Nicht ohne Neu-Delhi
Eine neue Nachbarschaftsinitiative für Afghanistan
Eine „effektive Partnerschaft mit Pakistan“ sieht die neue Afghanistan-Strategie der USA vor. Aber Islamabad kann die Taliban nicht unter Kontrolle bringen. Schon sehr viel früher hätten die USA Staaten wie den Iran, die Türkei und Indien intensiver einbeziehen müssen.
Die Analyse, die die US-Generäle Stanley M. McChrystal und David H. Petraeus im Oktober letzten Jahres vorlegten, war glasklar: Die paschtunische Bevölkerungsmehrheit in Afghanistan, so McChrystal, hätte ungeheuerlich unter den Taliban gelitten – die Erinnerung daran und die Furcht vor Vergeltung bei einer Rückkehr der Taliban hielten sie davon ab, sich aktiv für die westlich geführte Friedensinitiative einzusetzen. Deshalb empfahlen die -Generäle einen Wechsel von einer offensiven zu einer defensiven Strategie. Anstatt die Taliban aktiv zu bekämpfen, sollten die westlichen Truppen lieber Schutzzonen um die Bevölkerungszentren errichten, um dort wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Dafür sei eine Aufstockung der Truppen erforderlich.
Viele kritisierten den Plan; er ließe, hieß es, den tief verwurzelten afghanischen Nationalismus außer Acht, der auch Nährboden der Taliban ist und unterschätze, wie schwierig es ist, Gebiete zu kontrollieren, die eben noch unter der Herrschaft von Guerilla-Milizen gestanden haben. US-Präsident Barack Obama gehörte nicht zu den Skeptikern. Gleichwohl brachte ihn die Forderung nach einer Truppenaufstockung in Verlegenheit. Wollte man den Paschtunen versichern, dass die USA lange genug bleiben würden, um Polizeikräfte aufzubauen und auszubilden, die selbst für Sicherheit sorgen können, dann war eine Truppenaufstockung unvermeidlich. Gleichzeitig sank in den USA die Zustimmung für einen Krieg, in dem immer mehr Soldaten in einem weit entfernten Land getötet werden. Die Demokraten waren entschlossen, eine Einsatzverlängerung in einem Krieg, der ihrer Ansicht nach nicht zu gewinnen war, zu verweigern. McChrystals Plan war acht Jahre zu spät gekommen.
Die Strategie, die Obama zwei Monate später verkündete, war ein unbequemer Kompromiss, der auf drei wesentlichen Elementen beruhte. Militärisch sollten die Voraussetzungen für eine Übergabe an die Afghanen geschaffen werden, zivile Helfer sollten den Aufbau fördern. Und schließlich war eine „effektive Partnerschaft mit Pakistan“ gefordert. Anstatt der geforderten Truppenaufstockung von 40 000 Soldaten, die weitere drei Jahre bleiben sollten, begrenzte Obama deren Anzahl auf 30 000 Soldaten und billigte nur 18 Monate bis zum Beginn des Abzugs zu.
Acht Monate sind seitdem vergangen, aber es sieht nicht so aus, als hätte die neue Strategie Erfolg. Die Attacken der Taliban sind regelmäßiger und schlagkräftiger geworden. Einige Territorien in den südlichen Provinzen wie Helmand und Kandahar konnten zwar zurückerobert werden, aber zu einem erschreckend hohen Preis. In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden 293 US- und NATO-Soldaten getötet. Fast alle Angehörigen des Sicherheitsapparats und eine große Anzahl der Angestellten in den Verwaltungsinstitutionen dieser Provinzen wurden von den Taliban getötet. Dass die Rekrutierung von Polizisten unter diesen Umständen äußerst schwierig ist, dürfte nicht überraschen. Mehreren Studien zufolge ist die afghanische Armee noch nicht in der Lage, erfahrene Aufständische zu bekämpfen.
