Nord Stream 2 stoppen?
Jürgen Trittin und Dietmar Bartsch über das Für und Wider des Projekts.
PRO: Was wir uns sparen können
Von Jürgen Trittin
Ja, Europa ist abhängig – es hängt an der Nadel der fossilen Energien. Die fossile Abhängigkeit gefährdet die europäischen Klimaschutzziele. Und sie gefährdet Europas Souveränität.
Falsch ist, dass Deutschland deswegen von Russland abhängig ist. Das ist Blödsinn. Über Jahrzehnte lieferte Russland, lieferte die Sowjetunion selbst über den eigenen Zusammenbruch hinaus verlässlich Gas.
Pipelines erzeugen eine wechselseitige Abhängigkeit. In diesem Fall binden sie den Produzenten stärker als den Kunden. Russland hängt von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport ab. Es kann seine Gaskunden nicht einfach wechseln – Europa aber kann sich seine Produzenten aussuchen. Es bezieht sein Gas aus der ganzen Welt und verfügt über ein europäisches Gasnetz. Die US-Sanktionen sollen deshalb nicht Europa schützen, sondern Gazprom den Marktzutritt blockieren, weil US-Flüssiggas teurer als Pipelinegas ist. Die Sanktionen sollen uns zwingen, mehr für das Gas zu bezahlen. Sie sind Teil eines Wirtschaftskriegs gegen Europa.
Ist deshalb Nord Stream 2 vernünftig? Nein. Es macht so wenig Sinn wie der südliche Gaskorridor von Aserbaidschan über die Türkei nach Südeuropa oder die Flüssiggasterminals in Brunsbüttel. Sie zementieren unsere fossile Abhängigkeit über Jahrzehnte. Dem Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden, widersprechen neue fossile Importinfrastrukturen. Wenn Europa 2050 klimaneutral sein will, dann muss es 2030 mehr als 55 Prozent seiner Emissionen von 1990 eingespart haben. Wenn die eigenen Gasproduktionskapazitäten in Niedersachsen und den Niederlanden schneller abnehmen als der Verbrauch, dann ist das keine Bedrohung, sondern die Chance, dieses Delta über Effizienz und Einsparungen zu kompensieren, von Investitionen in energetische Gebäudesanierung bis zum Einsatz erneuerbarer Energien in der Wärmebereitstellung und der Chemieindustrie.
Für Europas Souveränität ist nicht Russland das Problem. Es ist die Importabhängigkeit, die es jetzt in die Sanktionsfalle hat laufen lassen. Hoffnungen, dass sich an der US-Sanktionspolitik unter Joe Biden etwas ändert, sollte man nicht haben. Die Sanktionen fanden auch bei Demokraten breite Zustimmung. Wer Europas Unabhängigkeit stärken will, muss seine fossile Abhängigkeit vermindern.
Dann heißt es, auf Nord Stream 2 wie auf subventionierte Projekte wie den südlichen Gaskorridor zu verzichten. Dann verbietet es sich, wie von Peter Altmaier und Olaf Scholz geplant, den Absatz von US-Frackinggas durch Zwangsabgaben für Gaskunden zu befördern – einem Gas mit der Klimabilanz von Braunkohle. Dann muss in klimaneutrale Technologien investiert werden. Das schafft Jobs, schützt das Klima und stärkt Europas Resilienz.
Jürgen Trittin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Bündnis 90/ Die Grünen.
CONTRA: Wir sollten uns nicht beugen
Von Dietmar Bartsch
Nord Stream 2 wird von zwei Seiten unter Beschuss genommen. Die eine Seite bringt durchaus berechtigte ökologische Gesichtspunkte zur Geltung. Irgendwann ist Schluss mit fossilen Energiequellen. Da wirkt Nord Stream 2 wie ein Statement gegen den ökologischen Umbau. Aber die ökologische Kritik muss sich selbst ernst nehmen. Warum vernimmt man sie nicht bei den Pipelineprojekten, die vom Süden aus in die EU führen sollen? Warum schweigt sie bei der Diversifizierungsstrategie der EU, die den Markt auch für amerikanisches Frackinggas öffnen soll? Frackinggas ist unwirtschaftlicher und klimaschädlicher. Die Fokussierung nur auf Nord Stream 2 macht stutzig.
Die andere Seite, von der aus die Pipeline Nord Stream 2 unter Beschuss genommen wird, argumentiert geopolitisch. Man behauptet, die EU könne bei zu großer Abhängigkeit von Russland auch politischen Risiken ausgesetzt sein. Aber selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges lieferte die UdSSR zuverlässig. Seit dem Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine hat sich gezeigt, dass eher die Ukraine als Durchleitungsland unzuverlässig ist. Umgehungen sind also plausibel. Mit der Ukraine-Krise 2014 verstärkte sich der Druck seitens der USA auf die EU, russisches Gas nicht mehr abzunehmen. Vollmundig behauptete man, russisches Gas auch durch amerikanisches Frackinggas ersetzen zu können, wenn auch nicht sofort. Mit dem Einbruch der Gaspreise wurde diese Behauptung dann noch unplausibler.
Ende 2019 beschloss der Kongress der Vereinigten Staaten ein „Gesetz zum Schutz von Europas Energiesicherheit“, das es ermöglichen soll, Firmen mit Sanktionen zu belegen, die sich an Nord Stream 2 beteiligen. Völkerrechtlich gesehen ist das lächerlich. Jeder Staat ist zwar berechtigt, sich über Europas Energiesicherheit Gedanken zu machen; aber ob er das Recht hat, in die ökonomische Souveränität anderer Staaten derart massiv einzugreifen, ist stark zu bezweifeln. Realistisch betrachtet ist es nackter ökonomischer Imperialismus. Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, wo die Nord Stream 2 endet. Die regionale Wirtschaft wäre von einer Einstellung des Pipelinebaus betroffen.
Die USA haben mit der Einfuhr russischer Rohstoffe kein Problem, solange sie selbst das tun. Das Geschäft mit russischem Erdöl läuft gut. Das lässt nur einen Schluss zu: Die USA sehen den europäischen Energiemarkt als Absatzmarkt für ihr eigenes, wesentlich umweltschädlicheres und teureres Frackinggas an. Unliebsame Konkurrenz muss aus dem Weg geräumt werden, auch wenn das Projekt schon zu 97 Prozent fertiggestellt ist und ein Ende extrem teuer wäre. Diesem Gebaren sollten wir uns nicht beugen.
Dr. Dietmar Bartsch ist Co-Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2021, S. 116-117