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01. Juli 2007

Kolumbiens Katharsis

Ein Land diskutiert über die Verbindungen zwischen Politik und Paramilitarismus

Kolumbiens Präsident Alvaro Uribe ist es gelungen, tausende Paramilitärs zu entwaffnen. Damit hat er die Rolle des Staates gestärkt und ist einem Ende des Konflikts zwischen Militär, paramilitärischen -Todesschwadronen und der linken Guerilla näher gekommen. Doch Aussagen der ehemaligen Kämpfer vor Gericht belasten Verbündete Uribes.

„Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit!“ Das ist die häufigste Forderung der Kolumbianer in diesen Monaten. Sie ist gerichtet an die mehr als 31 000 Paramilitärs, die zumindest nach offiziellen Angaben unter dem umstrittenen Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“ seit 2003 die Waffen abgegeben haben. Besonders die Köpfe der einst gefürchteten Todesschwadronen haben nun eine neue Waffe – die Wahrheit, oder das, was sie als solche darstellen. Fürchten müssen sie viele Politiker des Landes. Auch Präsident Alvaro Uribe gerät zunehmend unter Beschuss der Opposition wegen seiner Vergangenheit. Bisher konnten ihm jedoch keine direkten politischen Verbindungen zu den Paramilitärs nachgewiesen werden, und seine Popularität bleibt ungebrochen hoch.

Bis kurz vor Jahresende 2006 war es nur ein politisches Gespinst gewesen: Knapp ein Drittel der Abgeordneten im Repräsentantenhaus und im Senat hätten mit den Paramilitärs gemeinsame Sache gemacht oder seien gar mit deren Hilfe gewählt worden. Damit brüstete sich vor zwei Jahren Salvatore Mancuso, einer der Großen aus der Riege der ehemaligen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC), der sich nun in Medellín vor Gericht verantwortet. Hinzu kommen zahlreiche regionale und lokale Politiker. Selbst dem ehemaligen Direktor des Kolumbianischen Geheimdienstes (DAS) wird vorgeworfen, Ermittlungen gegen Paramilitärs aus den Archiven gelöscht zu haben. Er wurde von seinem Botschafterposten aus Mailand abberufen und muss sich nun der Justiz stellen. Ein politisches Erdbeben verursachte die Entlassung der Außenministerin Maria Consuelo Araújo am 19. Februar. Sie war für Uribe nicht mehr zu halten, nachdem der Oberste Gerichtshof Ermittlungen gegen ihren Bruder wegen Verbindungen zu den Paramilitärs aufgenommen und seine Festnahme angeordnet hatte.

Viele Amtsträger kamen mit Hilfe der Selbstverteidigungsgruppen auf ihre Posten. Manche von ihnen sitzen heute im Gefängnis. Das wirft schon jetzt einen Schatten auf die Kommunal- und Regionalwahlen im Oktober dieses Jahres. Die Kolumbianer befürchten, dass sich das Muster wiederholt. Wenigstens wird jetzt aber offen darüber gesprochen, und internationale Organisationen wie die deutschen politischen Stiftungen unterstützen Bürgerinitiativen zur Wahlbeobachtung. Denn die Wahrheit schmerzt: Inzwischen wird gegen 20 Kongressabgeordnete wegen Verbindungen zu Paramilitärs ermittelt. Das sind mehr als zehn Prozent des Kongresses. Acht von ihnen sitzen bereits in Untersuchungshaft. Alle stammen aus dem heterogenen Lager von versprengten ehemaligen Liberalen und Konservativen, das Präsident Uribe unterstützt. Einige wurden aus den Parteilisten der Uribe-Treuen inzwischen ausgeschlossen. Insgesamt sollen 60 zum Teil prominente Politiker vor dem Obersten Gericht aussagen. Der Skandal weitet sich aus, ohne dass die Kolumbianer besonders überrascht reagieren. Dennoch ist der Kongress in der öffentlichen Meinung abgestürzt: Nach Angaben der Zeitung Nuevo Siglo hielten zu Jahresanfang nur noch 37 Prozent der Kolumbianer die Institution für glaubwürdig; die Hälfte hat allgemein ein negatives Bild von den Volksvertretern.

