Internationale Presse

06. Aug. 2011

Nach Fukushima

Presseschau

Reaktionen aus den USA, Großbritannien, der Türkei, Polen und Weißrussland auf das Reaktorunglück in Japan

„Vergleichsweise nüchtern“

Die erste Reaktion von Barack Obama auf die Reaktorkatastrophe in Japan Mitte März war ein Hinweis, dass jede Form der Energieerzeugung ihre eigenen Risiken berge. „Wir erinnern uns alle noch an den Ölteppich im Golf von Mexiko“, sagte der Präsident – im Frühjahr 2010 war dort die Ölbohrplattform „Deepwater Horizon“ explodiert, elf Menschen kamen dabei ums Leben. Am 30. März hielt Obama dann eine Grundsatzrede, in der er ankündigte, die USA wollten ihre Abhängigkeit von ausländischem Öl bis 2025 um ein Drittel verringern. Dies soll laut Obama ausdrücklich auch durch die Nutzung der Atomenergie geschehen. Heute stammen immerhin 20 Prozent der amerikanischen Elektrizität aus Kernreaktoren.

Wie populär ist die Haltung des Präsidenten? Die USA sind eine quirlige, lebendige Demokratie, in der heftig gestritten wird. Ökologisches Bewusstsein ist den Amerikanern nicht fremd, Massenpanik ebenso wenig. In Texas kam es zu Hamsterkäufen, viele Kalifornier schluckten Jodtabletten. Der New Yorker brachte am 28. März gleich zwei Artikel, in denen mit der Atomindustrie abgerechnet wurde; einer stammte aus der Feder des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe. Andererseits blieb die New York Times, bekanntlich kein konservatives Blatt, in ihrer Berichterstattung bemerkenswert kühl. Es sei eine Tatsache, schrieb Kate Galbraith, dass Atomkraftwerke „in dem halben Jahrhundert ihres Bestehens weniger Menschenleben gekostet haben als eine andere Methode der Energieerzeugung: Kohle“. Galbraith spricht damit für eine ganze Fraktion der  amerikanischen Grünen, die auf Atomenergie setzt, weil sie fürchtet, die Verbrennung von fossilen Brennstoffen werde direkt in die Klimakatastrophe führen. Die vergleichsweise nüchterne Reaktion der Amerikaner mag auch damit zu tun haben, dass die Bilder aus Japan bei ihnen eher Erinnerungen an Harrisburg als an Tschernobyl wachrufen. Die Kernschmelze von Harrisburg in Pennsylvania kostete 1979 Abermillionen Dollar – aber zum Glück kein einziges Menschenleben.

Hannes Stein lebt als Korrespondent der „Welt“ in New York.

„Apokalypse? Welche Apokalypse?“

Angst vor Atomkraft? Nein danke. So ungefähr lassen sich die Reaktionen in Großbritanniens Medien und Öffentlichkeit auf das Reaktorunglück von Fukushima beschreiben. Zwar trugen auch hier manche Boulevardblätter dick auf, allen voran die auflagenstarke Sun, die das Bild eines brennenden Reaktors mit der überdrehten Schlagzeile „Apocalypse“ kombinierte. Doch insgesamt gaben Stimmen, die zur Besonnenheit mahnten, den Ton an. „Bei einem ernst zu nehmenden nuklearen Zwischenfall wird Panik über Vernunft siegen, es sei denn, es gibt jemanden, der vertrauenswürdig und kenntnisreich genug ist, um der Vernunft das Wort zu reden“, mahnte etwa der konservative Daily Telegraph. „Fälle wie dieser bedürfen einer guten Risikoanalyse, die an die Medien weitergereicht werden kann, um die Debatte zu beruhigen. Was Japan, der Europäischen Kommission und Deutschland fehlte, war die Autorität eines wissenschaftlichen Beraters, der der Panik entgegentreten und die wirklichen Probleme aufzeigen kann.“

Als drittälteste Nuklearmacht der Welt nach den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion/Russland hat Großbritannien traditionell ein weit positiveres Verhältnis zur Atomenergie als etwa Deutschland. Auch unter dem direkten Eindruck der Fukushima-Katastrophe sprachen sich die Briten mehrheitlich für ein Festhalten an der Atomenergie aus (35 gegenüber 28 Prozent), wenngleich die Marge im vergangenen November noch ungleich deutlicher ausgefallen war (47 gegenüber 19 Prozent).

Allerdings kündigte die Regierung von David Cameron eine Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen in britischen Atomanlagen an, die derzeit ein Fünftel der Stromversorgung des Landes sichern. Das könnte Großbritanniens Energiepolitik, die ohnehin nicht durch brillante langfristige Planung auffällt, weiter verkomplizieren. Denn bis spätestens 2023 muss das Land alle bis auf einen seiner Atommeiler aus Altersgründen abschalten, das Bauprogramm für acht neue Atomkraftwerke, das eigentlich ausschließlich privatwirtschaftlich finanziert werden sollte, hinkt hinterher und könnte sich weiter verteuern – und das in Zeiten, in denen Großbritanniens Regierung das tiefgreifendste Sparprogramm seit Jahrzehnten aufgelegt hat.

