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01. Nov. 2014

Warschaus Wünsche, Berlins Bedenken

Das Ende der Ära Tusk und die deutsch-polnischen Verstimmungen

Der Abgang von Donald Tusk und Radosław Sikorski markiert das Ende einer erfolgreichen Epoche in der polnischen Politik. Doch an ungelösten Problemen, die das Erfolgstandem seinen Nachfolgern hinterlassen hat, mangelt es nicht. Das betrifft die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, seine Rolle in Europa und vor allem das Verhältnis zu Deutschland.

Mit dem Wechsel in der Führungsriege wird zweifelsohne nicht alles anders in der polnischen Politik. Ewa Kopacz, die neue Ministerpräsidentin, gehört zu den engsten Vertrauten ihres Vorgängers Donald Tusk. Ob Grzegorz Schetyna, der die Nachfolge von Sikorski antritt, einen Kurswechsel plant, lässt sich noch nicht sagen. Er gilt einerseits als außenpolitisch unerfahren, andererseits als Gegenspieler Tusks; ihm werden Ambitionen auf den Stuhl des Premierministers nachgesagt.

Das Ende der Ära Tusk/Sikorski geht jedoch mit der Erkenntnis einher, dass einige Prämissen, auf denen Polens Politik und Erfolg in der EU in den vergangenen Jahren ruhten, ihre Gültigkeit verlieren. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise war Polen als das einzige EU-Land, das keinen wirtschaftlichen Einbruch erlitt, zu einem wichtigen Mitspieler geworden. Vor allem Donald Tusk und Angela Merkel verstanden sich glänzend, aber auch Radosław Sikorski und Frank-Walter Steinmeier pflegten ein vertrauensvolles Verhältnis. Das frühere Misstrauen zwischen Warschau und Berlin ist einer pragmatischen und engen Zusammenarbeit gewichen.

Die Quellen des rasanten Wirtschaftswachstums des vergangenen Jahrzehnts scheinen allmählich zu versiegen. Das bisherige Wachstumsmodell, das auf der Nutzung von EU-Fördergeldern, der Flexibilität der Unternehmen, niedrigen Löhnen und einem flexiblen Wechselkurs beruht, ist keine Zukunftsoption. Polens Wirtschaft ist heute effizienz-, nicht innovationsgetrieben. Sie braucht dringend einen Modernisierungsschub.

Ende der Konfliktfreude?

Auch die Fähigkeit Warschaus, seinen Platz im Machtzentrum der EU zu wahren, wird immer öfter auf die Probe gestellt. Vor allem die Ukraine-Krise hat die Grenzen der bisherigen Strategie gnadenlos aufgezeigt, und insbesondere in der Ostpolitik wird Polen sich neu positionieren müssen. Dass Sikorski das Außenministerium verlassen hat, ist hie und da als das Ende der Konfliktfreude gegenüber Russland interpretiert worden und als das Ende einer Politik, die die Heranführung der Ukraine an die EU um beinahe jeden Preis zum wichtigsten Ziel Polens erklärt.

Die ersten, etwas unglücklichen Äußerungen der neuen Regierungschefin Ewa Kopacz, die sich selbst mit einer Mutter verglich, die zunächst die eigenen Kinder beschützen muss, bevor sie anderen zu Hilfe kommt, ließen den Eindruck entstehen, dass Polen seine Rolle im Ukraine-Konflikt weniger aktiv als bisher wahrnehmen werde. Der neue Außenminister Schetyna unterstrich in einem Interview, dass Polen keine Alleingänge wagen, sondern sich eng mit den europäischen Partnern abstimmen werde. Leitet diese Akzentverschiebung eine neue Politik ein? Der Falke ist weg – bricht jetzt die Ära der Tauben an?

Auch hier gilt: Sikorskis Abgang dürfte eher eine symbolische Wirkung haben. Polen wird weiterhin auf der territorialen Integrität der Ukraine bestehen, ihre Assoziierung mit der EU vorantreiben und gegen eine Rückkehr zum Tagesgeschäft in den Beziehungen zu Russland plädieren.

