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30. Dez. 2024

Fossile Verlockung

Wind an der Ägäis-Küste, Staudämme im Osten, Sonne am Mittelmeer: Das Potenzial für eine tür­kische Energiewende ist riesig. Doch statt hier ­konsequent voranzuschreiten, fährt Ankara zwei­gleisig und investiert weiterhin in Gas und Kohle.

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Bild: Umweltaktivisten bei ihrem Kampf gegen die Braunkohleförderung
Aufschrei gegen den Abbau: Im Südwesten der Türkei (hier: Muğla, Dezember 2023) unterstützen Tausende von Umweltaktivistinnen die Olivenbauern bei ihrem Kampf gegen die Braunkohleförderung.
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Gelingt die Energiewende in der Türkei? Glaubt man dem zuständigen Minister Alparslan Bayraktar, besteht daran kein Zweifel. Das Land sei auf dem besten Weg, sagte er Mitte Oktober dieses Jahres. 2021 hat die Türkei als letztes OECD-Land die Pariser Klimaziele ratifiziert, 2053 soll das „Netto-Null“-Emissionsziel erreicht sein.

Die Klimapolitik unter Recep Tayyip Erdoğan, zunächst als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident, ist weniger ökologisch als vielmehr ökonomisch motiviert. Wie Deutschland hat die Türkei kaum eigene Öl- und Gasvorkommen und muss die Importe aus Russland, dem Iran, Aserbaidschan und dem Irak teuer bezahlen. Rund zwei Drittel der in der Türkei verbrauchten Energie stammen aus diesen Importen; regelmäßig zahlt die Türkei dafür weit mehr Devisen, als sie durch eigene ­Exporte ­erwirtschaftet. Um diese Lücke in der Leistungsbilanz zu schließen, investiert die türkische Regierung in heimische Energiequellen, darunter verstärkt auch in Erneuerbare.

Wie Deutschland hat auch die Türkei im 20. Jahrhundert vor allem auf einheimische Kohle gesetzt. Braunkohlevorkommen sind im ganzen Land verteilt, Steinkohlevorkommen gibt es vor allem entlang der Schwarzmeerküste. Die dort abgebaute Kohle hielt nicht nur die Industrie am Laufen, sondern heizte auch die Städte. Das hatte zur Folge, dass die Menschen in Istanbul, Ankara, Izmir und anderen schnell wachsenden Millionenstädten im Winter kaum noch atmen konnten. Abhilfe schaffte vor allem russisches Gas. Seit Beginn der landesweiten Gasversorgung in den 2000er Jahren ist der Himmel über den Städten in der Türkei auch im Winter wieder blau und die Luftqualität hat sich stark verbessert. 


Energiewende: Was bisher geschah 

Auch in der Türkei werden erneuerbare Energien vor allem für die Stromproduktion eingesetzt. Den Anfang machte in den 1960er Jahren die Wasserkraft. Der damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel ließ das Südostanatolien-Projekt entwickeln, das den Bau von insgesamt 30 großen Staudämmen an den Oberläufen der beiden größten vorderasiatischen Flüsse Euphrat und Tigris vorsah. Zur Strom­erzeugung wurden Turbinen in die Dämme eingebaut. Die letzten Dämme wurden erst im vergangenen Jahrzehnt fertiggestellt; weite Teile der Osttürkei gleichen heute einer Seenlandschaft. 

Doch nicht nur an Euphrat und Tigris, sondern an fast allen Flüssen in der Türkei wurden Wasserkraftwerke gebaut. Das Potenzial für Wasserkraftwerke ist daher mittlerweile nahezu ausgeschöpft. Der Großteil des mit erneuerbaren Energien erzeugten Stroms in der Türkei wird heute aus Wasserkraft gewonnen. 

In den 2000er Jahren tauchten an der Ägäis-Küste dann die ersten Windräder auf. Vorreiter war die Insel Bozcaada südlich der Dardanellen, die als erste Gemeinde ausschließlich mit Energie aus ihrem eigenen Windpark versorgt werden konnte. Heute stehen entlang der windreichen Ägäis-Küste Hunderte Windparks. Auch wenn weiterhin Gebiete für die Nutzung durch Windkraftwerke ausgewiesen und Lizenzen dafür versteigert werden, sind die besonders windreichen und lukrativen Plätze an der Küste mittlerweile vergeben.

