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01. Okt. 2007

Neue Länder, alte Mythen

Mitteleuropa hat seine eigene Geschichte - das muss der Westen akzeptieren

Die westlichen Kernländer des europäischen Imperiums sind und bleiben das Vorbild, dem sich die Beitrittsländer anzupassen haben, erklärte WamS-Kommentarchef Alan Posener in der Ausgabe 9/2007 der IP. Doch was sagen eigentlich die Osteuropäer dazu – etwa, wenn es um die historische Legitimation der europäischen Einigung geht?

Jeder ordnungspolitische Entwurf sucht nach seiner eigenen historisch-politischen Legitimation, nach seiner eigenen Mythologie. Nicht anders verhält es sich mit der europäischen Integration. Vorbei die Zeiten, als sich der erste Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Walter Hallstein der Tatsache geradezu rühmte, dass die Europäische Gemeinschaft keine eigene Mythologie habe. In seinem Buch „Europa 1980“ schrieb er mit ersichtlichem Stolz: „Die Europäische Gemeinschaft hat keine Symbole, sie hat keine Flagge, keine Hymne, keine Parade und keinen Souverän. Sie hat keine Integrationsmittel, die die Sinne ansprechen, das Auge, das Ohr. Das entspricht dem Stil unserer Gemeinschaft, dem Stil der Sachlichkeit, der unpathetischen harten Arbeit.“ Wie gesagt: Diese Zeiten sind vorbei. Doch müsste nicht jeder Versuch einer Legitimation mittlerweile die Erfahrungen von nicht weniger als 27 Mitgliedsstaaten einbeziehen?

Es wimmelt von Symbolen

Heute wimmeln die Reden und Aussagen von Politikern aus EU-Ländern namentlich bei der Diskussion um eine Verfassung für Europa nur so von Symbolen, hehren Worten und historischen Bezügen. Es scheint, als hätten längst die Emotionen die Oberhand über die Vernunft gewonnen. Historische Argumente, die das bisherige Integrationsmodell begründen, sind hoch im Kurs. „Die Instrumentalisierung der Vergangenheit zwecks Legitimation und Zementierung der Gemeinschaft betrifft somit nicht nur die Nationalstaaten“, stellte der Politikwissenschaftler Fabrice Larat schon 2005 im German Law Journal fest. Larat spricht von einem europäischen Acquis historique, der sich aus einem Konvolut von Werten, Normen und Überzeugungen zusammensetze, die aus gemeinsamen historischen Erfahrungen resultierten. Mit Hilfe dieser Normen und Überzeugungen versuche die Union die Beziehungen unter den Mitgliedsstaaten und zu Drittländern zu evaluieren und zu regeln – und zuweilen gar zu steuern. „Anders als im gesamten Rechts- und Gesetzgebungssystem der Union, die im Acquis communautaire der Europäischen Union zusammengefasst sind, beinhalten die führenden Prinzipien des Acquis historique an sich keine Rechtsnormen und sind nur schwer vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar“, so Larat. „Und dennoch, wie beim Acquis communautaire, müssen Beitrittsländer (selbst wenn stärker im moralischen als im juristischen Sinne) die Prinzipien des Acquis historique akzeptieren.“

Worin bestehen diese Prinzipien? Werfen wir einen Blick auf die berühmte Erklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950, die oft als die „Gründungsurkunde der EU“ bezeichnet wird. Darin werden grundlegende Werte genannt, auf denen die europäische Integration fußen sollte: deutsch-französische Versöhnung, Frieden, Stabilität, Wirtschaftswachstum. In seiner Schrift „Pour l’Europe“ schildert Schuman seine Motive: „Als wir nach dem Krieg die ersten Richtlinien für eine europäische Politik formuliert und vorgestellt haben, waren alle, die daran beteiligt waren, überzeugt, dass die Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland für Europa das vornehmste Problem darstellt, und dass ohne Deutschland, ähnlich wie auch ohne Frankreich, der Aufbau Europas nicht möglich ist.“

Die politische Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bildete also die Grundlage einer Erklärung, die als Beginn einer neuen Philosophie interpretiert wurde, in der europäische Integration möglich ist, oder gar als besonderer Moment in der Weltgeschichte, in dem das Konzept des Nationalstaats überwunden wurde. Den neuen Mitgliedsländern, die in die Union mit ihren eigenen historischen Erfahrungen kommen, muss der Gedanke, dass man die Idee eines vereinten und friedlichen Europas auf den einen speziellen Fall der deutsch-französischen Versöhnung zurückführt, als provokativer Partikularismus und Paternalismus vorkommen, als aus Überheblichkeit resultierende Vereinfachung der europäischen Geschichte im Zeichen einer politischen Dominanz Frankreichs.

