IP

01. Okt. 2006

Vergangenheit als Spielmünze

Warschau zwischen konservativer Geschichtdeutung und modernem Patriotismus

Die seit November 2005 in Polen regierenden Nationalkonservativen nutzen ihre Interpretation der Geschichte für die innenpolitische Auseinandersetzung. Doch in der polnischen Öffentlichkeit wird diese Instrumentalisierung kritisch hinterfragt. Historiker fordern eine selbstreflexive Geschichtsaneignung und die Anerkennung unterschiedlicher Deutungen. Ein zeitgemäßerer Patriotismus zeigt sich in der jüngeren Generation.

Schon immer war Geschichte in Polen sehr lebendig. Das Gedenken an historische Ereignisse und deren Protagonisten spielt eine wichtige Rolle im Leben der Bürger. Die Fremdherrschaft Preußens, Russlands und Österreichs im 19. Jahrhundert, die Wiedergeburt des Staates am Ende des Ersten Weltkriegs, der Überfall der Wehrmacht und der Roten Armee 1939, die finsteren Jahre des Stalinismus, schließlich das Entstehen der Solidarnosc 1980 und der Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989 – all das ist fest im kollektiven Bewusstsein der Polen verankert. Diese unmittelbare Nähe von Geschichte führt nicht selten dazu, dass Politiker ihr Handeln, das eigentlich aktuelle Beweggründe hat, nur von kontroversen historischen Einschätzungen abhängig machen.

Jüngstes Beispiel dafür waren die polnischen Reaktionen auf die Eröffnung der Ausstellung „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen und dessen Vorsitzender Erika Steinbach in Berlin, die den Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts, vorrangig der Deutschen aus Polen ab 1945, gewidmet ist. So sagte der Warschauer Stadtpräsident und ehemalige polnische Premier Kazimierz Marcinkiewicz kurzfristig einen Besuch in Berlin ab, der eigentlich der Städtepartnerschaft zwischen der deutschen Hauptstadt und Warschau gewidmet war. Ein Besuch zu diesem Zeitpunkt, so Marcinkiewicz mit Blick auf die Ausstellung, könne in Polen missverstanden werden. Dem Warschauer Stadtoberhaupt ging es dabei wohl weniger um die inhaltliche Gestaltung der Ausstellung. Vielmehr resultierte seine Absage aus dem Wissen, dass es nicht wenige polnische Bürger gibt, die Initiativen wie die Ausstellung als den Versuch der Deutschen interpretieren, die Rolle des Tätervolks endgültig abzulegen und sich vorrangig als Opfer des Zweiten Weltkriegs anzusehen. Marcinkiewicz wollte sich nicht dem Verdacht aussetzen, diesen vermeintlichen Sinneswandel der Deutschen durch einen Besuch in Berlin indirekt zu respektieren.

Vielstimmige historische Erinnerung

Die Politisierung von Geschichte in Polen ist nicht zuletzt ein Relikt aus sozialistischen Zeiten. Die früheren kommunistischen Machthaber waren darin geübt, historische Ereignisse ausschließlich aus ihrer ideologisch verengten Perspektive zu betrachten und daraus politisches Handeln abzuleiten. Diese Praxis blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Denken der Bürger und die Arbeit von Historikern. „Die Jahre der Diktatur haben bewirkt, dass wir uns bis heute schwer damit abfinden können, dass in einem demokratischen Staat, in einer Massengesellschaft, historische Erinnerung vielstimmig und dynamisch ist und oft dem Profitprinzip untergeordnet wird“, schreibt die Historikerin Anna Wolff-Powska.1

Trotz dieser fatalen Erbschaft hat die Beschäftigung mit Geschichte in Polen nach dem Systemwechsel 1989 eine neue Qualität erreicht. Auf der wissenschaftlichen Ebene führte dies zur Nutzung bislang verschlossener Quellen und zur Erforschung bis dato tabuisierter historischer Phänomene. Dazu zählt nicht zuletzt die Vertreibung der Deutschen aus Polen ab 1945, die inzwischen zu den am besten erforschten zeitgeschichtlichen Ereignissen zählt. Polnische Historiker wie Wlodzimierz Borodziej haben in diesem Zusammenhang Beachtliches geleistet.

