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01. Mai 2015

Die Kosten der Koexistenz

Europa braucht ein neues Verhältnis zu Russland – aber nicht um jeden Preis

Wenn der Hauptmakel der europäischen Sicherheitsordnung nach 1989 darin bestand, dass sie ungeeignet war, Russland dauerhaft einzubinden – wäre es dann nicht höchste Zeit für einen Deal, in dem die Regeln neu definiert und Moskaus Bedenken berücksichtigt würden? Nein. Denn das hieße, dass der Westen voreilig fundamentale Werte auf Spiel setzte.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat den Westen im Innersten erschüttert und westlichen Selbstzweifeln Nahrung gegeben. War es nicht völlig illusorisch, Anfang der neunziger Jahre anzunehmen, der Sieg des Westens im Kalten Krieg werde gleichsam automatisch in eine friedliche und demokratische Welt führen, eine Welt, in der die westlichen Prinzipien und Institutionen unangefochten herrschen würden?

Schwäche, nicht Zustimmung

In einem Essay über die „Rache der revisionistischen Mächte“ in Foreign Affairs ist der amerikanische Politikwissenschaftler Walter Russell Mead den Denkfehlern des Westens nach 1989/90 gründlich nachgegangen1 . Wir hätten, so Mead, den Zusammenbruch der Sowjetunion missverstanden: Es war zwar ein Triumph der liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratie über den Kommunismus, aber bei weitem kein Beweis, dass harte Machtpolitik endgültig obsolet geworden ist.

In Wirklichkeit hätten China, der Iran und Russland die Rahmenbedingungen der Ordnung nach dem Kalten Krieg nie akzeptiert. Ihre zeitweilige Bereitschaft, sich an die neuen Spielregeln zu halten, sei lediglich ihrer relativen Schwäche, nicht aber einer Zustimmung zu den westlichen Ordnungsprinzipien geschuldet gewesen.2

Die heutige Krise der westlich geprägten Ordnung kommt für uns nur deshalb überraschend, weil wir seinerzeit nicht begreifen wollten, dass diese Ordnung nur so lange würde halten können, wie die Kräfteverhältnisse unverändert blieben.

Für Europa bedeutet das, erstens, dass die Stabilisierung des Kontinents mittels einer Ausweitung des europäischen Integrationsprojekts an ihre Grenzen gestoßen ist. Was noch mit der Osterweiterung der NATO und der EU 1999/2004 funktionierte, stieß 2008 in Georgien und erst recht 2014 in der Ukraine auf heftigen Widerstand Russlands. Trotz aller guten Absichten des Westens stehen am Ende nicht die Ausdehnung des Raumes von Frieden und Wohlstand, sondern Krieg und Zerwürfnis – und der womöglich endgültige Abschied Russlands von der europäischen Sicherheitsordnung.

Wollte Moskau diese Ordnung in den vergangenen 25 Jahren noch nach eigenen Vorstellungen mitgestalten, so entschied es sich nun für einen „Ruxit“ (Josef Janning)3 und dafür, einen zivilisatorischen, politischen und ideologischen Gegenpol zum Westen zu bilden. Zusammengenommen bedeuten beide Entwicklungen eine gravierende Veränderung der Sicherheitslage in Europa – und eine Herausforderung für EU und NATO, ihre Strategien im Umgang mit Russland zu überdenken.

Wenn der größte Makel der europäischen Sicherheitsordnung nach der Wende darin bestand, dass sie Russland nicht dauerhaft integrieren konnte, wäre es dann nicht angebracht, diesen Fehler zu korrigieren und einer weiteren Verschärfung der Lage durch einen neuen Deal vorzubeugen, in dem die Regeln neu definiert und russische Bedenken berücksichtigt würden?4 Wenn die bisherige Ordnung endgültig zerstört ist, stehen wir dann nicht vor der Alternative: „neue Regeln“ (wobei der Westen von einigen seiner Prinzipien abrücken müsste) oder „keine Regeln“ (um den Preis eines drohenden Chaos)?5

Falsche Analogien

Oder hilft der Rekurs auf die Vergangenheit? In mancher Hinsicht, schreiben drei Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik, ähnele die heutige Situation der in den fünfziger Jahren: „Damals strebte die Sowjetunion nach einer Anerkennung des territorialen Status quo und einer Legitimierung ihres Einflusses in Osteuropa.“ Die Antwort des Westens seien der Harmel-Bericht (Abschreckung und Entspannung) und die KSZE-Verhandlungen gewesen, die einen Modus vivendi ermöglichten. Auch heute sei „ein ordnungspolitischer Neuansatz“ gefragt, „der auf Sicherheit und Kooperation setzt“ und „eine friedliche Koexistenz und ‚Koevolu­tion‘ der (…) westlichen ordnungspolitischen Vorstellungen und derjenigen Russlands“ ermöglichen würde.6