Uribe bleibt trotz Skandalen populär

In Kolumbien ist es ein offenes Geheimnis, dass die Paramilitärs die Wahl 2002 von Präsident Uribe unterstützten. Uribe selbst konnten bisher keine direkten Verbindungen zu den Paramilitärs nachgewiesen werden. Doch der Skandal der Parapolitik rückt immer näher an ihn heran. Ende April brachte der sozialdemokratische Senator Gustavo Petro den Präsidenten in die Defensive. Er beschuldigte Uribe, während seiner Zeit als Gouverneur von Antioquia zwischen 1995 und 1997 Selbstverteidigungsgruppen gefördert zu haben, aus denen sich die Paramilitärs entwickelten. Anwesen der Familie Uribe seien Treffpunkte dieser Gruppen gewesen und von ihnen geschützt worden. Tatsächlich weiteten sich die Todesschwadronen als Gegenwehr zu Massakern und Entführungen der linken Guerilla in jener Zeit stark aus. Es waren Jahre, in denen der schwache Staat in den meisten Regionen Kolumbiens ein gefährliches Vakuum hinterließ und sich besonders große Landbesitzer zur Gegenwehr formierten.

Diese Attacken aus der Opposition schlugen auch international Wellen. Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore sagte seine Teilnahme an einer Umweltkonferenz in Miami ab, um mit Uribe nicht an einem Tisch sitzen zu müssen. Gore verwarf zudem eine geplante Reise nach Kolumbien. Dies traf Uribe an einem wunden Punkt, da er gerade in den USA dafür wirbt, der Kongress möge das Freihandelsabkommen mit Kolumbien nach langer Verzögerung endlich unterzeichnen. Außerdem wird in Washington gerade darüber entschieden, mit welcher Summe die USA Kolumbien im nächsten Jahr unterstützen wollen. Und die Demokraten haben im Unterhaus 55,2 Millionen Dollar für das kolumbianische Militär blockiert, um mehr Zeit für die Prüfung von Menschenrechtsverletzungen zu gewinnen.

Uribe bestritt die Vorwürfe der linken Opposition energisch. Selbst hohe Mitarbeiter des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton kritisierten, der kolumbianische Präsident werde zu Unrecht gescholten und erhalte nicht genügend Unterstützung für seinen Kampf gegen die bewaffneten Gruppen im Land. Die meisten Kolumbianer indes lässt dies unbeeindruckt. Uribes Rückhalt in der Bevölkerung liegt ungebrochen hoch bei mehr als 70 Prozent. Auch namhafte Unternehmer haben sich hinter den Präsidenten gestellt. Die neue Sicherheit im Land hat die Wirtschaft angekurbelt und die Kapitalflucht ins -Ausland gestoppt.

Dank Uribe ist das Gewaltmonopol des Staates in Kolumbien heute weitaus stärker als noch vor wenigen Jahren, als die Kolumbianer nicht einmal ihre Landstraßen benutzen konnten, ohne Gefahr zu laufen, überfallen oder entführt zu werden. Uribes Anhänger verweisen auf sein Verdienst, dass er den rechten Schwadronen Vertrauen abringen konnte und damit die größte Demobilisierung in der Geschichte des 50-jährigen Konflikts möglich gemacht hat. AUC-Anführer Castaño erklärte die Bereitschaft zur Entwaffnung so: „Die Demokratische Sicherheit (von Uribe) hat funktioniert und hat uns die Existenzberechtigung genommen. Die Selbstverteidigungsgruppen hatten sich gegründet, weil uns der Staat nicht verteidigen konnte. Aber inzwischen hat der Staat die Fähigkeit erlangt, seine Bürger zu verteidigen.“ Allerdings hat sich ausgerechnet Castaño bis heute nicht den Behörden gestellt.

Falls der Entwaffnungsprozess erfolgreich verläuft, was derzeit auf der Kippe steht, würde Uribes Strategie aufgehen: Aus drei Konfliktparteien – dem Militär, den Paramilitärs und den Guerillagruppen – werden zwei. Dem erstarkten Staat als legitimer Gewalt stünden dann nur noch „kriminelle“ Gruppen gegenüber. Darunter wären vor allem die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), die ihr selbst gepflegtes Image als marxistische Gegenkraft zum neoliberalen Establishment und Robin Hood der entrechteten Bauern durch Drogenhandel, Massaker und Entführungen selbst im linken Lager der Bevölkerung längst eingebüßt haben.