Die neue Freiheit des Forschens hat in Polen wie in allen postkommunistischen Ländern auch dazu geführt, dass gerade die Rebellionen gegen das damalige System inzwischen unterschiedlich bewertet werden und bis heute Quelle politischer Auseinandersetzungen sind. Das gilt für den ungarischen Aufstand von 1956 ebenso wie für den Prager Frühling 1968 und die 1980 entstandene freie polnische Gewerkschaft Solidarnosc. Nach und nach findet die wissenschaftliche Arbeit, die in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren geleistet wurde, auch Niederschlag in den Geschichtsbüchern und beeinflusst das historische Bewusstsein der Bürger.

Auffallend ist, dass die öffentliche Beschäftigung mit Geschichte in Polen in den letzten zwei Jahren noch intensiver geworden ist. Die Medien befassen sich ausführlich wie selten zuvor mit historischen Themen, und die nationalkonservativ geführte Regierung entwirft ein geschichtsträchtiges Projekt nach dem nächsten. Vordergründig hat diese Welle viel mit der Häufung von Gedenktagen zu tun. Es begann im Jahr 2004 mit dem 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands gegen deutsche Fremdherrschaft und die sowjetische Bedrohung. Ein Jahr später wurde der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau sowie des Kriegsendes gedacht. Den Tod von Papst Johannes Paul II. im April 2005 empfanden viele Polen als Zäsur, die zum Nachdenken über die Epoche anregte, in der ein Landsmann Oberhaupt der katholischen Weltkirche war. Im laufenden Jahr spielen vor allem historische Ereignisse der Nachkriegsjahrzehnte eine Rolle, insbesondere das antijüdische Pogrom in Kielce 1946, die Revolte gegen den Stalinismus 1956 besonders in Posen, die Herausbildung der demokratischen Opposition um Jacek Kuron und Adam Michnik 1976 und die Arbeiterproteste in Radom und Ursus im selben Jahr.2

Aber nicht nur die Fülle geschichtsträchtiger Daten, auch die deutsche Geschichtsdebatte und die vom Kreml inszenierte imperiale Würdigung der historischen Größe Russlands sorgten in Polen für Diskussionsstoff und für eine noch stärkere Konzentration auf die eigene nationale Geschichte beziehungsweise auf das, was die beiden großen Nachbarn der polnischen Nation angetan haben. Eher misstrauisch verfolgte man die öffentliche deutsche Erinnerung an die Bombennächte etwa in Dresden, das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen und die leidvollen Erfahrungen der deutschen Vertriebenen. Wie schon erwähnt, konnten sich viele Polen des Verdachts nicht erwehren, die Deutschen würden sich inzwischen mehr als Opfer denn als Täter des Zweiten Weltkriegs begreifen. Offenbar wolle man in Deutschland Geschichte umschreiben, hieß es vielfach. Das pompöse Geschichtsgetue in Moskau wiederum weckte alte Ängste vor dem russischen Eroberer.

Die Transformation: eine Niederlage?

Doch der wichtigste Grund für die heutige Allgegenwart der Historie ist die Geschichtspolitik der regierenden Nationalkonservativen um die Brüder Kaczynski und ihrer Koalitionspartner, insbesondere der rechtsradikalen Liga Polskich Rodzin (Liga polnischer Familien) um Roman Giertych. Sie nutzen ihre spezifische Bewertung historischer Perioden und Ereignisse als Legitimation für ihre heutige Innen- und Außenpolitik sowie ihre geschichtspolitischen Aktionen. Besonders deutlich wird dies an ihrer einseitigen Beurteilung der Transformations- und Reformperiode seit 1989, die sie weitgehend als Niederlage und vergeudete Zeit begreifen, weil sie ihrer Meinung nach nicht zur Liquidierung korrupter, ja krimineller postkommunistischer Seilschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geführt habe.3 Nun gibt es durchaus ein beträchtliches Maß an Korruption in Polen, sind die Übergänge zwischen Politik und organisierter Kriminalität fließend. Doch ist dies keine Spezialität der postkommunistischen Linken, auch konservative bis rechtsradikale Kräfte sind involviert.

