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01. Juni 2007

Europa postnational denken

Nicht Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit ist das Gebot der Stunde

Muss Europa sich von den USA emanzipieren? Braucht es endlich „Selbstbestimmung“, um seine Rolle als „fünfter Pol“ in der multipolaren Welt zu spielen? Der grüne Politiker Jürgen Trittin meldet Bedenken an gegen Egon Bahrs Thesen: „Euronationalismus“ sei nicht das richtige Rezept für die Bewältigung der heutigen globalen Herausforderungen.

Egon Bahrs Blick auf Europas strategische Interessen1 wird schon in der Sprache deutlich. Unbefangen spricht er von „den Amerikanern“, wo die Politik der US-Administration gemeint ist. Auch bei Russen, Franzosen, Engländern und Deutschen suggeriert Egon Bahr durch Pauschalisierung und Plural ein Bild von – Amtszeiten und Legislaturperioden überdauernden – Interessen von Nationen. Dass grundlegende politische und ökonomische Interessen von Staaten auch im Zeitalter der Globalisierung zentrale Determinanten internationaler Politik bleiben, ist dabei richtig. Doch mit dem ausschließlichen Rekurs auf Interessen gerät etwas aus dem Blick, was für eine moderne internationale Politik gerade in Hinsicht auf die Rolle Europas von eher wachsender Bedeutung ist – und das ganz realpolitisch: Werte. In Bahrs Plädoyer für Europas Selbstbestimmung kommt damit gerade das Besondere Europas zu kurz. Werte und Interessen zusammen zu denken ist jedoch die Voraussetzung, um von einer multipolaren Welt zu einem gestaltenden Multilateralismus zu kommen.

Interessen gegen Werte?

Der Widerspruch zwischen einer werteorientierten und einer interessengeleiteten Politik beherrscht traditionell die Theoriedebatten im Bereich internationale Beziehungen – Realismus versus Idealismus. Werte haben dabei in der kritischen Öffentlichkeit Europas das bessere Image. Hierzulande ist es verpönt, Außenpolitik offen mit nationalen oder regionalen Kollektivinteressen zu begründen, selbst wenn Europa faktisch danach handelt. Interessen wiederum werden von einer kühl-rationalen, betont abgeklärten und professionellen Schule der internationalen Politik ins Feld geführt, die vermeintlicher Naivität unverdächtig ist. Doch der Gegensatz ist falsch, beide Sichtweisen greifen zu kurz.

Der Feldzug der USA im Irak war nicht nur ein Krieg um Öl, sondern er wurde von neokonservativer Seite explizit mit hehren Werten begründet („Freiheit“, „Demokratie“); die dahinter stehende außenpolitische Vision hatte Züge eines ideologisch motivierten Kreuzzugs. Als Vertreter kühl kalkulierender Realpolitik trat seinerzeit eher Joschka Fischer mit seinem „I’m not convinced“ auf.

Eine so realpolitische Begründung seiner Ablehnung des Irak-Krieges hätten manche Grüne ihm gar nicht zugetraut. Ihr harter Streit über die Ausrichtung grüner Außenpolitik wurde fast ausschließlich als Streit um Werte geführt – von der Kontroverse um das Kosovo bis zum heutigen Darfur-Konflikt. Während die einen das völkerrechtliche Prinzip des Verbots von Angriffskriegen unterstrichen und gegen ein militärisches Eingreifen plädierten, bemühten andere die Analogie zu Auschwitz, um eine militärische Intervention zu legitimieren.

Dass es mit einigen hunderttausend Migranten im Land und mit der geographischen Nähe zum Balkan auch veritable Sicherheitsinteressen Deutschlands gab, einer kriegerischen Auflösung Jugoslawiens nicht tatenlos zuzusehen – und dass es mittelfristig im ökonomischen Interesse Deutschlands lag, für stabile Verhältnisse auf dem westlichen Balkan zu sorgen –, geriet bei diesem Streit um Werte auf beiden Seiten leicht in Vergessenheit. In dieser Hinsicht haben die Grünen sich während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung durchaus weiterentwickelt. Interessen in seiner Politik zu berücksichtigen, heißt nicht, diese zu verabsolutieren und zum einzigen außen-politischen Kriterium zu erklären. Natürlich spielen Werte eine zentrale Rolle. Wer jedoch ausschließlich von Werten spricht, sollte bedenken, dass es in der realen Welt oft einer Motivation bedarf, um sie auch durchzusetzen. Der mahnend erhobene moralische Zeigefinger bleibt ohne handfeste Interessen, die zum Handeln zwingen, meist schlicht folgenlos – siehe Ruanda oder Darfur.