Je deutlicher die illegalen Konfliktparteien ihre historischen politischen Rollen verlieren, desto mehr steigt die Glaubwürdigkeit des Staates. Das ist zumindest das Szenario, auf das Uribe setzt. Es wird durch einen Umstand unterstützt, der für Uribe eine bittere Ironie birgt: Erstmals in der Geschichte Kolumbiens hat sich eine sozialdemokratische Opposition etabliert. Der Kandidat der Sammelbewegung Polo Democratico Alternativo, Carlos Gaviria, erstritt bei den Wahlen vergangenen Mai mit 23 Prozent den zweiten Platz, noch vor den Liberalen. Die Partei macht eine gute Basisarbeit, stellt bereits wichtige Bürgermeister und hat ernst zu nehmende Chancen, den nächsten Präsidenten zu stellen, da eine Wiederwahl Uribes nach dem derzeitigen Stand der Verfassung nicht möglich ist und die traditionellen Parteien, Liberale und Konservative, Profil und Geschlossenheit vermissen lassen. Mit seiner programmatisch sozialen Agenda unterhöhlt der Polo den Anspruch der FARC, eine linke Alternative im Staat zu sein.

Uribe reagiert zunehmend gereizt auf die sozialdemokratische Opposition. In mehreren Tiraden in kolumbianischen Radiosendern Anfang Februar bezeichnete er Polo-Politiker als „Terroristen in Zivil“. Einige Oppositionelle haben inzwischen zudem Morddrohungen von Seiten der noch aktiven Paramilitärs erhalten. Zwar hat Uribe bekräftigt, dass der Schutz des Staates auch für die politische Opposition gilt, doch viele Beobachter kritisieren das Vorgehen des Präsidenten als zu emotional und gefährlich. Andere vermuten, Uribe möchte von Untersuchungen über seine eigenen Verbindungen zu den Paramilitärs -ablenken.

Allerdings hat Uribe nicht nur seine Unterstützung in der Bevölkerung ausbauen, sondern auch seine Unabhängigkeit gegenüber den Paramilitärs stärken können. Im Dezember ließ der Präsident keinen Zweifel daran, dass er sich weder von der Guerilla noch von den Paramilitärs einschüchtern lässt. In einem Überraschungscoup ließ er 57 führende AUC-Mitglieder, die sich dem Entwaffnungsprozess unterworfen haben, von einem ehemaligen Urlaubsressort in ein Hochsicherheitsgefängnis nach Medellín bringen. Die Paras protestierten gegen den Wortbruch und kündigten den Friedensprozess auf, allerdings aus einer denkbar schwachen Position heraus. Uribe drohte ihnen, dass sie die umstrittenen Privilegien – wie maximal acht Jahre Haft – unter dem Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“ verlieren und an die USA ausgeliefert würden, falls sie die Verhandlungen abbrächen. Keine der noch existierenden Einheiten griff erneut zu den Waffen, um den Kampf innerhalb der alten -Befehlsstrukturen fortzusetzen. Auch die demobilisierten Kämpfer, von denen viele ein Studium aufgenommen haben, solidarisierten sich nicht. Die Entscheidung Uribes wird von der Bevölkerung unterstützt und war zugleich ein Befreiungsschlag mitten im Para-Skandal des Parlaments. Präsident Uribe hätte stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt, wäre ihm der Prozess in diesem entscheidenden Moment aus der Hand geglitten und hätten die Ex-AUC-Chefs die Flucht ergriffen, wie manche befürchteten.

Doch die kritische Phase hat längst begonnen, in der immer mehr Ex-Paramilitärs in die Kriminalität zurückfallen oder neue Banden gründen, die erpressen, entführen und massakrieren. Nach dem Auslaufen eines einjährigen Regierungsstipendiums finden viele Ex-Paramilitärs keine Arbeit oder keine Motivation im zivilen Leben, oder sie werden von neuen kriminellen Gruppen abgeworben und unter Druck gesetzt, wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. Andere werden ermordet, entweder durch Racheakte der Rebellen oder durch ehemalige Weggefährten, die ein Zuviel an Wahrheit fürchten. Insgesamt verloren bisher mehr als 400 entwaffnete Paramilitärs ihr Leben. Das erinnert an den Teufelskreis der achtziger und neunziger Jahre, als Mitglieder der FARC den bewaffneten Kampf aufgaben und es wagten, mit einer neuen Partei, der Union Patriotica, in die legale Politik zu gehen. Seither wurden mehr als 3000 von ihnen als Lokalpolitiker oder Bürgermeisterkandidaten ermordet, zwei davon waren sogar Präsidentschaftskandidaten. Diese Erfahrung führen die FARC gern als Begründung an, um ihren Kampf fortzusetzen. Allerdings verliert dieses Argument an Wirkung, sollte die Demobilisierung der Paramilitärs nachhaltigen Erfolg haben und der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen.