In ihrem Buch „Macht, Privilegien, Korruption“ hat die polnische Soziologin Maria Jarosz nachgewiesen, dass alle polnischen Regierungen nach 1989, linke wie rechte, gerade die großen staatlichen oder mehrheitlich staatlichen Unternehmen als Pfründen benutzt haben. „Staatliche Gesellschaften sind en passant der wirtschaftliche Rückhalt der an der Macht befindlichen Parteien: eine Quelle von Vermögen und Kapital, das man in private, von Parteien kontrollierte Gesellschaften transferieren kann, und eine Ballung von Posten für die politische Klientel“, schreibt Jarosz.4 Allerdings sind viele Polen nicht einverstanden mit der Einschätzung der Nationalkonservativen, wonach die Periode seit dem Systemwechsel vor allem als Kette von Niederlagen anzusehen sei. Sie bewerten diese 17 Jahre hauptsächlich als Phase erfolgreicher demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen, die Polen zum respektierten Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft gemacht haben. Natürlich sieht sich ein Teil der Gesellschaft weiterhin als Verlierer der Transformation.

Anschauungsunterricht für den politisch motivierten einseitigen Blick der Nationalkonservativen auf die Geschichte bietet unter anderem auch das Museum des Warschauer Aufstands von 1944, das auf Betreiben des früheren Warschauer Stadtpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Lech Kaczynski vor einigen Jahren eingerichtet wurde. Robert Traba und andere polnische Historiker meinen, dass das Museum die damaligen konkreten Ereignisse sehr gut dokumentiere, andererseits aber die gesamte Tragik des erfolglosen Aufstands und die seither geführte Diskussion über Sinn und Unsinn dieser äußerst verlustreichen Erhebung nicht reflektiere. Auf diese Weise, so heißt es, festige man zwar den Mythos des allzeit heldenhaft kämpfenden polnischen Volkes, trage aber wenig zu einer selbstbewussten, kritischen Aneignung der Vergangenheit bei.5

Wurde die Solidarnosc nicht genug gewürdigt?

Die Geschichtspolitik der Nationalkonservativen stützt sich nicht zuletzt auf die fragwürdige These von Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten wie Zdzislaw Krasnodebski, Marek A. Cichocki, Dariusz Gawin, Robert Kostro und Kazimierz M. Ujazdowski, zwischen 1989 und 2005 habe es keine ausreichende Würdigung historischer Ereignisse wie etwa des Kampfes der 1980 gegründeten Solidarnosc gegen die kommunistische Diktatur gegeben.6 Die Genannten machen besonders die aus der ehemaligen demokratischen Opposition hervorgegangen Eliten, also Politiker und Publizisten wie Adam Michnik, sowie die Postkommunisten der polnischen Sozialdemokratie dafür verantwortlich, dass es einen, wie sie glauben, nationalen Gedächtnisschwund gebe und die historische Bildung schwach sei. Allein ein Blick in die Medienarchive vermittelt eher ein gegenteiliges Bild. Gerade Michnik zählt zu denjenigen, die immer wieder versuchten, historische Themen ins Blickfeld der polnischen und auch der internationalen Öffentlichkeit zu rücken. Ihrem Bemühen ist es auch zu verdanken, dass historisch Interessierte in Deutschland sehr genau wissen, dass die Solidarnosc ganz wesentlich zum Sturz des Kommunismus in Ostmitteleuropa und damit auch zur deutschen Einigung beigetragen hat. Wenn der historische Kenntnisstand vieler Bürger in Polen zum Teil große Mängel aufweist, dann geht das auf das Konto aller politisch und pädagogisch Verantwortlichen, die sich seit 1989 mit der Vermittlung von Geschichtskenntnissen befasst haben, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Orientierung.