Doch wie die Beziehungen zur Ukraine künftig gestaltet werden, hängt von einer Reihe von Unbekannten ab. Da ist – natürlich – die Unberechenbarkeit Putins, da ist aber auch die Ungewissheit, was die künftigen Entwicklungen in Kiew angeht. Wie zuverlässig sind die alt-neuen politischen Eliten als Partner für Polen und die EU? Wird die neue ukrainische Regierung über die Energie und den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen, um notwendige Reformen in Angriff zu nehmen, die oligarchischen Strukturen aufzubrechen und einen Rechtsstaat aufzubauen? Oder werden wir wieder eine Situation wie nach der ersten Maidan-Revolution 2004 erleben, als die Chance auf einen wirklichen Neuanfang verpasst wurde?
Herber Prestigeverlust
Die zweite Herausforderung für die neue polnische Regierung betrifft das Verhältnis zu Deutschland. Es ist kaum zu übersehen, dass sich in den vergangenen Monaten im europäischen Krisenmanagement eine erhebliche Kräfteverschiebung ereignet hat. Bildete Polen früher quasi die Speerspitze der EU-Ostpolitik – als Ideengeber der Östlichen Partnerschaft und als einer der Architekten des Machtwechsels in Kiew im Februar 2014 –, so spielte Warschau bei der Konfliktlösung in der Ukraine zuletzt keine größere Rolle mehr.

Die Führung in der EU-Politik gegenüber Russland und der Ukraine übernahm de facto Deutschland. Berlin prägte das so genannte Normandie-Format, an dem – beginnend mit dem Treffen während der Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestags des D-Day in der Normandie – Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine teilnahmen. Dieses Vierer-Format wurde mit der Zeit zum zentralen Ort der Verhandlungen mit Russland; hier wurde auch Anfang September die – nach wie vor labile – Waffenruhe ausgehandelt.

Dass Warschau nicht zur Teilnahme an den Gesprächen eingeladen wurde – auf Betreiben Moskaus, wie man in Polen vermutet –, war ein herber Prestigeverlust für das Land, das zuvor wie kein anderes für die EU-Ostpolitik stand und dessen Sicherheitsinteressen in diesen Verhandlungen in besonderer Weise berührt werden. Polen gab unmissverständlich zu verstehen, dass Deutschland nun die alleinige Verantwortung für die weiteren Ereignisse tragen werde. Ausdruck der Verbitterung waren heftige Reaktionen in den polnischen Medien. Der Vorwurf: Berlin wolle einen bilateralen Deal mit Moskau; die legitimen Interessen Polens und der Ukraine seien ihm gleichgültig.

Diese Reaktionen, so überzogen sie teilweise waren, reflektieren den Meinungsstand eines Teiles der polnischen Elite und zeigen auf, in welchem Maß das deutsch-polnische Verhältnis im Zug der Ukraine-Krise Schaden genommen hat. Die Frage, ob Polen zu seiner Führungsrolle in der EU-Ostpolitik zurückfinden kann, hat viel damit zu tun, ob die deutsch-polnische Zusammenarbeit künftig wieder besser funktionieren wird.

Berlin und Paris als Bremser

Noch deutlicher traten die deutsch-polnischen Spannungen im Vorfeld des NATO-Gipfels in Wales zutage. Warschau erwartete von diesem Gipfel ein starkes Signal der Geschlossenheit gegenüber Russland; doch das blieb nach Meinung vieler Beobachter aus.

Als Konsequenz aus der Ukraine-Krise wurde zwar die Schaffung einer schlagkräftigen „Speerspitze“, der Schnellen Eingreiftruppe mit 3000 bis 5000 Soldaten, vereinbart. Auch beschlossen die NATO-Staats- und Regierungschefs einen so genannten „Readiness Action Plan“ sowie eine Aufstockung des Stettiner NATO-Stützpunkts auf 400 Mann.