Von Münster nach Maastricht

Und so gibt es eine ganze Reihe von Elementen der gängigen EU-Mythologie, deren anachronistischer Charakter durch die Erweiterung der Europäischen Union um Länder Mittel- und Osteuropas offenbar wird. Nehmen wir nur einmal den Westfälischen Frieden, der die blutigen Religionskriege im 17. Jahrhundert weitgehend beendete. In Europa interpretiert man ihn häufig als den ersten Schritt auf dem Weg zur Integration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus dieser Perspektive erscheint die Entwicklung vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Europäischen Union als logischer Prozess, der vom vormodernen Europa mit christlichen Fundamenten über das moderne Konzept eines souveränen Staates bis hin zur heutigen EU als einer postsouveränen und postnationalen Organisation führt.

Das ist in mancherlei Hinsicht fragwürdig. Denn der Westfälische Frieden wird hier als Ereignis interpretiert, das – aufgrund des religiösen Charakters des Dreißigjährigen Krieges – in Europa zum definitiven Bruch mit dem Konzept einer christlichen, universellen Ordnung in der Außenpolitik geführt habe, die nun durch die Ordnung säkularisierter, souveräner und absolutistischer Staaten ersetzt worden sei. Doch die durch den Westfälischen Frieden in Europa etablierte Ordnung, die vom Prinzip des Kräftegleichgewichts zwischen absolutistischen Staaten gekennzeichnet war, entpuppte sich in Wirklichkeit als wenig immun gegen Angriffe starker Staaten gegen schwächere. Davon konnten sich insbesondere die Polen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überzeugen, als ihr Land nicht weniger als drei Mal geteilt wurde. Und im 19. Jahrhundert brachte diese Ordnung den Kolonialismus und den Nationalismus hervor, die später in zwei Weltkriege mündeten.

Der Westfälische Frieden läutete einerseits in Europa eine Epoche der definitiven Befreiung eines nun souveränen Staates von der Kirche ein, ebnete aber andererseits den Weg zu einem gefährlichen zwischenstaatlichen „Darwinismus“. Ein Heilmittel gegen diese Gefahren sollte die europäische Integration liefern, die – wie Joschka Fischer es in seiner Berliner Rede im Jahre 2000 nannte – einen Abschied vom Nationalstaat bedeuten müsse, der Europa zwei Weltkriege beschert hatte. Mit anderen Worten: Die europäische Integration stellt nicht nur eine Antwort auf die aus dem 17. Jahrhundert stammende Forderung nach Säkularisierung des politischen Lebens dar, sie ist auch und vor allem eine Reaktion auf das Scheitern der Idee eines souveränen Nationalstaats im 20. Jahrhundert.

Aus polnischer Perspektive klingt eine solche Auslegung der europäischen Geschichte fragwürdig. Die vermeintlich durch den Westfälischen Frieden etablierte Logik – der Übergang vom vormodernen, christlichen Europa über das moderne Europa souveräner Nationalstaaten bis hin zum unvermeidlichen Aufkommen eines postmodernen und vereinten Europas – greift in Polen nicht. Denn das neuzeitliche Modell des Territorialstaats mit einer souveränen zentralen Macht und einer strikten Trennung von Kirche und Staat hat hier nie Fuß gefasst. Als nach dem Dreißigjährigen Krieg in Westeuropa eine neue Ordnung gestaltet wurde, hielten in Mittel- und Osteuropa die Polen, Ruthenen, Ukrainer, Litauer und die in Ostpreußen lebenden Deutschen an ihrem eigenen Modell fest: friedliche Föderalisierung der Völker, multinationales Konzept der Staatsbürgerschaft und Präsenz von Religion im öffentlichen Leben.