Die Geschichtspolitik der Nationalkonservativen um die Brüder Kaczynski und der mit ihnen regierenden „Liga polnischer Familien“  manifestiert sich vor allem in einer Vielzahl von Projekten, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Dazu zählen insbesondere der Bau eines Museums der polnischen Geschichte, die Einrichtung eines Instituts für nationale Erziehung und verschiedene Gesetzesprojekte zur Reform des Bildungssystems. Das Kulturministerium will Historienfilme besonders fördern. Auch Regional- und Lokalverwaltungen, in denen die Nationalkonservativen das Sagen haben, basteln an geschichtspolitisch motivierten Projekten wie dem geplanten Wiederaufbau des Sächsischen Palais am Piłsudski Platz in Warschau. Neben diesen parteipolitisch motivierten Anstrengungen gibt es eine Reihe von Initiativen, die von überparteilichen gesellschaftlichen Gruppen beziehungsweise von einzelnen Religionsgemeinschaften ergriffen wurden. So plant man in Danzig ein Dokumentationszentrum für die Gewerkschaft Solidarnosc, und in Warschau soll ein Museum der Geschichte der polnischen Juden entstehen.

Erziehung als Propaganda

Erklärtes Ziel der Nationalkonservativen und ihrer Koalitionspartner ist es, das patriotische Bewusstsein der Bürger zu stärken. Sie fürchten, die Integration Polens in die Europäische Union, die Verflechtung der polnischen Volkswirtschaft mit dem Weltmarkt sowie der wachsende Einfluss westlicher Kultur und Lebensweisen könnten die nationale Identität und die Verbundenheit der Bürger mit der polnischen Geschichte gefährden. Dabei folgen sie einem rückwärtsgewandten Patriotismusbegriff, der im Wesentlichen das Erinnern an große Ereignisse der polnischen Geschichte im 18., 19. und 20. Jahrhundert, den Stolz auf Siege und die Trauer über Niederlagen beinhaltet, nicht aber die Würdigung der durch gemeinsame Anstrengungen nach 1989 durchgesetzten demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen, aus der Kraft und Selbstvertrauen zur Bewältigung künftiger Aufgaben geschöpft werden könnten. Der Patriotismus der Nationalkonservativen basiert auf affirmativer statt kritisch reflektierender Aneignung der Geschichte. Die Nation erschütternde Debatten wie die vor einigen Jahren landesweit geführte Diskussion über das antijüdische Pogrom im ostpolnischen Jedwabne während des Zweiten Weltkriegs sind ihnen ein Gräuel. Sie weigern sich auch, nationenübergreifende Phänomene wie etwa den Antisemitismus in ihren europäischen und internationalen Zusammenhängen zu diskutieren.