Dr. Henning Hoff lebt als freier Journalist in London.

„Proteste gegen ignorante Regierung“

Die Reaktion war typisch für Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Während alle Welt über Konsequenzen aus dem Nuklearunfall in Fukushima nachdachte, bekräftigte er bei einem Besuch in Moskau die Verabredung über den Bau eines russischen Atommeilers in der Türkei. Schließlich, so sein Energieminister, sei das havarierte AKW in Japan ja ein altes Modell und keineswegs mit dem vergleichbar, das die Russen nun an der türkischen Mittelmeerküste bauen wollten.

Obwohl es in der Türkei bislang keine nennenswerte Anti-AKW-Bewegung gibt, stieß die Ignoranz der Regierung doch auf erheblichen Protest. Der begann in der Kleinstadt Akkuyu, in deren unmittelbarer Nähe der Reaktor entstehen soll, und wurde von Greenpeace Türkei in den Rest des Landes getragen. Die Bevölkerung in Akkuyu war bis zum Unfall in Fukushima mehrheitlich für den Bau des avisierten Atommeilers, weil man ihr Arbeit und Einkommen versprochen hatte. Jetzt ist den Menschen offenbar erstmals richtig bewusst geworden, was ein Atomkraftwerk in unmittelbarer Nähe bedeuten kann.

Tatsächlich ist Akkuyu ein uraltes Projekt, mit dem sich wechselnde Regierungen seit 30 Jahren beschäftigen. Doch entweder fehlte das Geld für den Bau oder ein Gericht gab den Klagen von Umweltverbänden statt. Denn Akkuyu hat neben allen anderen Problemen von AKWs im Allgemeinen einen speziellen gravierenden Nachteil. Der Standort liegt nur 25 Kilometer von einer Erdbebenbruchlinie entfernt, von der man heute weiß, dass es an ihr durchaus zu Erdbeben kommen kann. Die Regierung, so Necdet Pamir, energiepolitischer Sprecher der Opposition, halte nur deshalb an Akkuyu fest, weil die Planfeststellungsverfahren dort alle abgeschlossen seien und deshalb einen schnellen Baubeginn ermöglichten.

Die Regierung von Tayyip Erdogan will sich aber nicht mit einem AKW begnügen. Es werden weitere Standorte geprüft. Einer davon, in Sinop am Schwarzen Meer, ist bereits in die engere Auswahl gekommen. Hier sucht die Regierung nach einem Partner, und just als Fukushima brannte, war eine Delegation von Tepco in Ankara, um über den Bau eines Kraftwerks in Sinop zu verhandeln. Umweltverbände und die größte Oppositionspartei CHP fordern dagegen, das Land solle lieber seine Ressourcen in den erneuerbaren Energien nutzen. „Die Türkei hat enorme Möglichkeiten beim Ausbau von Wind- und Wasserkraftwerken und bislang völlig ungenutzte Möglichkeiten bei der Sonnenenergie“, listet Necdet Pamir auf. Für den Fall eines Wahlsiegs seiner Partei im Juni verspricht er eine neue Energiepolitik.

Jürgen Gottschlich arbeitet als Korrespondent u.a. für die taz und den Standard in Istanbul.

„Vertrauen nicht nachhaltig erschüttert“

In Polen hat die Katastrophe von Fukushima das Vertrauen in die Atomenergie noch nicht nachhaltig erschüttert. Das gilt besonders für die liberal-konservative Regierung von Premier Donald Tusk, die an ihren Plänen für den Bau von AKWs unbedingt festhalten will. Tusk erklärte, man werde den gesunden Menschenverstand nicht abschalten. „Ein Verzicht auf den Bau wäre eine Rückkehr in die Steinzeit“, wird der Premier zitiert.

Die Regierung hat dem Parlament bereits ein entsprechendes Gesetzespaket zugeleitet. Das erste AKW soll 2020 ans Netz gehen, ein zweites ist ebenfalls geplant. Die Gesamtkosten des Programms sind mit 25 Milliarden Euro veranschlagt. Die Regierung und andere AKW-Befürworter sehen die Atomkraft als wichtiges Mittel, die hohe Abhängigkeit der Energiewirtschaft von der Kohle und von russischen Energieträgern zu reduzieren. Da 90 Prozent des verbrauchten Stroms aus einheimischen Kohlekraftwerken stammen, werde man kaum in der Lage sein, die von der EU formulierten Ziele für die Senkung des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Und fast zwei Drittel der jährlich verbrauchten knapp 15 Milliarden Kubikmeter Erdgas kommen aus Russland.