Das Potenzial für Wasserkraftwerke ist nahezu ausgeschöpft – nun schlägt die Stunde der Solarenergie 

Damit schlägt nun die Stunde der Solarkraftwerke. Bislang wurde Sonnenenergie vor allem für die Warmwasseraufbereitung genutzt. An der Ägäis-Küste südlich von Izmir und entlang der gesamten Mittelmeerküste stehen auf fast jedem Dach solarbetriebene Warmwasseraufbereiter, die jedoch nur in ihrer modernsten Installation auch zum Heizen dienen. 

Auch jenseits der Mittelmeerküste ist die Türkei für Energiegewinnung aus Sonnenenergie prädestiniert. Im Durchschnitt scheint die Sonne hier sieben Stunden am Tag – doppelt so viel wie in Deutschland. Theoretisch könnte man 5 Prozent der Landesfläche mit Solarmodulen bestücken und damit den gesamten Energiebedarf der Türkei decken. Allerdings steckt die Solarenergie im Land noch in ihren Anfängen. Die ersten Lizenzen zur Erzeugung von Solarstrom wurden 2014 vergeben. Noch im Jahr 2021 schätzte die Internationale Energieagentur, dass das entsprechende Potenzial der Türkei erst zu 3 Prozent genutzt wird. 

Lange Genehmigungsverfahren, niedrige Einspeisevergütungen und ein unzureichend ausgebautes Stromnetz erschweren den Ausbau von Solarparks. Für ausländische Investoren kommen hohe Wechselkursrisiken hinzu, die abschreckend wirken. Bislang gibt es nur einen staatlich errichteten großen Solarpark in Karabük, der im Vollausbau bis zu einem Gigawatt Strom liefern soll. Weitere Solarparks befinden sich noch in der Planungs- oder Bauphase, teilweise mit erheblichen Verzögerungen. 

Nach Angaben des zuständigen Ministeriums betrug im Jahr 2023 der Anteil von fossilen Energieträgern am Energiemix für die Stromerzeugung 57,2 ­Prozent (36,2 Prozent Kohle, 21 Prozent Gas), gefolgt von Wasserkraft (19,3 Prozent), Windkraft (10,3 Prozent), Solar (6,7 Prozent), Erdwärme (3,4 Prozent) und anderen Quellen (3,2 Prozent).

Für den September 2024 gibt das Ministerium in einer Momentaufnahme jedoch bereits an, dass die Erneuerbaren bei der installierten Leistung für die Strom­erzeugung mehr als 50 Prozent ausmachen, ein Großteil davon Wasserkraft und Solar. Der Anteil von fossilen Energieträgern liegt demnach nur noch bei 40,8 Prozent, was vor allem auf einen Rückgang des Kohleanteils zurückzuführen ist. 


Der Ruf der Kohle

Diese Zahlen sind ein Indikator dafür, dass die besonders umweltschädliche Kohle langfristig durch Sonnenenergie ersetzt werden soll. Nach Angaben von Energieminister Bayraktar soll die installierte Leistung von Wind und Solaranlagen von aktuell 30 000 Megawatt (MW) bis 2035 auf 120 000 MW vervierfacht werden. 

Ob die Energiewende gelingt, hängt vor allem davon ab, wie die Türkei in Zukunft mit ihren Kohlevorkommen umgeht. Die politischen Anzeichen sind nicht besonders ermutigend. Es gibt keine klare Ausstiegsstrategie aus der Kohleförderung, sondern im Gegenteil eine subventionierte Laufzeitverlängerung alter Kraftwerke. Beispielhaft dafür sind mehrere Kohlekraftwerke im Südwesten des Landes, unweit der bekannten Touristenhochburgen Bodrum und Marmaris. Diese Kohlekraftwerke werden mit Braunkohle befeuert, die in unmittelbarer Nähe im Tagebau abgebaut wird. Seit Jahren kämpfen die betroffenen Olivenbauern mit Unterstützung Tausender Umweltaktivisten dagegen, dass weiterhin Dörfer, Olivenplantagen und intakte Wälder dem Braunkohleabbau zum Opfer fallen.