Starke Institutionen sind nötig

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, auch mit Blick auf starke Defizite im Justizsystem. Skeptiker weisen zudem darauf hin, dass in viele Zonen, in denen zuvor die Paramilitärs herrschten, nicht das Militär, sondern die Guerilla vorrückt. In das Vakuum stoßen auch neue Banden vor, wie die Schwarzen Adler (Aguilas Negras), die vor allem an der Küste an der Grenze zu Venezuela operieren und in Drogenhandel, Mord und Erpressung verwickelt sind. Nach der Entwaffnung der traditionellen Paramilitärs wird die Lage unübersichtlicher. Nach Angaben der Organisation Amerikanischer Staaten haben sich inzwischen 22 neue gewalttätige Gruppen formiert. Dennoch sind viele Gemeinden heute frei von paramilitärischen Strukturen, die früher unter den Todesschwadronen zu leiden hatten.

Der renommierte Analyst Alfredo Rangel spricht von einer Lebenslüge, die bisherigen Konfliktparteien lediglich als kriminelle Gruppen zu betrachten. Denn erstmals haben sich rund zehntausend Händler, Unternehmer, Viehzüchter, Lokalpolitiker und Bürger in der Region Antioquia im Westen Kolumbiens in einer Unterschriftenaktion dazu bekannt, freiwillig paramilitärische Gruppen unterstützt zu haben. Das sei ein gesellschaftliches und politisches Phänomen, kein kriminelles, unterstreicht Rangel. Zugleich wundere er sich, warum niemand die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, von Guerilleros verlangt habe, als diese früher in (meist erfolglosen) Verhandlungen mit kolumbianischen Regierungen standen.

Dass sich so viele Kolumbianer heute offen zu einer Kooperation mit Paramilitärs bekennen, ist Teil der gesellschaftlichen und politischen Katharsis, die das gebeutelte Land durchläuft. Eigentlich haben es alle vermutet, aber jetzt kann man darüber reden. Journalisten dürfen Politikern Para-Verbindungen ankreiden, ohne dass sie um ihr Leben fürchten oder auswandern müssen. Das ist ein Fortschritt, ein Etappensieg der kolumbianischen Demokratie, so schmutzig und schmerzhaft er sein mag. Die Institutionen der kolumbianischen Demokratie sind im Großen und Ganzen jedenfalls weiterhin intakt und weitaus stabiler als in Nachbarländern wie Venezuela, Ekuador oder Bolivien, wo der linke Populismus diese erodiert, ohne die drängende soziale Frage tatsächlich zu lösen.

Ob diese schmerzhafte Reinigung der kolumbianischen Politik zu einem Frieden in Kolumbien beitragen kann, wird davon abhängen, ob nicht nur der Präsident, sondern auch die staatlichen Institutionen wie Parteien und Volksvertreter ihre Glaubwürdigkeit stärken, ob der Staat das Sicherheitsvakuum der Paramilitärs und die etablierten politischen Akteure das soziale Vakuum in der kolumbianischen Politik füllen können.

Die meisten Kolumbianer fühlen sich sicherer und die Wirtschaft läuft rund. Jetzt verlangen sie mehr: Reformen gegen soziale Ungleichheit und politische Verhandlungen mit der FARC. Es ist Uribes Verdienst, dass diese aus einer Position der Stärke heraus geführt werden können, anders als bei seinem gescheiterten Vorgänger Andrés Pastrana.

Zwar weiß der Präsident, dass er in seiner zweiten Amtszeit nicht mehr nur mit einer starken Hand wird punkten können. Dennoch lässt er keine Chance ungenutzt, Zeichen der Unnachgiebigkeit gegenüber den illegalen bewaffneten Gruppen zu setzen anstatt sich auf vorschnelle Verhandlungen einzulassen. Als Nachfolger der über den Para-Skandal gestürzten Außenministerin ernannte er Fernando Araújo. Der ehemalige Minister für Außenhandel war sechs Jahre lang von der FARC entführt und konnte sich über Silvester aus dem Dschungel befreien – dank eines Luftangriffs der Armee auf das Lager der Rebellen.

Dr. CARSTEN WIELAND, geb. 1971, ist Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogotá.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 174 - 179.

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