Andererseits darf Interessenpolitik aber auch nicht völlig losgelöst von unseren Wertvorstellungen betrieben werden, wie dies etwa in der deutschen Russland-Politik von Helmut Kohl bis Gerhard Schröder häufig der Fall war. Bei Egon Bahr liegen Werte und Interessen unvermittelt nebeneinander, die Definition von Europas Interessen erfolgt weitgehend werteunabhängig. Rein interessengeleitete Außenpolitik aber verkennt den besonderen Charakter und die besondere Stärke Europas. Der amerikanische Politologe Joseph Nye hat den Begriff der Soft Power geprägt. Er bringt die machtpolitische Dimension einer -wertegeleiteten Politik auf den Punkt: Soft Power gewinnt Einfluss durch Überzeugung, kulturelle Attraktion, friedliche Mittel. Soft Power wird Europas Stärke bleiben. Angesichts der globalen Herausforderungen aber kommt es gerade auf diese Stärken und Fähigkeiten an.

Eine moderne internationale Politik muss dem Anspruch der ökologischen und sozialen Gestaltung der Globalisierung gerecht werden. Sie grenzt sich ab gegen die letztlich ökonomisch interessengeleitete, national definierte Politik der Volksparteien, gegen den marktradikalen Internationalismus der Neoliberalen wie gegen den populistisch-nationalistischen Isolationismus der Linkspartei.

Was also sind die Herausforderungen in den Zeiten globalisierter Waren- und Finanzmärkte? Zu Beginn seines Essays definiert Egon Bahr die „großen Probleme des Jahrhunderts“ und nennt „Umwelt, Spannungen zwischen Christentum und Islam oder die Überwindung des entstaatlichten Terrors“. Diese Ausgangsposition teile ich so nicht. Ich würde von vier großen Herausforderungen sprechen, die neue Bedrohungen zur Folge haben. Neben dem Klimawandel sind die zentralen Herausforderungen unseres Jahrhunderts der Wettbewerb um knappe Ressourcen, die globale Armut und Marginalisierung sowie die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Aus dem stetig zunehmenden Problemdruck – etwa durch die Polarisierung zwischen Arm und Reich oder durch anhaltende Modernisierungsdefizite – resultieren neue Konflikte. Diese müssen nicht notwendigerweise entlang kultureller oder religiöser Linien verlaufen; aber die Austragung mit Hilfe von entstaatlichter Gewalt und Terror wird wahrscheinlicher. Um derartigen Bedrohungen zu begegnen, ist es notwendig, die ihnen zugrunde liegenden Herausforderungen anzugehen. Deshalb ist Bahrs Folgerung zutreffend, die Probleme unserer Zeit könnten allesamt nicht durch Waffengewalt, sondern nur durch friedliche Kooperation gelöst werden. Die globalen Herausforderungen müssen multilateral, kooperativ und vorwiegend zivil bewältigt werden.

Die Bedrohung durch den Terrorismus als eine Gefahr sui generis zu betrachten, greift zu kurz. Bushs „war on terror“ ist ja gerade deshalb so aussichtslos, weil ihm jede Beziehung zum dringenden Handlungsbedarf bei Klimaschutz, gerechter Ressourcenverteilung und globaler Armut fehlt. Wer sich dem „harten“ Thema der Terrorismusbekämpfung so isoliert zuwendet, wird für die Verbesserung der globalen Sicherheit nichts bewirken können.

Tatsächlich ist der jüngste Terror eine schreckliche Erscheinung – vor allem für die Menschen im Irak. Aber trotz der Anschläge von New York, Madrid und London ist sie keine globale Heimsuchung. Global kosten wasserverursachte Krankheiten, Hunger, Dürre, Überschwemmungen und Bürgerkriege ein Mehrfaches an Opfern. Deshalb muss die Herangehensweise Europas an die Lösung der globalen Probleme eine ganz andere sein als es die primär militärisch geprägte Sicherheitsdoktrin der USA vorsieht. Europas Politik muss auf die Lösung der dem Terrorismus zugrunde liegenden globalen Herausforderungen abzielen. Dazu gehört zwar auch die militärische Stabilisierung von Entwicklungsprozessen, doch das ist bei weitem nicht alles. Es genügt auch nicht, den „war on terror“ um ein paar Entwicklungshelfer zu ergänzen. Ein umfassender Ansatz der Konfliktprävention durch Entwicklungs-, Abrüstungs-, Energie- und Klimapolitik sowie eine entschiedene Bekämpfung der Massenarmut ist gefordert. All diese Bereiche haben eine sicherheitspolitische Dimension. In diese Richtung muss Europas internationale Politik zielen.