Umfragen haben ergeben, dass viele Polen, gerade weltoffene, gebildete junge Menschen, durchaus patriotisch denken.7 Ihr Stolz auf das eigene Land und die Persönlichkeiten, die es hervorgebracht hat, zeigte sich nicht zuletzt bei der Trauer über den Tod von Johannes Paul II. Auch die Bereitschaft vieler Polen, aktiv bei der weiteren Modernisierung ihres Landes mitzuarbeiten, kann man als zukunftsorientierten Patriotismus werten. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Intensivierung der patriotischen Erziehung, wie sie von den Nationalkonservativen angestrebt wird, als pure parteipolitisch motivierte Propaganda. Der renommierte Essayist Jacek Bochenski meint: „Heutzutage gibt es keinerlei Notwendigkeit, staatlich-nationale Mythen zu pflegen. Das war anders in den Zeiten der Unfreiheit und Okkupation, etwa während der sowjetischen Dominierung Polens. In einem entwickelten, unabhängigen europäischen Land des 21. Jahrhunderts mit einer demokratisch denkenden Gesellschaft sind nationale Mythen ein Anachronismus. Von den Machthabenden lancierter Nationalismus wird als aufgezwungene Ideologie und als Begrenzung der Freiheit begriffen.“8 Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen dem Nationalkonservatismus der Kaczynskis und den Rechtsradikalen um Roman Giertych. Während die Nationalkonservativen einen eher selbstgenügsamen Patriotismus pflegen, der sich nur partiell als Feindschaft gegenüber anderen Völkern äußert, geben sich die Rechtsradikalen aggressiv auch nach außen. Sie sehen die Polen als Nation, die sich gegenüber anderen hervorhebt und ihnen überlegen ist. Staatspräsident Lech Kaczynski brachte den Unterschied zwischen seiner Partei und den Rechtsradikalen auf den Punkt, als er sagte: „Wir wollen patriotische Erziehung, aber nicht im Geist des Nationalismus.“9

Patriarchalischer Fürsorgestaat

Die Geschichtspolitik der Kaczynskis ist eingebettet in eine fast revolutionär anmutende Strategie, mit der die Nationalkonservativen die ideologische und politische Hegemonie gegenüber den liberalen und linken Strömungen in Polen erringen wollen.10 Ziel dieser Strategie ist die Schaffung der so genannten Vierten Republik, die an die Stelle der nach 1989 entstandenen Dritten Republik treten soll. Wie schon erwähnt, basiert dieses Konzept auf der Einschätzung, dass korrupte postkommunistische Netzwerke mit Verbindungen zur kriminellen Szene das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Polen entscheidend beeinflussen. Wissenschaftliche Arbeiten wie die von Maria Jarosz11 zeigen allerdings, dass diese „Systemtheorie“ der Nationalkonservativen nicht auf einer seriösen Analyse basiert, sondern ein ideologisches Konstrukt ist. Sie träumen von einer Gesellschaft, die traditionellen polnischen Werten folgt und sich einem patriarchalisch führenden Staat unterordnet, der das wirtschaftliche Leben des Landes dominiert und die sozialen Belange seiner Bürger als wesentliche Aufgabe ansieht.

Inzwischen ist es den Kaczynskis und ihren Parteigängern gelungen, sowohl den Regierungsapparat als auch nach geordnete staatliche Stiftungen und Agenturen sowie die mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen strategischen Unternehmen unter ihre Kontrolle zu bringen. Gleiches gilt für die Selbstverwaltungsorgane der Justiz, die Führungsgremien der öffentlich-rechtlichen Medien, die Aufsichtsbehörden des Bildungssystems sowie wissenschaftliche Einrichtungen wie das „Institut nationalen Gedenkens“ (Instytut Pamieci Narodowej – IPN), das der deutschen Gauck-Behörde vergleichbar ist. Auch die „Säuberung“ der verschiedenen Geheimdienste ist in vollem Gange.

Kernelement der von den Nationalkonservativen initiierten „Revolution“ ist die so genannte „Lustracja“ („Durchleuchtung“), durch die alle Mitarbeiter staatlicher und sonstiger öffentlicher Einrichtungen, die schon in sozialistischen Zeiten politisch bzw. beruflich Karriere gemacht haben und eventuell bis heute Kontakt zur postkommunistischen Sozialdemokratie unterhalten, aufgespürt und von ihren Posten entfernt werden sollen. Die fachliche Qualifikation der Betroffenen spielt bei dieser „Säuberung“ keine Rolle. Die frei werdenden Positionen werden mit Parteifunktionären oder Sympathisanten der Nationalkonservativen  besetzt. Diese „Säuberung“ geht weit über die Aufdeckung korrupter Strukturen und krimineller Verbindungen zwischen Wirtschaft und Politik hinaus und entpuppt sich damit als parteipolitisch motivierte Machtübernahme in wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens und als Mittel zur Ausschaltung politischer Gegner.

