Stellvertreterkrieg im Jemen
Die regionalen Kontrahenten Saudi-Arabien, Iran und Vereinigte Arabische Emirate verfolgen ihre eigenen Interessen und verhindern damit, dass die Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts Erfolg haben.
Der Jemen hat laut Angaben der Vereinten Nationen längst Syrien als schlimmste humanitäre Katastrophe unserer Zeit abgelöst. Dennoch bringt das Land im Süden der Arabischen Halbinsel weitaus weniger Schlagzeilen hervor als Syrien in den heißen Phasen des Krieges. Und dies, obwohl etwa 24 Millionen Menschen und damit 80 Prozent der Bevölkerung humanitäre Hilfe oder Schutz benötigen – aber häufig nicht erhalten. Allein im südlichen Teil des Landes stieg die Zahl hungernder Kleinkinder auf fast 600 000.
Die Vereinten Nationen schätzen, dass durch den Krieg, durch Krankheiten und Mangelernährung bisher mehr als 230 000 Menschen starben. Derzeit sind etwa 3,7 Millionen Binnenvertriebene zu verzeichnen. Der Vermittlungsprozess der UN, der im Dezember 2018 zur Unterzeichnung des Stockholm-Abkommens geführt hatte, ist seit Langem ins Stocken geraten.
Als die Protestwelle des Arabischen Frühlings 2011 das Land als formal einzige Demokratie unter den betroffenen Staaten der Region aufrüttelte, war der Jemen bereits gespalten – wie die meiste Zeit in seiner jüngeren Geschichte. Heute ist er zerrissener denn je und zerfällt, grob gesagt, in einen von Huthis beherrschten Norden und einen in sich stark gespaltenen Süden mit einer international anerkannten Regierung.
Ein Spielfeld Saudi-Arabiens
Warum der Jemen häufig unter dem Radar bleibt, mag daran liegen, dass das heute ärmste Land der Arabischen Halbinsel seit jeher mehr Hinterhof als weltpolitisches Schlachtfeld gewesen ist, ein Spielfeld der Golf-Staaten und traditionell Saudi-Arabiens. Zwar wirken sich auch hier regionale Gegensätze aus, doch der Jemen liegt geopolitisch und ökonomisch an weniger neuralgischen Schnittstellen als Syrien.
Für Saudi-Arabien war Syrien in den ersten Jahren des Krieges die große und sichtbare Arena, um dem Iran im regionalen Hegemonialkonflikt die Stirn zu bieten. Doch Riad gestand sein Scheitern in Syrien nach den iranischen und russischen Interventionen ein und zog Ressourcen ab, um sich auf den Jemen zu konzentrieren. Denn dort geht es um die existenzielle Verteidigung seiner eigenen Grenzen. Das Demütigungspotenzial durch den Jemen-Konflikt ist damit ungleich größer. Der Iran kann mit relativ geringem Aufwand den Saudis im Jemen Probleme und Gesichtsverlust verursachen. Wenn das stolze Königshaus nicht einmal den Iran in Form der Huthi-Rebellen aus seinem eigenen Hinterhof fernhalten kann und Raketenangriffe aus dem Jemen auf seinem Territorium erdulden muss, kann es Teheran auch nicht in Syrien glaubhaft die Stirn bieten.
Der Jemen ist eine komplexe Geschichte einer im Grunde verfehlten Militär- und Außenpolitik des machtbewussten saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman (MBS). Der von ihm forcierte Militäreinsatz im Nachbarland hat – außer vielen, meist zivilen Toten – keine langfristigen Erfolge zu verzeichnen.
Als die Huthi-Rebellen in einem ursprünglich innerjemenitischen Konflikt Ende 2014 in der Hauptstadt Sanaa einmarschierten, eskalierte der Krieg zu einem regionalen Kräftemessen. Die von Saudi-Arabien angeführte Staatenkoalition intervenierte zugunsten der international anerkannten Regierung um Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi. Infolge der Stellvertreterlogik wurde Hadi immer „saudischer“ und die Huthis wurden immer „iranischer“. Die saudisch geführte Koalition wurde bis Anfang des Jahres von den USA logistisch unterstützt – bis Präsident Joe Biden dies revidierte –, und auch durch Großbritannien und Frankreich.