Die neue Ordnung solle auf einer „Anerkennung der Realitäten“ beruhen und sich an drei Prinzipien orientieren. Erstens müsse der Grundsatz der Unverletzlichkeit des staatlichen Territoriums um das Prinzip der Unverletzlichkeit der innenpolitischen Ordnungen ergänzt werden. Zweitens sollte sich die EU an ihrer Peripherie auf den Aufbau leistungsfähiger Staatlichkeit konzentrieren, ohne sich in sensible politische Fragen nach Demokratie, Medien oder Wahlen einzumischen. Drittens gehe es darum, die Energiebeziehungen mit Moskau zu verstetigen und die langfristigen Handelsbeziehungen aufzuwerten. Zwar räumen die Autoren ein, dass es den Europäern schwerfallen dürfte, den hohen politischen Preis für einen solchen Kompromiss zu zahlen: „Die langfristige Sicherung von friedlicher Koexistenz im gesamteuropäischen Raum sollte ihn jedoch wert sein.“

Der Vorteil dieses Vorschlags liegt zweifellos darin, dass die Autoren den Mut aufbringen, die etwas nebulöse Vision eines „new bargain“ mit Russland mit konkreten Maßnahmen zu füllen. Dabei zeigt sich allerdings, warum ein solcher Deal weder praktikabel noch wünschenswert ist.

Zunächst einmal ist die Analogie zu den fünfziger Jahren falsch. Damals war die Zweiteilung des Kontinents durch die Blockgrenze markiert, die den Einflussbereich der von Moskau eingesetzten kommunistischen Marionettenregierungen vom Westen trennte. Heute herrschen nirgendwo in Osteuropa Regierungen oder politische Systeme, die von Russland oktroyiert wurden, in keinem Land verfügt Moskau über eine Kon­trolle, die mit der zu Zeiten des Kalten Krieges vergleichbar wäre. Im Gegenteil: In der Ukraine, in Georgien und in der Republik Moldau haben wir es mit demokratisch legitimierten Strukturen zu tun und mit politischen Eliten, die sich Moskaus Einflussbereich entziehen wollen. Der russische Ordnungsentwurf wird selbst von den Mitgliedern der Eurasischen Union nicht widerspruchslos akzeptiert.

Vorauseilender Gehorsam

Moskau geht es heute weniger darum, den Status quo zu legitimieren, als vielmehr darum, ihn zu verändern, indem man den Staaten, die zwischen Russland und der EU liegen, das Recht auf unabhängige Zukunftsgestaltung nimmt. Würden die genannten Leit­linien nicht im Endeffekt auf eine Anerkennung der russischen Einflusszone hinauslaufen, noch bevor sie ein Faktum geworden ist?

Hinzu kommt, dass die Geopolitik eine wichtige, aber nicht die einzige Ursache des aktuellen Konflikts ist. Putins Politik ist in nicht geringem Maße die Folge eines fehlgeschlagenen Staats- und Wirtschaftsmodells, dessen Scheitern er mit nationalistischer und aggressiver Politik zu kompensieren versucht.

Es geht also um Machterhalt; ein Machterhalt, der sich durch Wirtschaftswachstum und steigenden Wohlstand – wie in den ersten zehn Jahren der Putinschen Herrschaft – nicht mehr sichern lässt. Der Westen hat auf diese ideologische Wende in Russland kaum Einfluss. Neue Konzessionen des Westens werden der antiwestlichen und aggressiven Politik so lange nicht den Wind aus den Segeln nehmen können, solange sie innenpolitisch Punkte bringt.

Nicht weniger wichtig ist ein zweiter Aspekt: Russlands Angriffe auf die Ukraine richten sich nicht gegen die Mitgliedschaft des Landes in der NATO oder der Europäischen Union, sondern vornehmlich gegen die Demokratie als Ordnungsprinzip des ukrainischen Staates. Wenn es aber nicht die Förderung der Demokratisierung in Osteuropa durch den Westen ist, die den Zorn Moskaus erregt, sondern der Wunsch der Ukrainer selbst nach Demokratisierung, wäre es falsch zu erwarten, dass symbolische Gesten des Westens Putin beeindrucken könnten. Moskau sieht erfolgreiche Demokratien in seiner Nachbarschaft als erhebliche Gefahr für die Stabilität des eigenen Regimes, ob sie nun vom Westen unterstützt werden oder nicht.