Europas Selbstbestimmung

Egon Bahr gesteht Europa in seiner Diagnose keinerlei faktische Selbstbestimmung zu. In seiner Beschreibung erscheint Europa als ein passiver Spielball im Weltwettstreit der Macht-„Pole“. Es müsse sich seine Selbstbestimmung erst „nehmen“, meint Bahr; ein „fünfter Pol“ in der entstehenden multipolaren Weltordnung müsse Europa erst noch werden, während die anderen vier Pole – die USA, Russland, China, Indien – diesen Status bereits erreicht hätten.

Ist Europa wirklich so schwach? Trotz aller nicht zu leugnenden Probleme ist die EU in vielerlei Hinsicht bereits heute ein gewichtiger Pol in der Weltpolitik. Die Europäische Union hat eine neue politische Kraft etabliert: die Kraft nämlich, Transformationsprozesse anzustoßen und zu steuern. Die Instrumente dieser Kraft reichen von der Entwicklungshilfe bis zu den Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland oder den Staaten Zentralasiens. Mit dieser Kraft konnte die EU sogar – gegen den -Widerstand der USA – sowohl den Kyoto-Prozess als auch den Internationalen Strafgerichtshof durchsetzen. Länder auf der ganzen Welt sind beeindruckt von der Erfolgsgeschichte der EU und versuchen, mit Staatenbünden wie dem ASEAN oder dem Mercosur diesen Erfolg zu wiederholen.

Man vergleiche den Einfluss Europas mit dem Indiens, seine Wirtschaftskraft, seine Rolle in multilateralen Prozessen von IWF bis WTO und UNFCC, seine Rolle gegenüber den Nachbarn im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent. Wenn Indien ein Pol ist – was es ist – dann ist es die EU allemal. Es ist eine schlechte deutsche Tradition, sich selbst mangelnde „Selbstbestimmung“ zu attestieren. Sie wird nicht besser (und nicht weniger deutsch), wenn Bahr sie auf Europa überträgt. Auch die USA hindern Europa übrigens keineswegs an seiner Selbstbestimmung. Das transatlantische Verhältnis beschreibt Bahr völlig verzerrt als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis Europas von den USA. Doch das Spannungsverhältnis von historischer Verbundenheit und Distanz, von Freundschaft und Kritik, von Interessenharmonie und -gegensatz, in dem Europa heute zu den USA steht, kann nicht als Fremdbestimmung bezeichnet werden.

Die Zerrüttung des transatlantischen Verhältnisses nach sieben Jahren George W. Bush ist allerdings tief. Diese ideologisierte Administration hat der Welt und den Bürgern der USA schwer geschadet. Das Ausmaß des Schadens wird erst in einigen Jahren richtig zu ermessen sein. Dennoch wird es bei einer spannungsvollen, aber tendenziell freundschaftlichen Beziehung Europas zu den USA bleiben. Richtig diagnostiziert scheint mir von Bahr, wie die USA den derzeitigen Zustand Europas einschätzen. Sie empfinden die EU als angenehm spaltbar und ansonsten ignorierbar. Falsch wäre es aber, dieser Herablassung mit einem nationalen Verständnis von Europa begegnen zu wollen.

„Euronationalismus“ ist der Fehler, den Timothy Garton Ash in seinem – von Bahr zitierten – Essay zur europäischen Identität kritisiert hat. Es ist der Versuch, eine europäische Identität nach dem Muster der Nationalstaatsbildungen im 18. und 19. Jahrhundert zu denken, also als Schaffung einer kollektiven Identität durch Abgrenzung gegen ein „Anderes“ oder „die Anderen“. Dieses Modell hat zum einen in weltpolitische Katastrophen geführt, zum anderen hat Europa eine solche ressentimentgetriebene Identitätsbildung wirklich nicht nötig.