Folglich konzentriert sich Obama auf die dritte Säule seiner Strategie. Der Übergang zu einer zivilen Regierung in Afghanistan soll wesentlich von Pakistan vorangetrieben werden. Diese neue Aufgabe Pakistans kündigte der Chef der pakistanischen Armee, General Aschfaq Pervez Kayani, ganz offiziell in einer Pressekonferenz am 1. Februar vor ausländischen Journalisten an. Seine Armee, so Kayani, sei in der Lage, eine Situation zu schaffen, in der sowohl die USA als auch Afghanistan als Sieger dastünden. Immerhin sei es der pakistanischen Armee auch gelungen, in der Provinz Süd-Waziristan den „Mythos von der Unbesiegbarkeit der Taliban“ zu zerstören. Es sei Pakistan aber auch nicht möglich, gab der General offen zu, einen Sieg für den Westen zu erringen, wenn seinem Land nicht die „nötige strategische Tiefe gewährt“ werde, um sich gegen den Erzfeind Indien zu verteidigen. Selbstverständlich benötigte es dafür einen freundlich gesonnenen Nachbarn, weshalb Pakistan darauf bestand, die afghanische Nationalarmee auszubilden und dort auch moderate pakistanische Taliban zu integrieren. Und noch eine Forderung stellte Kayani: Um zu gewährleisten, dass sich zukünftige Regime in Kabul vielleicht nicht durchgängig freundlich, aber wenigstens friedlich verhalten würden, müsste jedes kleinste Anzeichen eines indischen Einflusses unterbunden werden. Denn auch wenn Indien von afghanischem Boden aus keine direkten Aktionen gegen Pakistan initiieren würde, so sei schon allein eine indische Präsenz Anlass für ein Aufflackern des afghanischen Widerstands oder des paschtunischen Nationalismus. Eine solche Gefahr könne Pakistan nicht akzeptieren. Denn nach wie vor möchte Islamabad von einer paschtunischen Regierung in Kabul die Anerkennung der Durand-Linie als offizielle Grenze zwischen den beiden Ländern.
Kayanis Vorgaben wurden bisher gewissenhaft erfüllt. Auf Pakistans Drängen lud der türkische Präsident Abdullah Gül Indien nicht zu einem Gipfeltreffen in Istanbul ein, an dem alle Mitglieder der Kontaktgruppe teilnahmen, die Barack Obama im März 2009 gegründet hatte. Die USA schwiegen dazu. Auf der folgenden Konferenz, die wenige Tage später in London stattfand, durfte Indien zwar teilnehmen. Aber weder wurden Neu-Delhis Bedenken bezüglich der „Afpak-Strategie“ im Schlussdokument erwähnt noch – und das wäre viel wichtiger gewesen – fanden sie Eingang in die Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden.
Pakistan: Retter oder Saboteur?
In den acht Monaten, die seit der Umsetzung der neuen Afpak-Strategie vergangen sind, ist es den USA zwar gelungen, das Gesicht zu wahren. Für Afghanistan, Pakistan und das angrenzende Indien ist die Lage nur noch gefährlicher geworden. Die pakistanische Armee erzielte zwar beachtliche Anfangserfolge bei der Zersplitterung der pakistanischen Taliban, die in enger Verbindung zu Al-Kaida stehen. Auch konnte sie deren Quartiere im Swat-Tal und in Süd-Waziristan zerstören. Der Wunsch aber, dem afghanischen Sumpf endlich zu entkommen, blendet die Amerikaner. Sie übersehen, dass die Taliban nun in den gesamten Stammesgebieten verstreut sind, aber eben nicht besiegt wurden. Pakistan verfügt nicht über die militärischen Fähigkeiten, die von den Taliban „befreiten“ Gebiete auch dauerhaft zu kontrollieren. Der anfängliche Erfolg der Armee könnte also schnell zu Ende sein, zumal er langfristig vom Wohlwollen der lokalen Bevölkerung abhängt. Die mag die Armee zwar euphorisch begrüßt haben. Doch als die Bewohner nach der Offensive zurückkamen, ihre ärmliche Habe zerstört vorfanden und auch die versprochene Unterstützung mager ausfiel, kühlte sich diese Euphorie merklich ab. Die Taktik der pakistanischen Armee ist jedenfalls nicht dazu geeignet, sich Freunde in den Stammesgebieten zu machen. Da sie über keine ausreichende Anzahl von Bodenkräften verfügt, verlegt sie sich auf Luftangriffe, die naturgemäß zahlreiche zivile Opfer fordern. Wie viele es sind, ist nicht genau festzustellen, weil die pakistanische Regierung hartnäckig jede Auskunft verweigert. Kurzfristig mag eine solche Taktik Erfolge erzielen. Langfristig fördert sie nur den Extremismus. Die Taliban müssen nichts anderes tun als zu warten.
Die größere Gefahr droht jedoch in Afghanistan. Wenn Pakistan eine große Zahl von Paschtunen einschließlich pakistanischer Taliban in die afghanische Armee integrieren möchte, müssten zunächst zahlreiche Nichtpaschtunen entlassen werden, die momentan drei Viertel des afghanischen Armeekontingents stellen. Es ist kaum vorstellbar, dass dies ohne Widerstand, sowohl unter einfachen Soldaten als auch unter Offizieren, durchführbar ist. Dessen scheinen sich die USA allerdings nicht bewusst zu sein. Auf einer internationalen Konferenz in Madrid Anfang Juni bestätigte Richard Holbrooke, US-Sonderbeauftragter für Pakistan und Afghanistan, dass die USA keine Einwände gegen die Integration „moderater“ Taliban in afghanische Staatsorgane hätten.