Im Jemen spielt aber nicht nur eine weitere Episode des saudisch-iranischen Gegensatzes, sondern auch das Theater der „Bruderfeindschaften“ innerhalb der Golf-Staaten. Das führte 2017 zur Isolation Katars vom Rest der Arabischen Halbinsel und Ägyptens. Aufgrund der kritischen Berichterstattung des saudisch geführten Militäreinsatzes durch den TV-Sender Al-Dschasira sowie der Einmischung in den Konflikt als Unterstützer der oppositionellen Islah-Partei im Jemen zog Katar den Zorn von MBS auf sich.
Die „Versöhnung“ der Golf- Staaten unter Vermittlung Kuwaits (und unter dem Druck der Trump-Administration) Anfang 2021 wurde von vielen als weitere Schmach für Saudi-Arabien gewertet; andere sprachen dagegen vom „Sieg saudischer Vernunft“. Denn keine der Bedingungen, die knapp vier Jahre zuvor an Doha gestellt wurden, ist eingelöst worden. Al-Dschasira sendet weiter, Katar unterhält unverdrossen Beziehungen zum Iran und natürlich zu seinem engen Verbündeten Türkei mit dem Interesse, regional die Muslimbrüder zu stärken. Zudem wird Doha nun wieder mehr Möglichkeiten haben, die den Muslimbrüdern nahestehende Islah-Partei im Jemen zu fördern.
Die Bereitschaft Saudi-Arabiens zur Normalisierung mit Katar – gegen die kaum verhohlene Missbilligung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägyptens – ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich MBS dadurch bessere Karten im Umgang mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Biden verspricht. Denn dieser hat bereits deutlich gemacht, dass er den notorischen Autokratien ihre Menschenrechtsverletzungen und regionalen Kriegstreibereien nicht mehr ungestraft durchgehen lassen will.
Interessanterweise ist der Jemen der vielleicht einzige Ort der Region, wo Saudi-Arabien aus taktischen Gründen eine Partei unterstützt, die den Muslimbrüdern nahesteht – nämlich jene Islah-Partei, die auch Katar protegiert. An dieser Stelle tut sich durch die Konstellation im Jemen ein weiterer Riss innerhalb der Golf-Staaten auf und sogar innerhalb des anti-iranischen Lagers: Es ist eine immer offener zutage tretende Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, also zwischen MBS und MBZ (Mohammed Bin Zayid, dem Kronprinzen in Abu Dhabi).
Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass die VAE ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien allein wegen des Engagements im Jemen grundsätzlich in Gefahr bringen. Beide Staaten verfolgen im großen regionalen Szenario weiterhin gemeinsame Interessen in ihrer Gegnerschaft zum Iran, zu den Muslimbrüdern und zur Türkei; auch begegnen sie Katar unverändert mit Misstrauen. Doch der Jemen ist der Spaltpilz in dieser Allianz.
Die Meinungen von Experten gehen noch auseinander, wie sich die recht oberflächliche Versöhnung zwischen Katar und seinen Nachbarn auf den Jemen auswirken wird. Einerseits wird die Entspannung am Golf weithin begrüßt. Sie könnte Katar die Ambition nehmen, stärker in den Stellvertreterkrieg im Jemen zu investieren und sich auf Gemeinsamkeiten mit Saudi-Arabien zu konzentrieren. Doch gerade hier setzen die Skeptiker an: Möglicherweise wird Katar die Gelegenheit nutzen, gemeinsam mit Saudi-Arabien im Jemen gegen die ambitionierten Interessen der VAE vorzugehen.
Einen Keil in die saudisch- emiratische Regionalallianz zu schlagen, läge auch im Interesse der Türkei. Diese versucht ohnehin seit einiger Zeit, mittels Drohneneinsätzen und (meist syrischen) Söldnern – ebenso wie in Libyen – einen Fuß in den Jemen zu bekommen.
Dreigeteilte Konfliktlage
Um diese komplexen Allianzen zu verstehen, hilft ein Blick auf die Lage im Jemen selbst. Obwohl die VAE ihre eigenen Truppen 2019 aus der saudisch geführten Militärallianz zurückgezogen haben, verfolgen die Emirate weiterhin ehrgeizige Interessen durch Verbündete am Boden. So unterstützen die VAE den sogenannten Südlichen Übergangsrat (STC), der mit den Saudis eigentlich gegen die Huthis kämpft, sich jedoch von der Hadi-Regierung entfremdet hat und immer lauter die staatliche Unabhängigkeit des Südens – natürlich unter ihrer Kontrolle – fordert.
