Polen im Teufelskreis
Die Europa-Skepsis der PiS-Regierung kommt das Land teuer zu stehen
Polens nationalpopulistische Regierung hatte auf Großbritannien gesetzt, um eine engere Integration in Europa zu verhindern. Doch nach dem Brexit-Votum und dem Wahlsieg Emmanuel Macrons steht Warschau im Abseits. Die Kosten sind hoch: Je weniger Einsatz und Solidarität Polen für Europa zeigt, desto mehr schwindet sein Einfluss.
Seit ihrem Wahlsieg im November 2015 richtet Polens national-populistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Politik ihres Landes neu aus. Unter Führung von Jaroslaw Kaczynski hat sie sich ganz bewusst von den Ideen der Europäisierung und der Verwestlichung abgewandt, die über lange Zeit den Transformationsprozess Polens geprägt hatten. Wegmarken dieser antiliberalen Wende waren die Neubesetzung des Verfassungsgerichts und die „Reform“ des Justizsystems, durch die die Richter exekutiver Kontrolle unterstellt werden. Auch die Zentralisierung der öffentlichen Finanzierung von NGOs, die Fördergelder in Richtung PiS-naher Organisationen umleiten soll, steht nicht nur für die forsche Machtübernahme durch die neue Elite, sondern symbolisiert Polens „Enteuropäisierung“.
Zwar stellt auch die euroskeptische PiS die EU-Mitgliedschaft Polens nicht grundsätzlich infrage. Dies würde auch nicht dem Willen der polnischen Wähler entsprechen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass 88 Prozent der Polen die EU-Mitgliedschaft befürworten und nur 5 Prozent einen „Polexit“ wollen. Dennoch sehnt sich die Regierungspartei nach einer Emanzipierung Polens vom Einfluss seiner westeuropäischen Partner und nach mehr nationaler Souveränität.
Am gravierendsten ist der kulturelle Backlash gegen die Europäisierung. Der Vorstand und die führenden Ideologen der PiS verunglimpfen jede Orientierung am Westen als „Politik der Nachäfferei“, als Unterwerfung unter westliche oder deutsche Moden. Manche behaupten sogar, dass die liberalen Ideen des Westens nicht mit der polnischen Tradition und Identität vereinbar seien. Geht es nach den führenden Intellektuellen der PiS, hat die EU ihre christlich-konservativen und ökonomischen Wurzeln längst gekappt. Das europäische Projekt sei von einer Generation Linksliberaler gekapert worden, die durch die 68er-Bewegung nach oben gespült wurde. Sie habe die EU in ein ideologisches Vehikel umfunktioniert, um dem europäischen Kontinent langsam, aber sicher ein homogenes soziokulturelles Modell überzustülpen. Die PiS sieht hier eine Art Social Engineering am Werk. Im Namen von Säkularisierung und Ökologie, der Glorifizierung von Minderheiten, des Kosmopolitismus und des Multikulturalismus hätten Linksliberale die westlichen Gesellschaften gewissermaßen deformiert.
Die Flüchtlingskrise hat diese Propaganda, die im Kern nicht nur EU-kritisch, sondern auch antiwestlich ist, auf dramatische Art und Weise befeuert. Die PiS und ihre Anhänger sind überzeugt davon, dass Polen den „echten Westen“ repräsentiert. Dagegen habe Westeuropa die urtypischen westlichen Werte verraten. Die soziale Entwicklung der europäischen Gesellschaften sei kein natürlicher Prozess, der durch den Austausch von Wertvorstellungen und Ideen angetrieben und somit unkontrollierbar sei, sondern Ergebnis einer politischen Manipulation, die rückgängig gemacht werden könne.
Großbritannien als Wunschpartner
Es ist keine Überraschung, dass die von der PiS vorangetriebene „Enteuropäisierung“ auch zu einer Umdeutung der Rolle Deutschlands, des vormals wichtigsten Partners, geführt hat. Die deutsch-polnische Partnerschaft stand lange Zeit sinnbildlich für Polens Verhältnis zur EU; im politischen Diskurs der 1990er Jahre nannte man Deutschland auch das „Tor nach Europa“. Polen verstand sich zusammen mit Deutschland und Frankreich als Teil des festen Kerns des europäischen Projekts. Diese strategische Positionierung galt vielen als Langzeitinvestition, die Polen Sicherheit und Stabilität garantieren würde, auch wenn man dafür Kompromisse eingehen müsse.
Die PiS lehnte diesen Kurs jedoch von Beginn an strikt ab und sprach von einer „Politik auf den Knien“, die Polen keinerlei Vorteile gebracht habe. Während ihrer ersten Regierungszeit (2005–2007) schrieb sie sich den „Kampf um die Erinnerung“ auf die Fahnen. Damals ging es ihr um vermeintlichen deutschen Geschichtsrevisionismus. Heute stehen andere Themen im Vordergrund. Die Flüchtlingskrise liefert den Anlass für Warschaus Kritik an Berlin.