Die Lesart eines Übergangs vom vormodernen zum modernen Europa und schließlich zum postnationalen Konzept der europäischen Integration beruht auf den spezifischen historischen Erfahrungen Frankreichs und Deutschlands als den führenden europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Der Glaube daran, dass die Entwicklung Deutschlands und Frankreichs repräsentativ für die Entwicklung Europas stehe, ist nach wie vor so dominant, dass der britische Diplomat Robert Cooper in seinem Buch „The Breaking of Nations“ bei seiner Analyse des Zerfalls der politischen Ordnung im neuzeitlichen Europa einem Ereignis wie den Teilungen Polens gar keine Beachtung schenkt und stattdessen den preußisch-französischen Krieg von 1871 als ausschlaggebend für das Ende des Gleichgewichts in Europa betrachtet. Doch wäre es zweifellos eine arg verkürzte Darstellung der europäischen Geschichte, wollte man die Bedeutung der europäischen Integration allein aus den nationalen Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert herleiten.

Am Anfang war die Aufklärung

Ein anderer häufig herangezogener historischer Bezugspunkt für die Integration Europas ist die Aufklärung. So stellte etwa EU-Kommissar Günther Verheugen in einem Interview mit der Internationalen Politik fest, er sei „dafür, dass jeder seiner Identität entsprechend in Europa leben soll, aber dass wir etwas gemeinsam haben müssen, ganz egal ob wir Christen, Juden, Muslime oder gar nichts sind: das klare Bekenntnis zu den Errungenschaften der europäischen Aufklärung. Daran führt kein Weg vorbei.“1 Für den früheren französischen Premierminister Jean-Pierre Raffarin nimmt Europa im Grunde mit der Aufklärung seinen Anfang: „Europa ist eine Idee, die seit der Epoche der Aufklärung nach Glück und Gerechtigkeit sucht.“2

Und auch Jürgen Habermas und Jacques Derrida erklärten auf dem Höhepunkt antiamerikanischer Proteste im Jahr 2003 in ihrem Manifest „Erneuerung Europas“ die Aufklärung zum Fundament des europäischen Bewusstseins. „Aufklärung“ wird hier und an anderer Stelle in der Spielart einer politischen und intellektuellen Erfahrung Frankreichs im 18. Jahrhundert definiert. Damit wird jedoch die entscheidende Tatsache außer Acht gelassen, dass es niemals nur die eine Aufklärung gab, die sich auf ganz Europa erstreckt hätte, sondern dass vielmehr mehrere Spielarten der Aufklärung nebeneinander existierten.

In ihrem Buch „The Roads to Modernity“ (2004) nennt die US-Philosophin Gertrude Himmelfarb drei Aufklärungstraditionen, die im europäischen Denken eine Rolle spielen: die französische Aufklärung der Vernunft, die britische Aufklärung der sozialen Tugend und die amerikanische Aufklärung der Freiheit. Es gibt also nicht die eine europäische Aufklärung, aus deren Ideen wir heute praktische Schlüsse für die Europäische Union ziehen könnten. So stehen etwa die radikalen Forderungen nach einer Verbannung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum, wie sie in der Diskussion über eine europäische Verfassung vorgebracht wurden, allein für die Tradition der französischen Aufklärung und im Widerspruch zu der britischen, amerikanischen oder polnischen. Allein die französische Aufklärung stellte den bewussten Versuch dar, in der europäischen Tradition eine Antithese zum Christentum zu etablieren. Erinnert sei hier nur an den führenden Vertreter der britischen Aufklärung, David Hume, der sich während seines Pariser Aufenthalts beschwerte, er werde in intellektuellen Salons und von den Enzyklopädisten als bigott angesehen, weil er sich weigere, das Christentum gänzlich zu verurteilen und zu verwerfen. In London dagegen wurde Hume wegen seiner Skepsis gegenüber der Religion als Quelle menschlichen Wissens als gefährlicher Atheist gehandelt.

Eine Frage von Krieg und Frieden

Das dritte historische Legitimationsmodell der europäischen Integration beruht auf den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Theoretiker der europäischen Integration sind sich darin einig, dass diese Erfahrung das Hauptmotiv für die Aufnahme des Integrationsprojekts in Westeuropa in den fünfziger Jahren darstellte, ja dass sich „das europäische Schicksal (...) nur dadurch ändern“ lasse, „dass man die Werte des europäischen Humanismus, der Aufklärung und der Demokratie wieder entdeckt“, so die Politikwissenschaftler Franz A. Mayer und Jan Palmowski. Oder, wie es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl einmal nannte: Die europäische Einigung sei eine „Frage von Krieg und Frieden“.