Auch das eingeforderte Prinzip der „Unverletzlichkeit der innenpolitischen Ordnungen“ ist höchst problematisch, da es zwei ganz unterschiedliche Arten der „Einmischung“ auf eine Ebene stellt. Die erste ist eine EU-typische Konditionalität, der sich die Länder freiwillig unterwerfen, die sich in die EU integrieren wollen. Die zweite Art ist die russische Politik der Erpressung, die darauf abzielt, freie Entscheidungen eines Landes zu unterbinden. Entscheidend ist, dass Russland die erste Art der – von demokratisch gewählten Regierungen akzeptierten  –  „Einmischung“ nicht hinnimmt.  Sollte die EU diesen Einwänden nachgeben, würde sie ihre eigenen Grundwerte verletzen.

Eine Politik, die eine Koexistenz der Ordnungsentwürfe auf der Grundlage solcher Prinzipien in Kauf nähme, wäre für eine wertebasierte EU unvorstellbar und für ihre Interessen schädlich. Eine solche Politikwende wäre übrigens mit der zweiten Leit­linie unvereinbar, denn der Aufbau einer leistungsfähigen Staatlichkeit ist in den meisten Fällen ohne Demokratisierung kaum denkbar.

Unpraktikabel und inakzeptabel

So erweisen sich die konkreten politischen Schritte, die sich aus den vorgeschlagenen Leitlinien einer neuen gesamteuropäischen Ordnung ableiten lassen, bei näherer Betrachtung entweder als bedeutungslos, nicht praktikabel oder nicht hinnehmbar. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Suche nach einem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Ordnungsentwürfe in Russland und im Westen ist heute leider ein aussichtsloses Unterfangen.

Es ist auch fragwürdig, über eine neue gesamteuropäische Ordnung unter Einschluss Russlands zu spekulieren, ohne die Voraussetzungen dafür zu benennen. Für eine solche Vereinbarung braucht man ein Minimum an Vertrauen – Vertrauen, das durch die bisherige Politik Moskaus nachhaltig zerstört wurde. Und wenn die Analogie mit dem KSZE-Prozess lehrreich sein soll, dann vor allem im Hinblick auf seinen offenen Charakter: Die Leitlinien einer neuen Friedensordnung wurden erst am Ende des Prozesses, in der Helsinki-Akte von 1975, ausformuliert – nicht am Anfang.

Schaut man auf die derzeitigen innenpolitischen Entwicklungen in Russland, dann scheint eine lange Phase relativer Instabilität und wiederkehrender Spannungen kaum vermeidbar. Das heißt noch lange nicht, dass ein neuer Kalter Krieg vor der Tür steht. Der Westen muss gesprächsbereit bleiben, nicht nur in der Ukraine-Frage, sondern auch bei den vielen globalen Problemen, zu deren Lösung Russland entscheidend beitragen könnte – Iran, Nahost, Energieversorgung.

„Entspannung unter Berücksichtigung gesicherter Verteidigungsfähigkeit“ war der Grundsatz des Harmel-Berichts von 1967. Abschreckung und Eindämmung sowie eine innere Stärkung der EU müssen auf längere Sicht Pfeiler der westlichen Strategie bleiben – auch um die Verhandlungsposition des Westens zu stärken.
Über „Congagement“ als eine denkbare Strategie und über die Wiederannäherung mit Russland als Aufgabe für Generationen hat Wolfgang Ischinger kürzlich in dieser Zeitschrift geschrieben.7 Russland ist derzeit nicht bereit, ein „verantwortungsvoller Stakeholder“ einer neuen gesamteuropäischen Ordnung zu sein. Der Westen sollte nicht vorschnell seine fundamentalen Werte aufs Spiel setzen – im naiven Glauben, dass dies eine „langfristige Sicherung von friedlicher Koexistenz“ bringen könnte.

Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations und arbeitet als Kommentator für mehrere Zeitungen.

 

  • 1Walter Russell Mead: The Return of Geopolitics, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014.
  • 2Siehe auch Ivan Krastev: Dancing with the Bear. How the West Should Handle Its Relations with Russia, in: Ricardo Alvaro (Hrsg.): West-Russia Relations in Light of the Ukraine Crisis, IAI Research Papers, S. 17–31, Rom 2015.
  • 3Josef Janning: Ruxit is real: Russia’s exit from Europe, ECFR Commentary, 27.2.2015.
  • 4Vgl. Samuel Charap und Jeremy Shapiro: A New European Security Order: The Ukraine Crisis and the Missing Post-Cold War Bargain, Fondation pour la Recherche Stratégique, Note No. 15/2014, 8.12.2014.
  • 5New rules or no rules? XI Annual Valdai Discussion Club Meeting. Participants report, Moskau, März 2015.
  • 6Markus Kaim, Hanns W. Maull und Kirsten Westphal: Die gesamteuropäische Ordnung vor einer Zäsur – drei Leitlinien für einen Neubeginn, SWP-Aktuell 14, Februar 2015.
  • 7Wolfgang Ischinger: Eine Aufgabe fŸr Generationen, IP Januar/Februar 2015, S. 30–35.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S.78-82

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