Es hat nicht nur mit den antideutschen Vorurteilen der neuen Polit-Elite zu tun, dass sich Polen 2016 langsam, aber stetig Großbritannien als neuem europäischem Partner zuwandte. Vielmehr symbolisiert diese Allianz die polnischen Bestrebungen, im europäischen Integrationsprozess umzusteuern. Die PiS sieht sich selbst als Speerspitze einer europäischen Transformationsbewegung. Als die Partei im November 2015 die Regierungsverantwortung übernahm, befanden sich Konzepte wie die Stärkung des Nationalstaats, die „Renationalisierung“ der Märkte sowie die Kritik an tiefgreifender europäischer Integration und der liberalen Demokratie im Aufwind. Die populistische Revolte gegen das Establishment bestärkte die PiS-Führung in der Annahme, dass die öffentliche Meinung in Europa auf ihrer und der Seite Großbritanniens sei.
Doch das Brexit-Votum, der Erfolg Emmanuel Macrons in Frankreich und die Krisenfestigkeit von Angela Merkels Kanzlerschaft (trotz des Stimmenzuwachses für die Alternative für Deutschland bei der Bundestagswahl) geben Anlass zu der Vermutung, Polens Regierungspartei könnte sich verrechnet haben. Ohne Großbritannien finden sich Polen und die anderen Nicht-Euro-Länder in einer viel schwächeren Position wieder. Der zukünftige Kurs der EU wird vermutlich nicht von Polen oder Ungarn bestimmt werden, sondern von den wiedererstarkten Partnern Frankreich und Deutschland.
Diese strategische Fehlkalkulation der PiS hat zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zu den wichtigsten EU-Partnern geführt. Mit der EU-Kommission streitet Warschau um Rechtsstaatlichkeit, mit Deutschland um Reparationszahlungen, die maßgeblich aus innenpolitischen Motiven gefordert wurden, und mit Frankreich über Sozialdumping und Rüstungskooperation. Polen wird das am Ende teuer zu stehen kommen. Die Folgen gehen weit über eine mögliche Kürzung von Fördergeldern oder einen simplen Imageverlust hinaus.
Das polnische Dilemma, das in den vergangenen Monaten immer deutlicher zutage getreten ist, ist nicht neu, sondern beruht auf der Position des Landes innerhalb der EU. Polen ist in vielerlei Hinsicht ein Sonderling unter den EU-Mitgliedstaaten. Das hat mit der Größe des Landes, seinen spezifischen nationalen Interessen und mit dem polnischen Selbstverständnis zu tun: Polen ist ein großes Land, das sich ambitionierte politische Ziele setzt, jedoch nur über limitierte Ressourcen verfügt, um diese Ziele auch zu erreichen. Mit seinem Potenzial steht Polen unangenehmerweise genau zwischen den europäischen Supermächten, die den politischen Kurs vorgeben, und den kleineren Staaten, die sich damit begnügen, diesem Kurs zu folgen.
Zudem hat Polen Interessen, die von der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten abweichen. Nicht einmal alle osteuropäischen Länder teilen etwa die tiefe polnische Angst vor dem Nachbarn Russland oder die energiepolitischen Sorgen, die Warschau ob der Zukunftsfähigkeit der großen polnischen Kohleindustrie umtreiben. Das Land ist ethnisch gesehen weitestgehend homogen und will diesen Zustand konservieren. Gleichzeitig aber ist Polen so groß, dass von Warschau erwartet werden darf, mehr Verantwortung in der Flüchtlings- und Migrationsfrage zu übernehmen.
Immer mehr ins Abseits
Um seine Ziele zu erreichen, muss Polen äußerst achtsam agieren, Kompromisse eingehen und gleichzeitig hart bleiben, wenn seine Kerninteressen auf dem Spiel stehen. Das Land braucht eine geschickte Diplomatie und darf seine Partner nicht verärgern, um nicht auf Kollisionskurs mit seinen europäischen Verbündeten und den EU-Institutionen zu geraten.
Doch die PiS hat bereits die ersten, politisch höchst brisanten Streitereien vom Zaun gebrochen. Im August 2017 missachtete die polnische Regierung eine Anordnung des Europäischen Gerichtshofs, die Abholzung des Bialowieza-Urwalds zu stoppen, der für die Zeit des Prozesses unter besonderen Schutz gestellt worden war. Polen weigerte sich auch, seine im September 2015 von der EU festgelegte Quote bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu erfüllen. Zusammen mit dem Vertragsverletzungsverfahren, das Brüssel aufgrund der von der PiS begonnenen Justizreformen einleitete, ist in den Beziehungen zwischen Polen und der EU bereits heute nachhaltiger Schaden entstanden.