Europa besitzt seine eigene, reiche kulturelle und politische Tradition, aus der es schöpfen kann und aus der eine eigene „europäische Erzählung“ (Ash) entsteht, gestrickt um die Motive von Freiheit, Frieden, Solidarität, Recht, Wohlstand und Vielfalt. Die EU ist kein Kind, das sich trotzig von Vater Amerika lösen und auf eine faktisch doch längst ausgeübte Selbstbestimmung pochen müsste. Die Einheit Europas postnational zu denken, das ist die Herausforderung. Europas Handlungsfähigkeit

Wählen wir statt des Begriffs der Selbstbestimmung den der Handlungsfähigkeit, dann gerät das wahre Problem der EU in den Blick: die innere Zerstrittenheit. Die Gegner europäischer Handlungsfähigkeit sind die europäischen Nationalstaaten, die internen Konkurrenzen, wegen derer es für die USA so leicht war und ist, Europa zu spalten und für die eigenen Zwecke zu nutzen.

Bahr setzt an dem offenkundigen Problem an, verortet aber seine Lösung im Verhältnis von Erweiterung und Vertiefung der EU. Einheitliche europäische Handlungsfähigkeit wäre sicher einfacher zu haben, wenn die EU schwierige Mitglieder los würde. So spricht er sich mehr oder weniger dafür aus, England und Polen die Pistole auf die Brust zu setzen und zu verlangen, dass sie sich ein für allemal zwischen EU und USA entscheiden. Die Erweiterung scheint Bahr nur als erfolgreiches „Projekt Englands“ zu sehen, das dem Zweck der Erhaltung der transatlantischen Sonderstellung Großbritanniens dient. Europa ist schon heute nach Bahrs Ansicht „überdehnt“. Hier verliert er durch Fokussierung auf das Ziel der geostrategischen Stärkung Europas ganz einfach Europas größte Stärken aus den Augen: Frieden, Wohlstand, Vielfalt.

Die Osterweiterung und eine potenzielle Aufnahme der Türkei haben bedeutende positive Auswirkungen auf Frieden und Zusammenarbeit in Europa. Die EU ist in der Außensicht schon heute weltweit geachtet als alternatives Modell internationalen Zusammenlebens gegenüber den oft so deutlich machtpolitisch, hegemonial und militaristisch agierenden USA.

Europas außenpolitisches Handeln wird nie so homogen und straff sein können wie das eines Nationalstaats. Das mag man bedauerlich finden, es kann aber auch als Stärke angesehen werden. Europa ist vielfältiger, komplexer, orientiert am Modell einer Governance in vielerlei Ebenen, die sich ausbalancieren und gegenseitig kontrollieren. Das Ziel Europas ist es nicht, nach dem Modell klassischer Nationalstaaten nach Großmachtstatus oder Hegemonie zu streben. Wer es an solchen Zielen misst, kann nicht anders, als immer nur Defizite zu sehen. Doch Europa wirkt durch die Beispielhaftigkeit seiner Praxis, durch seine gelebten Werte der Verhandlungsdemokratie, des Friedens, des Rechts, der Vielfalt.

Das macht seine Zögerlichkeit, aber gerade auch seine Stärke aus. Denn in einer Welt wachsender Polarisierung zwischen Arm und Reich, wachsender Konkurrenz um höchst endliche Ressourcen und beschleunigter globaler Erwärmung ist ein Europa des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Interessen und Kulturen ein Modell praktizierter Multilateralität – und der blinden Konkurrenz unterschiedlicher Pole um den jeweils eigenen Vorteil weit überlegen.

Egon Bahr vermag hier nur -Schwäche zu erkennen: Es mangelt Europa an Bereitschaft aufzurüsten. Es mangelt an der Bereitschaft der Europäer, „für Europa zu sterben“. Wenn Bahr die unkriegerische Identität der Europäer konstatiert, dann nennt er diesen Zustand zwar zunächst „im Prinzip nicht änderungsbedürftig“, schränkt aber sogleich ein: die Friedensliebe sei „eine Verführung“, ja, sie sei der „Kern des europäischen Dilemmas“, denn „in Wirklichkeit kann Europa der Globalität nicht entkommen“. Und in der gehe es eben um „Blut“ und „Macht“ und „Machterweiterung“. Auch hier tappt Bahr in die Falle des Euronationalismus.

Ja, es stimmt: Das Militärische wird in Europas Außen- und Sicherheitspolitik immer nur eine unter- und nebengeordnete Rolle spielen. Bahrs Forderung nach Ausbau der militärischen Fähigkeiten – unterhalb der Stärke einer Invasionstruppe und immer an UN-Mandate gebunden – ist dabei durchaus richtig. Für die Stabilisierungsaufgaben, die Europa zukünftig verstärkt haben wird, sind moderate Fähigkeiten militärischer Art von Nutzen. Dennoch gilt es, die EU als vorrangig zivile Friedensmacht zu stärken und ihre zivilen, polizeilichen und militärischen Fähigkeiten weiter auszubauen und zu verzahnen.