Aus nachvollziehbaren Gründen ist die Regierung Hamid Karsais strikt gegen ein solches Vorhaben. Dass die USA aber so außergewöhnlich verschnupft auf die Unregelmäßigkeiten während der letzten Präsidentschaftswahlen reagierten, schränkte die ohnehin schon nicht sehr ausgeprägte Handlungsfähigkeit Karsais noch weiter ein. Die Strategie, Pakistan mit der Hilfe für den eigenständigen Aufbau Afghanistans zu beauftragen, hat ihn jedes Spielraums beraubt. So wurde Pakistan ermutigt, ein von Karsai sorgfältig vorbereitetes Friedensangebot mit den Taliban zu sabotieren.
Im Februar dieses Jahres nahmen pakistanische Kräfte den Militärchef der Taliban und Karsais wichtigsten Kontaktmann, Mullah Baradar, gefangen. Zusammen mit sechs weiteren Taliban-Führern wurde er an die Amerikaner ausgeliefert. Die Botschaft des pakistanischen Generalstabschefs Kayani an Präsident Karsai hätte klarer nicht ausfallen können: Allein Pakistan darf Friedensverhandlungen mit den Taliban führen. Dass Washington zu dieser Aktion vernehmlich schwieg und dass obendrein gezielt Informationen gestreut wurden, diese Aktion sei von langer Hand geplant worden, zeigte: Die USA richten sich eher nach Pakistan als umgekehrt.
Mit der Verhaftung Baradars begann eine Entwicklung in Afghanistan, die von den USA vermutlich nicht mehr aufzuhalten ist. Die Loya Jirga, die Karsai einberufen hatte, um den Taliban ein Friedensangebot zu unterbreiten, endete in einem Fiasko. Die Taliban griffen die Versammlung der Räte direkt an, und Hamid Karsai zeigte das ganze Ausmaß seiner Nervosität, als er in unmittelbarer Reaktion auf den Angriff seinen Innenminister Hanif Atmar und den Chef seines Geheimdiensts Amrullah Saleh entließ. Im Westen galten diese beiden Männer als die fähigsten Mitglieder der Karsai-Regierung. Saleh war vor allem für den Aufbau des afghanischen Geheimdiensts verantwortlich, auf den sich die US- und NATO-Streitkräfte verlassen. Haroun Mir, Politikberater und ehemaliger Mitstreiter von Achmed Schah Massud (dem Anführer der früheren Nordallianz), schloss daraus, dass „dies der Anfang des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung“ sei. Nicht überraschend sickern Nachrichten über eine Wiederbewaffnung der Warlords im Norden durch. Jeder Versuch, die Taliban wieder an die Macht zu bringen und die Nichtpaschtunen außen vor zu lassen, würde mit großer Sicherheit in einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs enden.
Verhandlungsbereite Taliban
Ein Bürgerkrieg erscheint unvermeidbar, sollten die Taliban wieder an die Macht kommen, ohne zuvor einen Frieden mit der jetzigen Regierung ausgehandelt zu haben. Und selbst wenn dies gelingen sollte, ist zweifelhaft, wie lange sie sich der pakistanischen Armee und den westlichen Kräften unterordnen werden. Außerdem gibt es kein Anzeichen dafür, dass eine paschtunisch dominierte Regierung in Kabul, seien es „moderate“ oder radikale Taliban, die Durand-Linie als Grenze zu Pakistan akzeptieren würde. Das könnte zu einem massiven Konflikt mit den Stammesgemeinschaften führen, an dessen Ende diese Stammesgebiete entweder Afghanistan einverleibt werden oder ein neuer paschtunischer Staat im Süden des Hindukusch entsteht. Und es könnte noch schlimmer kommen, wenn sich die paschtunischen Bewegungen in der nordwestlichen Grenzregion ausbreiten, während im Süden des Pundschab Al-Kaida größeren Zulauf erhält, die für die meisten Bombenanschläge in Pakistan verantwortlich ist. Wie Islamabad einen solchen „Doppelangriff“ überleben soll, ist derzeit nicht zu erkennen.