Kritik an der Geschichtspolitik

Zum Glück wird die Instrumentalisierung der Geschichte in der polnischen Öffentlichkeit kritisch hinterfragt. Inzwischen ist eine Fülle von Texten erschienen, in denen sich Historiker, Publizisten, Pädagogen und natürlich Politiker der verschiedenen Lager mit der Politik der Regierung und ihren Projekten auseinander setzen.12 Dabei zeigt sich eine weitgehende Bereitschaft, staatliche Geschichtspolitik grundsätzlich zu akzeptieren. Strikte Gegner wie Jacek BocheÄski sind in der Minderheit. Allerdings knüpfen die meisten Befürworter ihre Zustimmung an bestimmte Bedingungen. Geschichtspolitik, so der Historiker Andrzej Friszke, müsse die kulturelle Vielfalt der polnischen Geschichte repräsentieren.13 Sein Fachkollege Jerzy Jedlicki fordert eine aufrichtige Darstellung der komplizierten polnisch-jüdischen Beziehungen.14 Zu klären sei auch, so Jedlicki, welches Verständnis von Volk und Nation der Geschichtspolitik zugrunde liege. Schließlich dreht sich die Debatte um die Frage, wie Geschichte popularisiert werden könne, ohne dass dabei nur simplifizierende Formeln unters Volk gestreut werden. Gerade mit Blick auf die von den Nationalkonservativen geführte Regierung warnt der Historiker Daniel Grinberg vor einem Nationalismus in der Außenpolitik, der die Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen lediglich durch das Prisma der historischen Leiden des eigenen Volkes betrachte.15 Besonders scharf wird der rückwärtsgewandte Patriotismusbegriff der Regierenden kritisiert. Insbesondere Bildungsminister Roman Giertych, so heißt es, wolle Lehrer und Schüler auf einen festen Kanon polnischer Siege, Niederlagen und Leiden verpflichten, der eine staatsbürgerlich-kritische Aneignung und Aufarbeitung von Geschichte unmöglich mache.

Das Gute dieser öffentlichen Debatte besteht auch darin, dass sie zur Klärung von Begriffen und Methoden beiträgt. Wissenschaftler erläutern die Unterschiede zwischen Geschichtspolitik, Vergangenheitspolitik und Vergangenheitsbewältigung und analysieren das komplizierte Wechselspiel zwischen persönlicher und öffentlicher Verarbeitung historischer Erfahrungen. Geschichtliche Ereignisse wie die Revolten gegen den Stalinismus und die späteren kommunistischen Systeme in den Jahren 1956, 1968, 1970, 1976 und 1980 werden neu bewertet.

Polen profitiert also von dieser historischen Reflexion. „Die Vereinigung von Tradition und Moderne, von Vergangenheit und Zukunft, ist die Grundlage einer gesunden demokratischen Ordnung und die Gewähr für eine authentische und lebhafte öffentliche Debatte als Quelle des Selbstverständnisses der Bürger. Dieses Bewusstsein und die Antwort auf die Frage: Wer sind wir?, benötigen die Polen gerade jetzt in Europa“, schreibt Marek A. Cichocki.16 Bleibt hinzuzufügen, dass diese Debatte in den heutigen Zeiten vor allem dann produktiv ist, wenn sie Geschichte in europäischen und nicht nur nationalen Zusammenhängen bewertet. Vor allem aber ist die von den polnischen Nationalkonservativen betriebene Instrumentalisierung der Geschichte vorrangig ein Instrument der Spaltung, nicht der Vereinigung der Gesellschaft, und damit auch keine Basis für die Bewältigung der Zukunft.

REINHOLD VETTER, geb. 1946, Diplom-Politologe, ist Korrespondent des Handelsblatts für Ostmittel- und  Südosteuropa in Warschau und Budapest.