Was andere Beschlüsse freilich anging (besonders die, die eine eindeutig deutsche Handschrift trugen), so blieben die Ergebnisse unter den polnischen Erwartungen. Vor allem die Tatsache, dass die Gründungsakte des NATO-Russland-Rats von 1997 in Kraft bleiben sollte, die u.a. eine permanente Stationierung der NATO-Truppen in Mittel- und Osteuropa ausschließt, wurde als unangemessen empfunden – zumal angesichts einer russischen Politik, die fundamentale Prinzipien dieses Dokuments mit der Aggression gegen die Ukraine verletzt hatte. So blieb unterm Strich der ungute Eindruck, dass das Bündnis eine unmissverständlich abschreckende Antwort auf das russische Vorgehen schuldig geblieben sei.

Die polnische Kritik richtete sich dabei gegen die europäischen Verbündeten, allen voran Deutschland und Frankreich. Natürlich, auch von den Amerikanern waren keine Forderungen nach noch weiter gehenden Reaktionen gegenüber Russland zu vernehmen. Doch zumindest wirkten sie bei ihren Erklärungen, die Sorgen der mittel- und osteuropäischen NATO-Mitglieder ernst zu nehmen, weit glaubwürdiger als Berlin und Paris. Dazu trugen auch konkrete Schritte wie die Entsendung von Soldaten und Kampfflugzeugen nach Polen bei.

Überhaupt verfestigte sich im Laufe der Ukraine-Krise in Polen der Eindruck, dass in sicherheitspolitischen Fragen nur Amerika einen wirklich verlässlichen Rückhalt biete. Das hatte mit der als allzu vorsichtig empfundenen Haltung Berlins gegenüber Russland zu tun, aber auch mit der grundsätzlichen deutschen Skepsis gegenüber allem Militärischen und dem desolaten Zustand der Bundeswehr. Auch das lange Zögern Frankreichs, den Mistral-Hubschrauberträger-Deal mit Russland auszusetzen, war nicht gerade dazu angetan, die Bedenken Warschaus zu zerstreuen.

Im Militärkonzert der Großen

Nach Jahren der sicherheitspolitischen Hinwendung Polens nach Europa schaut man nun also wieder über den Atlantik. Auch wenn Warschau wohl nicht in die Situation geraten wird, sich zwischen Amerika und Europa entscheiden zu müssen, so wird der Stimmungsumschwung doch Konsequenzen für Warschaus Politik und Position innerhalb der EU haben.

Dies betrifft insbesondere die Verteidigungspolitik und die Modernisierung der polnischen Armee. Aufgrund der Krise im Osten sollen wichtige Aufträge bis Frühling 2015, und damit schneller als ursprünglich geplant vergeben werden. Die jüngsten Äußerungen des Verteidigungsministers Tomasz Siemoniak deuten darauf hin, dass man dabei aus politischen Gründen eher auf amerikanische als auf europäische Anbieter setzen will.
Das hätte zweierlei Folgen für Polen und Europa. Zum einen für das Modernisierungsprogramm der pol­nischen Armee, das stets auch unter dem Gesichtspunkt des Technologietransfers diskutiert wurde. Das 34 Milliarden Euro starke Programm soll der Modernisierung der polnischen Wirtschaft und ihrer Umstellung auf innovative und wissensbasierte Entwicklungsträger dienen. Ausgerechnet in diesem Punkt gelten nun allerdings die europäischen Anbieter als die geeigneteren Partner – US-Firmen schützen den Zugang zu eigenen Technologien weitaus stärker. Damit würde das ursprüngliche Ziel des Programms konterkariert und der für Polens Zukunft unerlässliche Anstoß zur Transformation des Wirtschaftsmodells bliebe aus.

Zweitens würde eine starke langfristige Anbindung des polnischen Militärkomplexes an die amerikanischen Partner ein anderes Ziel Polens aufs Spiel setzen – den Wunsch, in der europäischen Rüstungsindustrie eine entscheidende Rolle zu spielen. Polens Rüstungssektor ist heute noch zu schwach, um es mit den Großen in der EU aufzunehmen. Deswegen kommt den bevorstehenden Entscheidungen eine strategische Bedeutung zu: Sollte sich der Verteidigungssektor zu einem wichtigen Integrationsprojekt der EU entwickeln, müsste Polen, wenn es seine europapolitischen Ambitionen nicht aufgeben will, dabei sein – ohne Wenn und Aber.

Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations und arbeitet als Kommentator für mehrere Zeitungen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 84-87

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