann jetzt durch vor Ort gefundene Beweise ergänzt werden. Die Aufarbeitung kann jedoch nur gelingen, wenn die Syrer die Foltergefängnisse nicht zerstören und die Akten nicht verbrennen.
Was können Deutschland und Europa jetzt tun, um Syrien zu helfen?
Zum einen kann Deutschland seine Expertise bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Syrien einbringen. In der Vergangenheit hat es das bereits getan. Anfang 2022 verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz nach dem Weltrechtsprinzip einen Folterknecht Assads wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mit seiner Nazi- und Stasi-Vergangenheit verfügt Deutschland insgesamt über einmalige Institutionen und Kenntnisse, um Syrien bei der Sicherung von Beweisen und der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen zu unterstützen.
Ein weiteres Thema ist die Unterstützung des UN-Friedensprozesses, an dem bisher weder HTS noch SDF beteiligt sind. Der UN-Sondergesandte für Syrien hat bereits angedeutet, dass die Einstufung der HTS als Terrororganisation momentan etwas weicher gesehen werden müsste. Eine Beteiligung der SDF am Friedensprozess scheiterte bislang am Widerstand der Türkei. Deutschland und Europa müssen sich jetzt aktiv einbringen, um einen inklusiven Friedensprozess zu stärken und Hindernisse zu beseitigen.
Darüber hinaus gibt es bereits positive Signale aus der EU, eine neue syrische Regierung beim Wiederaufbau des Landes finanziell zu unterstützen. Weder der Iran noch Russland waren in den vergangenen Jahren dazu bereit.
Ein weiteres wichtiges Thema ist der Versöhnungsprozess. Der Zusammenhalt der syrischen Gesellschaft, vor allem zwischen den verschiedenen Minderheiten, hat eine sehr lange und positive Tradition, an die man wieder anknüpfen kann. In den 1940er und 1950er Jahren gab es mit Faris al-Churi sogar einen christlichen Premierminister, was einmalig in der arabischen Welt ist. Um sozialen Unfrieden zu vermeiden, kann Deutschland Syrien zum Beispiel mit technischer Beratung bei der Klärung von Eigentumsverhältnissen unterstützen. Viele Syrer kehren jetzt in ihre alten Häuser zurück, die inzwischen von anderen bewohnt werden. In einem Land wie Syrien, in dem zahlreiche Menschen mehrfach vertrieben wurden, sind solche Schicksale kein Einzelfall.
Was bedeutet der Sturz Assads für die geopolitischen Ambitionen Russlands in der Region?
Assads Sturz ist eine Schwächung und Demütigung Moskaus. Der russische Präsident Wladimir Putin war angesichts des schlechten Zustands der staatlichen Strukturen in Syrien schon lange frustriert und unzufrieden mit dem dortigen Machthaber. Zuletzt gab es nur noch eine geringe Loyalität dem Staat gegenüber, was unter anderem auch dazu geführt hat, dass HTS so schnell gesiegt hat.
Russland hat einen wichtigen Alliierten verloren, der viel militärischen Einsatz und politisches Kapital gekostet hat. Gleichzeitig hat Putin in Syrien immer wieder rote Linien des Westens getestet – und dabei festgestellt, dass es eigentlich keine roten Linien gab, auch nicht der Einsatz von Chemiewaffen gegen die Bevölkerung. Aus dem Krieg in Syrien hat Putin viele schreckliche Lehren für seinen Krieg gegen die Ukraine gezogen. Manche Beobachter sind der Meinung, Putin hätte die Ukraine ohne die Erfahrung eines so schwachen und inaktiven Westens in Syrien vielleicht gar nicht angegriffen.
Im Übrigen gibt es seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine einen regen Informationsaustausch zwischen der syrischen Opposition und der Ukraine. So haben beispielsweise die syrischen Weißhelme die ukrainischen Behörden beraten. Das gemeinsame Schicksal, unter dem gleichen grausamen Feind zu leiden, stärkt diese Bande.