  • 1 Anna Wolff-Powęska: Państwo precz od historii, Gazeta Wyborcza, 3./4.7.2006.
  • 2 Zu Kielce siehe insbesondere Adam Michnik: Pogrom Kielecki. Dwa rachunki sumienia, Gazeta Wyborcza, 3./4.6.2006; Andrzej Kaczyński: Pogrom na Plantach, Rzeczpospolita, 1./2.7.2006; His- toria w Tygodniku: Zbrodnia kielecka, Tygodnik Powszechny, 9.7.2006. Zu 1956 Wiesław Władyka: Lud Narodem, Polityka, Nr. 25, 24.6.2006; Paweł Machcewicz: Czerwiec ‘56 – ostatnie powstanie, Dziennik, 8.6.2006; Leszek Kołakowski: Czerwiec ‘56 – System zadrżał, Gazeta Wyborcza, 27.6.2006; Monika Kuc: Chłopcy z placu broni, Rzeczpospolita, 24./25.6.2006. Zum Entstehen der Opposition Paweł Smoleński: Tak się zaczynał KOR, Gazeta Wyborcza, 4./25.6.2006; Jerzy Morawski: Zlecenie na „Trutnia“, Rzeczpospolita, 18.6.2006; Anna Bikon/ Joanna Szczęsna: Dywizje Jacka Kuronia, Gazeta Wyborcza, 17./18.6.2006. Zu Radom und Ursus Marja Narbutt: Cóż pana do nas sprowadza?, Rzeczpospolita, 24./25.6.2006. Radom, Ursus ‘76 – Czerwcowa rewolta, Gazeta Wyborcza, 24./25.6.2006.
  • 3 Jarosław Kaczyński: Rząd moralnego porządku, Gazeta Wyborcza, 20.7.2006.
  • 4 Maria Jarosz: Macht, Privilegien, Korruption. Die polnische Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende, Wiesbaden 2005, S. 268.
  • 5 Robert Traba: Kicz patriotyczny, Gazeta Wyborcza, 7./8.2.2006.
  • 6 Siehe u.a. Marek A. Cichocki: Polityka pamięci, Rzeczpospolita, 10./11.6.2006.
  • 7 Ewa Wilk: Uczuć się nie uczy. Polska młodzież jest wystarczająco polska. I patriotyczna, Polity- ka, Nr. 24, 17.6.2006.
  • 8 Jacek Bocheński: Ślepa miłość patriotyczna, Gazeta Wyborcza, 1./2.7.2006.
  • 9 Dobrze, ale z zacięciami. Rozmowa z Lechem Kaczyńskim, prezydentem Polski, Wprost, 11.6.2006.
  • 10 Siehe u.a. Jarosław Kaczyński (vgl. Anm. 3).
  • 11 Maria Jarosz (vgl. Anm. 4).
  • 12 Siehe u.a. Robert Traba (vgl. Anm. 5); Adam Michnik: Polityka historyczna, wariant Rosyjski, Gazeta Wyborcza, 27./28.5.2006; Marek A. Cichocki: Polityka (vgl. Anm. 6); Klaus Bachmann: Walka z wiatrakami historii, Gazeta Wyborcza, 13.6.2006; Marcin Król: Nie zużywajmy historii dla politycznych celów, Dziennik, 19.6.2006; Tomasz Merta: Polityka historyczna to obowiązek państwa, Dziennik, 29.6.2006; Jacek Bocheński (vgl. Anm. 8); Wojciech Roszkowski: Król skapitulował, Polacy nie, Dziennik, 4.7.2006.
  • 13 Czy państwo ma rządzic historią, Gazeta Wyborcza, 17./18.6.2006.
  • 14 Ebd.
  • 15Ebd.
  • 16 Marek A. Chichocki (vgl. Anm. 6).
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 98‑105

Teilen

Mehr von den Autoren