Das Risiko, das Warschau mit seiner Enteuropäisierungsstrategie eingeht, beschränkt sich keineswegs auf einzelne Sektoren oder Themenfelder. Vielmehr ist Polen im Begriff, sich in Sachen europäischer Kooperation und Integration selbst ins Abseits zu manövrieren und den Anschluss an die künftige EU zu verlieren. Der Beitritt zur Eurozone ist für die aktuelle Regierung kein Thema, und selbst die Opposition vertritt diesbezüglich keine klare Position. Skeptisch ist Warschau auch gegenüber den neuen Plänen für eine Verteidigungsunion. Hinter dieser Haltung steht nicht nur das Bestreben, eine eigene nationale Rüstungsindustrie aufzubauen, sondern auch die Überzeugung, dass Abgrenzungsprobleme zwischen dem Verteidigungs- und Sicherheitsbereich der EU und der NATO unvermeidlich wären. Eine Vertiefung der europäischen Migrations- oder Sozialpolitik und die europäische Klimapolitik sind für Polen ohnehin rote Tücher.
Zu einem großen Teil lassen sich die polnischen Vorbehalte mit speziellen nationalen Interessen in den jeweiligen Bereichen erklären. Doch das Misstrauen des national-populistischen Lagers gegenüber einer voranschreitenden Europäisierung – das von der öffentlichen Meinung oftmals geteilt wird – spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.
Hier die Integrationsbemühungen Brüssels, dort Polens strategische Zurückhaltung: Unter diesen Voraussetzungen wird Polens Prozess der Enteuropäisierung höchstwahrscheinlich von ganz alleine weitergehen. Um das zu verhindern, müsste Warschau einen radikalen Kurswechsel in seiner Europa-Politik vornehmen. Die nationalen Interessen im Hinblick auf den Euro, die Energie- und die Verteidigungspolitik müssten neu definiert werden, um sie in besseren Einklang mit der Entwicklung der EU zu bringen.
Polen ist ein großes Land, das in der EU eine bedeutende Rolle spielen könnte. Doch unter den heutigen innenpolitischen Bedingungen ist Warschau nicht in der Lage, diese Rolle auszufüllen. Der Brexit schwächt die polnische Position noch weiter. Die strategische Herausforderung liegt nun darin zu definieren, wie viel Anpassung nötig und möglich ist, um zumindest in einigen Bereichen vom europäischen Integrationsprozess zu profitieren – oder wenigstens keine Nachteile der in Brüssel beschlossenen Gesetze zu spüren zu bekommen.
Dieses Dilemma spiegelt sich auch in der polnischen Ambivalenz gegenüber Vorschlägen für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Einerseits lehnt es Warschau ab, die EU flexibler zu gestalten. So gab Außenminister Witold Waszczykowski zu Protokoll, das Angebot einer flexiblen Integration sei nichts anderes „als ein Rezept zum Scheitern und zur Aufsplitterung“. Derartige Vorschläge könnten „hegemonialen“ Lösungen, bei denen nicht vollends integrationswillige Länder benachteiligt würden, Vorschub leisten. Andererseits waren polnische Politiker in früheren Diskussionen über ein flexibles Europa weitaus weniger skeptisch. Tatsächlich erklärte man in Warschau lange, die EU könne nicht nach einem standardisierten „Einheitslösungs“-Prinzip funktionieren. Stattdessen müsse man Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, sich so weit zu integrieren wie sie wollten. Auch jenen, die sich gegen weitreichende Integration entschieden, sollten aber die vollen Vorteile der EU-Mitgliedschaft erhalten bleiben. Die PiS-Idee, flexible Rücktrittsmechanismen zu kreieren, lief auf ein „Europa à la carte“ hinaus, in dem jeder Staat frei und je nach der eigenen Interessenlage aus einem festgelegten Integrationsmenü hätte wählen können. Diese Option stand in Brüssel jedoch nie ernsthaft zur Debatte.
Während ein Polexit weder heute noch morgen zu erwarten ist, ist viel wahrscheinlicher, dass die EU Polen „verlässt“: nicht indem sie Warschau formal ausschließt, sondern indem sie sich weiterentwickelt, neue Wege der Integration und Kooperation beschreitet und Polen dabei zurücklässt. Sollte sich Polen somit weiter „enteuropäisieren“, liefe das Land Gefahr, in einen Teufelskreis zu geraten: Wenn es nicht mehr die Solidarität, die Finanzstärke und den politischen Willen aufbringt, die nötig sind, um eine führende Rolle in der EU einzunehmen, würde es auch weniger von der EU profitieren als in der Vergangenheit. Diesen relativen Machtverlust würden die Populisten dann als ein weiteres Argument gegen die EU und als Kritik an ihren größten Mitgliedstaaten instrumentalisieren.
Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations und arbeitet als Kommentator für mehrere Zeitungen.
Internationale Politik 6, November-Dezember 2017, S. 101 - 105