Ob die Energiewende in 
der Türkei gelingt, hängt vor 
allem davon ab, wie das Land in Zukunft mit seinen Kohlevorkommen umgeht

Doch der Raubbau geht immer weiter. Die uralten Kraftwerke, die längst hätten stillgelegt werden müssen, wurden stattdessen von der Regierung Erdoğan privatisiert und anschließend nur oberflächlich modernisiert. Seitdem werden die neuen Besitzer, die aus dem Umfeld der Regierungspartei AKP kommen, mit großzügigen Abnahmegarantien für ihren Strom subventioniert. Laut einer Studie des türkischen Energie-Thinktanks Shura, der auch mit dem deutschen Institut Agora Energiewende zusammenarbeitet, könnte bis 2030 fast der gesamte aus Kohle gewonnene Strom durch Sonnenenergie ersetzt werden. Man müsste nur in den Braun­kohlegruben Solarparks installieren. 

Obwohl das Energieministerium unlängst neue Flächen für Wind- und Solarparks ausgeschrieben hat, will die Regierung weiterhin an fossilen Energieträgern, vor allem an Gas, festhalten. Sie hofft zum einen darauf, von Russland, Aserbaidschan und zukünftig vielleicht auch von Mittelmeeranrainern wie Zypern und Israel als Gastransitland Vorzugskonditionen für den Eigenverbrauch zu erhalten.

Zum anderen ist die Türkei selbst aktiv auf der Suche nach Offshore-Gasvorkommen. Die Konflikte mit Griechenland über Schürfrechte im Mittelmeer, die im Sommer 2020 fast zu einem bewaffneten Konflikt geführt hätten, liegen derzeit auf Eis – auch, weil die Türkei mittlerweile Gasvorkommen im Schwarzen Meer entdeckt hat, die sie nun vorrangig ausbeuten will. Darüber hinaus hat die Türkei in diesem Sommer erstmals ein Explorationsschiff in die Gewässer vor Somalia geschickt, um dort nach Gasvorkommen zu suchen – ein klares Signal, dass das Land bei der Gasförderung auch international mitmischen will. Teure Ölimporte könnten dagegen reduziert werden, wenn der Anteil der erneuerbaren Energien wie geplant zunimmt.


Abenteuer Atomkraft

Statt ganz auf erneuerbare Energien zu setzen, hat sich das Land allerdings auch auf das Abenteuer Atomkraftwerke eingelassen. Der erste Meiler wird derzeit an der Mittelmeerküste nahe der Stadt Mersin gebaut, einem von Erdbeben bedrohten Gebiet. Zudem will die Regierung Erdoğan an der Schwarzmeerküste zwei weitere Meiler bauen lassen – in angeblich erdbebensicheren Regionen. Bis 2035 sollen die AKWs 7200 MW Strom liefern. Beobachter gehen davon aus, dass mit der Atomenergie auch die Option einer möglichen militärischen Nutzung verbunden sein könnte.

Im Herbst 2023 besuchte der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einer Delegation die Türkei, um eine mögliche Zusammenarbeit im Energiesektor auszuloten. Habeck interessierte sich insbesondere dafür, ob aus der Türkei in Zukunft grüner Wasserstoff nach Deutschland geliefert werden könnte. Das Potenzial ist da. Die Energieagentur Shura hat errechnet, dass die Türkei bis zu 3,5 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff herstellen könnte, wovon rund ein Drittel exportiert werden könnte. Der Import aus der Türkei hätte den Vorteil, dass der Wasserstoff über bereits bestehende Gasleitungen nach Deutschland transportiert werden könnte.

Für das Gelingen der Energiewende in der Türkei spielt grüner Wasserstoff insofern eine Rolle, als er fossile Energieträger dort ersetzen kann, wo eine Dekarbonisierung durch Elektrifizierung nicht möglich ist. Die mit Abstand wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Energiewende ist und bleibt jedoch die maximale Integration erneuerbarer Energien. Dafür braucht es vor allem eines: politischen Willen. 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 56-59

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Jürgen Gottschlich ist seit über 20 Jahren Korrespondent der taz in Istanbul.            

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