Der designierte US-Präsident Donald Trump forderte in einem Social-Media-Post, die USA sollten sich aus Syrien heraushalten. Welche Folgen könnte das haben?
Trump hat in seiner ersten Amtszeit bereits zweimal den Rückzug der USA aus Syrien angekündigt. Doch dazu kam es nicht – noch immer sind 900 US-Soldaten in Syrien stationiert. In seiner zweiten Amtszeit könnte er nun ernst machen.
Ein überstürzter Rückzug der USA könnte jedoch dazu führen, dass die Kurden im Nordosten Syriens protürkischen Gruppierungen ausgeliefert sind, was nicht nur die regionale Stabilität gefährden würde. Bislang halten die Kurden das Al-Hol-Camp nahe der syrisch-irakischen Grenze aufrecht, in dem ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familien untergebracht sind. Sollte es hier zu einem Ausbruch terroristischer Kämpfer mit internationaler Agenda und in der Folge zu neuen Kämpfen, Vertreibungen und einem Erstarken des IS in der Region kommen, wäre das nicht nur eine Gefahr für Syrien und den Irak, sondern auch für den Westen.
Eine wichtige Regionalmacht ist die Türkei. Wie schätzen Sie die Rolle Ankaras für die weitere Entwicklung Syriens ein?
Für Erdoğan ist die aktuelle Situation positiv, denn die Türkei wird als Regionalmacht gestärkt, vor allem gegenüber Russland und dem Iran. Er hat eigentlich kein Interesse daran, dass Syrien wieder destabilisiert wird. Deshalb ist mir unklar, warum die türkisch beeinflussten Gruppen in Syrien weiter gegen die SDF kämpfen und es keine Aussöhnung gibt, denn das wäre Teil der Stabilisierung Syriens. Erdoğan hat gesagt, dass die Türkei keine territorialen Ambitionen in Syrien hat. Ob er dies einlöst, wird man sehen.
Die Türkei kann jetzt entscheiden, welche Rolle sie spielen will. Entweder kann sie sich konstruktiv einbringen, etwa beim wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens. Darauf hoffen vor allem türkische Unternehmer schon lange. Andererseits könnte die Türkei im schlimmeren Fall dazu beitragen, dass der militärische Konflikt zwischen kurdischen und protürkischen Kräften wieder aufflammt. Dies würde den Versuch eines friedlichen Neustarts in Syrien unter Beibehaltung der Institutionen, ohne Vertreibungen und ohne weitere Kämpfe zunichte machen.
Ich würde sagen, dass die Menschen in Syrien in der Vergangenheit genug von äußerer Einmischung hatten. Das unerwartete, fast friedliche Geschehen in den vergangenen Tagen zeigt die Verantwortung und Reife, mit der die Syrer ihre Geschicke jetzt selbst in die Hand nehmen.
Das sollte auch der Westen anerkennen, der vor 13 Jahren die gemäßigte, säkulare Opposition im Stich gelassen und nicht einmal eine Flugverbotszone gegen die Fassbomben Assads und Russlands zustande gebracht hat. Der zunächst friedliche Aufstand wurde im Blut ertränkt und die Oppositionellen, die für Würde, Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen, mussten sich unter die Fittiche autokratischer arabischer Staaten oder in die Hände der Türkei begeben. Jetzt, da nach 13 Jahren plötzlich eine islamistische Kraft Syrien fast friedlich befreit, sollte der Westen bescheiden sein, Hilfe anbieten und den Machthabern eine Chance geben, sich zu verändern und einen Prozess einzuleiten, an dessen Ende vielleicht auch wieder gemäßigtere Kräfte stehen können – wenn alles gut geht.
Das Gespräch führte die IP-Redaktion.
Internationale Politik, Online Exklusiv, 12. Dezember 2024