Was haben die USA und die NATO falsch gemacht? Kann das drohende Unheil noch abgewendet oder wenigstens in überschaubaren Grenzen gehalten werden? Die zahllosen Analysen, die dazu schon verfasst wurden, lassen zwei zentrale, weil ursächliche Fehler unberücksichtigt. Der erste Fehler war die Einführung einer demokratischen Regierung unter dem Schutz westlicher Truppen. So war es für die Taliban ein Leichtes, beständig die Nationalismuskarte zu spielen und die Regierung Karsai als westliche Marionette zu diskreditieren. Der zweite große Fehler war, sich allein auf Pakistan zu verlassen und andere mächtige Akteure wie Iran, Usbekistan und Indien bei der Suche nach einer Lösung nicht zu berücksichtigen. Dies beraubte alle nichtpaschtunischen Fraktionen in Afghanistan der moralischen und materiellen Unterstützung, auf die sie sich während des langen Bürgerkriegs mit den Taliban noch hatten verlassen können.
Noch bis zum letzten Jahr wäre es möglich gewesen, diese Fehler zu korrigieren. Man hätte zuerst eine große Loya Jirga abhalten können, gefolgt von einer Friedenskonferenz, so wie sie Karsai schon seit 2006 immer wieder angestrebt hat. Hätten die Taliban daran teilgenommen? Vor Dezember letzten Jahres, vor der neuen Afpak-Strategie wohl schon. Seit 2006 gab es die Bereitschaft, ein Tauschgeschäft auszuhandeln. Im September 2007 berichtete die New York Times, dass der Mentor der ursprünglichen Taliban, Maulana Falur Rahman, sofort bereit wäre, eine Regierung unter der im Dezember 2007 bei einem Attentat getöteten Benazir Bhutto zu unterstützen, hätte sie im Gegenzug versprochen, die USA zum Abzug aus Afghanistan zu bewegen.Hätte Bhutto dies nicht zugesichert, hätte auch Maulana Falur Rahman sein Angebot zurückgezogen, weil er sonst die Rache der Taliban hätte fürchten müssen. Ein paar Monate später stellte Taliban-Führer Mullah Omar die gleichen Bedingungen. Schließlich überraschte Irans Außenminister Manucher Mottaki während der Afghanistan-Konferenz in Den Haag im April letzten Jahres mit dem Angebot, den Frieden in Afghanistan fördern zu wollen – vorausgesetzt, es werde ein baldiger Abzug der amerikanischen und NATO-Truppen garantiert. Mit einem Angebot, die Kampfhandlungen sofort einzustellen, wenn alle afghanischen Fraktionen sich auf eine Friedenskonferenz geeinigt haben und nach Bildung einer neuen Regierung zügig, aber geordnet abzuziehen, hätten NATO und USA eine letzte Trumpfkarte in den Händen gehalten. Doch US-Präsident Obama verspielte sie, als er einen Truppenabzug für Juli 2011 ankündigte. Er nahm Karsai damit einen Einsatz, den er den Taliban im Gegenzug zu einem ausgehandelten Frieden hätte bieten können.
Eine Friedensinitiative muss von Staaten ausgehen, die mit Afghanistan benachbart oder befreundet sind, namentlich vom Iran, von Usbekistan, Tadschikistan, Indien und der Türkei. Pakistan müsste in dieser Gruppe natürlich eine Schlüsselfunktion zufallen. Schließlich könnte eine solche Gruppe zusammenarbeiten, wenn sie zunächst Pakistans Wunsch nach Anerkennung der Durand-Linie als Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan voll und ganz unterstützt.
Indien und die Türkei sind keine direkten Nachbarn, aber Indiens Präsenz in solch einer Gruppe ist essentiell, um der ehemaligen Nordallianz Sicherheit zu geben, dass die Versprechungen auch gehalten werden. Die Türkei wird am ehesten die Machtlücke füllen können, die durch den Abzug der USA und der NATO entstehen wird. Sie verfügt über starke Bindungen zum Iran und ist einer der treuesten und ältesten Verbündeten Pakistans. Ihre Präsenz in einer Nachbarinitiative würde das ökonomische und politische Gewicht Indiens ausgleichen und das Misstrauen Pakistans gegenüber Indien abschwächen.
Die Idee einer Nachbarinitiative ist nicht neu, wurde aber aufgrund der Weigerung des Westens, mit dem Iran zusammenzuarbeiten und wegen des Widerwillens der Pakistani, Indien eine Rolle spielen zu lassen, nie verwirklicht. Dies ist jedoch ein Luxus, den sich sowohl die Vereinigten Staaten als auch Pakistan nicht länger leisten können.
PREM SHANKAR JHA war Redakteur der Times of India und Visiting Scholar am Weatherhead Centre for International Affairs der Harvard University.
Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 26 - 31