Auch wenn heute in Westeuropa die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg an Intensität deutlich verliert, so wird doch die Integration nach wie vor als demokratische Antwort der internationalen Rechtsgemeinschaft auf die immer wieder aufkommende Gefahr einer neuen Form des nationalsozialistischen Radikalismus in Europa angesehen. Kein Staat und keine Gesellschaft in Europa darf sich heute frei von einer solchen Gefahr wähnen, obwohl häufig angenommen wird, dass es bestimmte Nationen und Regionen Europas gebe (etwa in Osteuropa), die aufgrund ihrer Geschichte Gefahren dieser Art besonders stark ausgesetzt seien. Diese Gefahren können übrigens die verschiedensten Formen annehmen: vom Populismus und rechtsnationalem Radikalismus bis hin zu offen neofaschistischen Tendenzen. In dieser Perspektive ist die europäische Integration eine Form der institutionalisierten Wachsamkeit gegen eine Wiederholung der dunklen Erfahrungen aus der Vergangenheit. Seit eine Reihe von Ländern der Europäischen Union beigetreten sind, die jenseits des früheren „Eisernen Vorhangs“ liegen, scheint die Lesart der Integration als Antwort auf den Nationalsozialismus allein nicht ausreichend, um ein starkes und nachhaltiges Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Sie schließt nämlich die für die neuen Mitgliedsländer fundamentale Erfahrung mit dem kommunistischen Totalitarismus aus, der neben dem Nationalsozialismus die historische Erinnerung in diesem Teil Europas prägte.

Und doch scheint eine schlichte Erweiterung der bisher geltenden Auslegung um die Erfahrungen des Kommunismus nicht so einfach. Als die lettische Außenministerin Sandra Kalniete im Jahr 2004 in Deutschland feststellte, der Kommunismus sei ein ebenso verbrecherisches System wie der Nationalsozialismus gewesen, stieß sie auf massiven Widerspruch. Nicht anders die Europa-Abgeordneten aus Ungarn und Litauen, die einige Monate später die Forderung erhoben, neben dem Hakenkreuz auch Hammer und Sichel im öffentlichen Raum zu verbieten. Welch große Unterschiede in der Wahrnehmung des Kommunismus im Nachkriegseuropa zwischen den „alten“ und „neuen“ EU-Mitgliedsstaaten herrschen, haben nicht zuletzt die von Wladimir Putin in Moskau veranstalteten Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 gezeigt. Und so wurden allmählich im Westen Forderungen laut, dass „sich die Union aus reinem politischem Opportunismus der Leidensgeschichte der jüngsten Mitglieder nicht verschließen darf. Es ist Zeit, diese Geschichte endlich anzuerkennen, selbst wenn es manchmal schwer fällt zuzugeben, dass ihr einziges Kennzeichen das Leiden der Opfer ist, denn Gut und Böse vermengten sich miteinander dort, wo Völker zwischen zwei totalitäre Diktaturen geraten sind.“3

Demnach sollten sich nicht nur die neuen Mitglieder an den Acquis historique der Europäischen Union anpassen – dieser sollte vielmehr ihre spezifischen historischen Erfahrungen berücksichtigen. Das gelte, wie Fabrice Larat ausführt, nicht nur für den Sowjetimperialismus, sondern auch für Integrationsprojekte wie den Warschauer Pakt oder den RGW. Was aber, wenn es sich um ein Problem handelt, das über einen Konflikt unterschiedlicher Erinnerungsformen hinausgeht? Wenn die Geschichte lediglich die Begründung für unterschiedliche Ansätze in einer weitaus grundlegenderen Frage liefern soll – und zwar in der Frage einer unterschiedlichen Philosophie beim Umgang mit dem gemeinsamen öffentlichen Raum? Wenn, ja wenn dem tatsächlich so wäre: Dann wäre eine einfache Erweiterung des Acquis historique wohl kaum imstande, den Konflikt zu lösen.

Dr. MAREK A. CICHOCKI, geb. 1966, ist Programmdirektor am Europäischen Zentrum Natolin in Warschau und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Warschau. Seit 2006 ist er Berater für EU-Angelegenheiten des polnischen Präsidenten.

  • 1nterview mit Günter Verheugen: „Europa muss Weltmacht werden!“, Internationale Politik, Januar 2005, S. 34–43.
  • 2Rzeczpospolita, 15.1.2004.
  • 3So Reinhard Veser in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1.3.2005.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 64 - 70.

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