Europa muss in seiner unmittelbaren Nachbarschaft so handlungsfähig sein, dass es zur Regelung der Konflikte auf dem Balkan nicht auf die militärischen Kapazitäten der USA angewiesen ist. Europa muss schneller bei Krisen wie dem Krieg zwischen Israel und Libanon – den die USA duldend gefördert haben – reagieren können. Deshalb bedarf es eines gemeinsamen europäischen Außenministers. Dafür muss die EU auf eine neue Grundlage gestellt werden – was zudem eine der Notwendigkeiten für eine Erweiterung und für die Legitimität weiterer Vertiefung ist.

Aber gerade damit Stabilisierungseinsätze wie z.B. der im Libanon erfolgreich sind, bedarf es eines politischen Umfelds, das sich nicht in die Konfrontation zwischen Westen und Süden, zwischen Christentum und Islam hineinziehen lässt. Deshalb ist die Integration einer gewandelten Türkei keine Überdehnung, sondern eine Bereicherung Europas. Der Interessenausgleich zum gegenseitigen Vorteil darf nicht nur gepredigt, sondern er muss täglich praktiziert werden.

Der wesentliche Unterschied zwischen Multipolarität und Multilateralismus ist eben jener: Die Herausforderungen der Welt werden nicht durch Deals ausschließlich zwischen den Polen der Welt zu bewältigen sein. Die G-8 plus Indien und China werden weder die Probleme des Klimawandels oder der Ressourcenkonkurrenz noch die der globalen Marginalisierung allein lösen können. Unter diesen Staaten ist noch nicht einmal ein Konsens zur globalen Abrüstung erreichbar. Zu einem wirklich multilateralen Vorgehen gibt es keine Alternative – so unzureichend und reformbedürftig das UN-System auch ist. Gerade das aber ist eine der großen Stärken der EU. Denn Europa ist praktizierte Multilateralität. Das europäische Politikmodell ist die Antwort auf das Ende der Bipolarität und das Scheitern des Unilateralismus. Es ist der chancenreichste Ansatz zur Lösung der großen Herausforderungen einer multipolar gewordenen Welt. Die Europäische Union dafür handlungsfähig zu machen, das ist die Herausforderung der Zeit.

Brauchen wir die NATO noch?

Gelingt dies, bekommt allerdings eine lieb gewordene Organisation ein Problem: die NATO. Als Verteidigungsbündnis gegen den Osten wird sie nicht mehr gebraucht. Europas Sicherheit wird es nur mit, nicht gegen Russland geben. Europa muss eine eigene Politik gegenüber Russland entwickeln. Es hat ein Interesse an einer strategischen Partnerschaft – wobei eine wirkliche strategische Partnerschaft erst auf der Basis gemeinsamer Werte, der Berücksichtigung gemeinsamer Interessen und in Kenntnis der unterschiedlichen Weltanschauungen beider Seiten entstehen kann.

Egon Bahrs Kritik an Vorschlägen zu einer Ausweitung der NATO in Richtung Asien ist zutreffend – aber nicht weitreichend genug. Reformierte Vereinte Nationen, eine handlungsfähige EU, die strikte Bindung von Stabilisierungseinsätzen an ein UN-Mandat – wenn sich das alles realisieren lässt, bleibt nicht mehr viel Platz für einen gut organisierten militärischen Auftragnehmer namens NATO. Ihm fehlen dann die Auftraggeber, und eine Selbstlegitimierung scheidet aus. Ihr Image als westliches, von den USA dominiertes Bündnis hat den Einsatz der NATO als Stabilisierungskraft schon im Nahen Osten ausgeschlossen. Ein – mögliches – Scheitern in Afghanistan würde ihr Schicksal besiegeln. Auch ihre Ausweitung vom Nordatlantik in den Südpazifik würde sie dann nicht mehr retten können.

Also: Brauchen wir die NATO noch? Das wird uns Egon Bahr in dem Aufsatz zu seinem 90. Geburtstag zu erläutern haben. Darauf freue ich mich.

JÜRGEN TRITTIN, geb. 1954, ist Vize-Fraktionsvorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
 

  • 1Egon Bahr: Europas strategische Interessen, Internationale Politik, April 2007, S. 86–97.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 112 - 128.

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