Die Konfliktlandschaft im Jemen ist jetzt also mindestens dreigeteilt: Vom Iran bewaffnete Huthis im Norden gegen die saudisch unterstützten Kräfte um Präsident Hadi und den VAE-Proxy STC im Süden. Hadis Truppen und der STC haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren blutige Kämpfe geliefert und damit auch die Anti-Huthi-Allianz geschwächt.
Machtbewusster Zwerg
Die VAE verfolgen im Jemen mehrere Interessen. Zum einen sind es die wachsenden Ambitionen von MBZ, in der Region eigene Pflöcke einzuschlagen. Dies tut der Kronprinz mit einer immer professionelleren Armee nicht nur im Jemen, sondern auch in Libyen und anderen Konfliktszenarien Nordafrikas sowie teilweise noch in Syrien.
Darüber hinaus verleihen die neuen guten Beziehungen zu Israel dem geografischen Zwerg an der Straße von Hormus zusätzlich Gewicht, auch in den Bereichen Rüstung und Technologie.
Die Emirate haben sich in verschiedenen strategisch wichtigen Zonen im Jemen fest eingerichtet, unter anderem auf der Insel Socotra im Golf von Aden. Von dort aus können sich emiratische Geheimdienste ein Bild über maritime Bewegungen von Freund und Feind machen. Arabische Medien spekulierten angesichts des Normalisierungsabkommens mit Israel schnell über die „Verlängerung israelischer Ohren“ bis hin ans Horn von Afrika.
Im Januar 2021 ist endlich die neue Regierung von Präsident Hadi gemäß des Riad-Abkommens gebildet worden und aus ihrem saudischen Exil in den Jemen zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft in Aden wurde sein Kabinett durch einen Bombenanschlag auf den Flughafen von Aden empfangen, ein Symbol für die schier unüberwindbaren Gegensätze im Land, aber sicher auch in seiner Regierung selbst. Denn durch saudischen Druck sind der STC und andere Gruppen nun an der Hadi-Regierung beteiligt. Damit wird sie inklusiver, was auch einen Vorteil für die Vermittlungen der Vereinten Nationen bedeutet.
Doch das Misstrauen zwischen den Parteien ist so groß, dass sich die STC-Kollegen zunächst einmal nicht an den Kabinettstisch setzen wollen. Zudem kontrolliert der STC mithilfe der Vereinigten Arabischen Emirate weite Bereiche Adens und der Region und könnte der Hadi-Regierung jederzeit im wahrsten Sinne des Wortes den Stecker ziehen.
Kein Frieden in Sicht
Damit liegt eine Befriedung des Jemen, ja alleine des Südens, in weiter Ferne; von dringend nötigen Verbesserungen für die Zivilbevölkerung und einem Wiederaufbau des Landes ganz zu schweigen. Immerhin könnte die saudisch-katarische Annäherung dazu führen, dass der nun geeinte Golf-Kooperationsrat mehr zivile Mittel zur Verfügung stellt. Denn bisher haben sich die arabischen Nachbarn nur sehr spärlich an der humanitären Hilfe beteiligt, manche sogar gar nicht.
Auch hier könnte ein möglicher Schwenk der neuen Regierung in Washington helfen. Durch Druck auf Riad könnte sie zum einen die saudische Militärallianz in ihren Angriffen auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen zügeln. Auf der anderen Seite könnte sie die Huthis, die einen Teil ihrer Ressourcen durch Gängelung und Missbrauch humanitärer Hilfe generieren, durch ein besseres amerikanisch-iranisches Verhältnis kooperativer und verhandlungsbereiter machen. Entscheidend wird daher auch sein, ob und wie die USA in das Atomabkommen mit dem Iran (JCPoA) zurückkehren. Ein konstruktives Zeichen setzte Präsident Biden im Jemen bereits damit, dass er die Listung der Huthis als Terrororganisation durch die Trump-Regierung rückgängig machte. Das erleichtert auch humanitären Organisationen die Arbeit in den Huthi-Gebieten.
Trotz der neuen Signale durch die Biden-Regierung wird die Lage im Jemen desaströs bleiben. Die Prioritäten Washingtons liegen woanders, und das Land wird wohl zunächst „Hinterhof“ bleiben.
Dr. Carsten Wieland ist Diplomat, UN-Berater, Dozent sowie Nahost- und Konflikt- experte mit internationaler Mediationserfahrung. Derzeit arbeitet er als Nahost-Berater für die Grünen im Bundestag. Sein aktuelles Buch: „Syria and the Neutrality Trap: Dilemmas of Delivering Humanitarian Aid to Violent Regimes“ (London 2021).
Internationale Politik 2, März-April 2021, S. 9-12
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