Doch es gibt auch kritische Stimmen. In einer ersten Parlamentsdebatte über das Gesetzespaket der Regierung wies Mirosław Pawlak von der mitregierenden Bauernpartei PSL darauf hin, dass sich die internationale Wissenschaft nach dem Unfall von Fukushima verstärkt mit der Entwicklung alternativer Energietechnologien befasse. Die Abgeordnete Gabriela Masłowska von der oppositionellen nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit fragte: „Weiß dieRegierung nicht, dass die Uranvorräte zu Ende gehen?“ Und der linke Oppositionspolitiker Grzegorz Napieralski wies darauf hin, dass mit Energiesparen und einer Modernisierung der Stromnetze einiges zu erreichen wäre – gingen doch jährlich etwa 40 Prozent der in Polen produzierten Energie durch schadhafte Netze verloren. Allerdings befürwortet bislang eine Mehrheit beider Parteien den Bau von AKWs.

Kritische Journalisten melden sich zu Wort. „Ich bin skeptisch gegenüber dem Programm zur Entwicklung der Atomenergie“, schrieb Edwin Bendyk von der Wochenzeitung Polityka. Die amerikanische, auch in Polen publizierende Journalistin Anne Applebaum, Gattin von Außenminister Radek Sikorski, stellte kategorisch fest: „Ich will keine Atomenergie mehr.“ Und auch vor der Bevölkerung, laut einer Umfrage des Instituts CBOS noch im September 2009 zu 50 Prozent für den Bau von AKWs, scheint die weltweit steigende Skepsis gegenüber der Atomenergie nicht haltgemacht zu haben, nach Angaben eines PSL-Abgeordneten ist der Anteil der Befürworter auf 30 Prozent geschrumpft. Vielleicht ist ja das letzte Wort noch nicht gesprochen. Schon vor über 20 Jahren hatten Proteste verhindert, dass ein AKW in Zarnowiec nahe Danzig gebaut wurde.

Reinhold Vetter ist Handelsblatt-Korrespondent für Ostmittel- und Südosteuropa.

„Beherrschbare Risiken“

70 Prozent des radioaktiven Fallouts, den die Katastrophe im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986 verursachte, gingen über Weißrussland nieder. Ein Viertel der Bevölkerung war von der radioaktiven Wolke betroffen, 400 Dörfer mussten fast vollständig evakuiert werden. Bis heute können 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aufgrund der Verstrahlung nicht genutzt werden. Da das diktatorische weißrussische Regime kein Interesse an der Veröffentlichung von Zahlen hat, weiß man wenig darüber, wie viele Menschen in Folge von Tschernobyl erkrankt, gestorben sind oder sich das Leben genommen haben. Aber Experten sind sich einig, dass Tschernobyl eine tiefgreifende Katastrophe war, die die Sozialstruktur, die Kultur und die Wirtschaft Weißrusslands bis heute entscheidend prägt. Dennoch gibt es keine Anti-Atom-Bewegung. „Die Atompolitik unserer Regierung hat bei uns kaum das Potenzial, die Menschen politisch zu mobilisieren“, erklärte der Vorsitzende der Grünen Juri Hluschakou im Oktober 2010 in Berlin. Atomkritische Stimmen kommen, wenn überhaupt, aus zivilgesellschaftlichen
und oppositionellen Kreisen, haben aber kaum die Möglichkeit, von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

Das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko reagierte demonstrativ gelassen auf die Katastrophe von Fukushima. Schließlich plant man gerade den Bau eines neuen Atommeilers 50 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt – mit russischer Technik. Russlands Premier Wladimir Putin war Mitte März nach Minsk gereist, um die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen. „Wir arbeiten mit der neuesten Sicherheitstechnik“, erklärte Putin in Minsk. „Japans Reaktoren sind schließlich 40 Jahre alte amerikanische Reaktoren.“ Auch Vizepremier Uladzimir Sjamaschka zerstreute alle Bedenken. „Wir haben alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen bedacht“, so Sjamaschka.

In unabhängigen Medien wie Nasha Niva (Unser Acker) oder beim Radiosender Svaboda diskutierten Experten, wie sicher Atomtechnik ist, welche gesundheitlichen Folgen radioaktive Verstrahlung haben kann und ob in Weißrussland ähnlich starke Erdbeben wie in Japan zu erwarten sind. Debatten gegen die Atomenergie? Fehlanzeige. Allerdings ist die Opposition auch gerade mit einem anderen Kampf beschäftigt: dem um die eigene Existenz. Warum die Atomenergie ausgerechnet in Weißrussland so wenig Bedenken hervorzurufen scheint? Die Tschernobyl-Katastrophe werde wesentlich auf die Schwächen des Sowjetsystems zurückgeführt, erklärt Astrid Sahm, Direktorin der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk. „Deswegen erscheinen die Risiken bei Anwendung moderner Technik beherrschbar.“

Ingo Petz lebt als Journalist und Autor in Berlin. Er bereist Weißrussland seit über 15 Jahren.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 132-136

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