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01. Nov. 2004

Morgentau des Realismus

Nachdem in den vergangenen Jahren viel von den Neocons die Rede war, ist nun ein genauer
Blick auf die realistische Variante der Außenpolitik nötig. Man darf gespannt sein, welches Mischungsverhältnis
aus Idealismus und Realismus Amerika in den kommenden Jahren finden
wird, denn von der richtigen Mischung hängt Amerikas Erfolg ab.

Der Präsident wurde erneut gewählt, nun hat der Präsident die Wahl – zwischen Realismus und Idealismus. Diese Entscheidung ist so alt wie die Geschichte der internationalen Beziehungen. Seit Perikles ist sie auch theoretisch untermauert. Dessen Zeitgenosse und Bewunderer Thukydides begann, mit wissenschaftlicher Kälte die Machtpolitik zu analysieren.

Das war die Geburtsstunde des theoretisch reflektierten außenpolitischen Realismus mit seinem systemischen Verständnis der internationalen Beziehungen. Geschult an den Machttheorien der Sophisten, war der nüchterne Blick des Realismus das Resultat der Katastrophenerfahrung des Peloponnesischen Krieges. Dem gegenüber standen ruhmessüchtige Aristokraten, von denen manche bald darauf Platons Idealismus huldigten. Ohne Platon damit gerecht zu werden: Auf seine Schüler übte die Vorstellung des Idealstaats und des Philosophenkönigs eine ungeheure Faszination aus. Dieser Gegensatz von Realismus und Idealismus ist die immer wieder nachgespielte Ur-Szene aller außenpolitischen Debatten, von Machiavelli über Hume und Hobbes bis zu Hans J. Morgenthau.

Morgenthau ist wieder da. Das ist die Botschaft der amerikanischen Debatte. Die mit den Neokonservativen gleichgesetzte idealistische Option der Außenpolitik hat die Bush-Regierung bisher verfolgt. Muss jetzt wieder ein eher realistischer Kurs eingeschlagen werden? Auch wenn man nie sicher sein kann, in welche Extreme sich die idealistische Variante noch treiben lässt – Indizien für eine realistische Wende sind vorhanden.

Die Anatomie der neokonservativen Seele wurde in den vergangenen Monaten und Jahren oft vermessen, auch auf diesen Seiten. Es wird Zeit für einen ebenso genauen Blick auf die Realisten. In München bot sich unmittelbar vor der Wahl Gelegenheit, diese Denkschule zu studieren. Christian Hacke und Gottfried-Karl Kindermann hatten amerikanische Groß-Realisten und jüngere Vertreter der Morgenthau-Schule versammelt. Ähnlich wie bei den Neocons, die anfangs kaum ein Europäer gelesen hatte – die Realisten sind anders, als viele glauben. Vor allem anders als das Zerrbild, das die Neocons von ihren Lieblingsgegnern zeichnen und das doch nur Henry Kissinger trifft, den einzigen Realisten, der für die Kriege in Vietnam und Irak war. Was ist das wahre Gesicht der Realisten?

Erstens: Realisten sind weder zynisch noch amoralisch, und sie verabscheuen auch nicht die Verbreitung der Demokratie als politisches Ziel. Das muss man festhalten, es ist keine Selbstverständlichkeit. Zu sehr hat Kissingers Schatten die vielen Gesichter des Realismus verdunkelt. Von Thukydides ebenso wie von Nietzsche lernte Morgenthau, dass der Kampf um die Macht in der Natur des Menschen verwurzelt ist. Im internationalen System betreiben Staaten interessenorientierte Machtpolitik. Zugleich übernahm Morgenthau den anderen Schluss des Machtanalytikers Thukydides: Stabilität ist für das Gemeinwesen langfristig wichtiger als Machtgewinn. Das belegt etwa der bedeutende Realist Robert J. Art.

Morgenthaus Bezugspunkt blieben die klassischen Menschenrechte, wie Hannah Arendt oder Raymond Aron verfocht er die Werte der „atlantischen Zivilisation“. Freundschaft verband ihn mit Leo Strauss, der nicht völlig zu Unrecht als intellektuelle Inspiration der Neocons gilt. Das außenpolitische Denken der USA lebt von der deutschjüdisch-amerikanischen Synthese dieser beiden Emigranten. Vielleicht erklärt die intellektuelle Emigration auch die geistige Armut der Debatte in Deutschland. Dafür neigt die amerikanische Diskussion um Strauss zu einseitigen Parteinahmen, die den Gelehrten Strauss und die Vielfalt und Tiefe seiner Philosophie einebnet oder gar ignoriert, wie Mark Lilla in The New York Review of Books (21. Oktober und 4. November) zeigt.

Im Mittelpunkt von Morgenthaus Analysen stehen Macht und Staatsinteresse. Aber Macht ohne Legitimität ist instabil. Das führten Morgenthau die katastrophal fehlgeschlagene Sizilische Expedition der Athener ebenso wie der Vietnam-Krieg der Amerikaner vor Augen. „The Tragedy of Great Power Politics“ lautet ein Buchtitel des Morgenthau-Schülers und gegenwärtigen Realismus-Papstes John J. Mearsheimer: Hybris und Sendungsbewußtsein imperialer Mächte entwickeln eine Eigendynamik. Die Tragödie ist strukturell vorprogrammiert. Aus dem zivilisationsbringenden Kolonisator Athen wurde ein brutales Reich, das vor Melos das Recht des Stärkeren gnadenlos durchsetzte, bevor es den Zusammenbruch erlebte.

Zweitens: Realisten können für sich beanspruchen, sowohl die Lage in Vietnam als auch in Irak richtig eingeschätzt zu haben. Das spricht stark für ihre Theorie. Beides taten sie keineswegs als linke Gegner der Machtpolitik, sondern als hartgesottene konservative Realisten mit Sinn für das Mögliche. Das betont Mearsheimer, der mit messerscharf geschliffenen Argumenten die Strategie des Irak-Krieges zerlegt. Die Bush-Doktrin beruhe in ihrer Mischung aus Idealismus und Militarismus auf falschen Prämissen: Die Neocons ließen sich von der militärischen Macht der USA blenden. Wer im Militär ein Mittel sieht, die Welt umzugestalten, glaubt an eine umgekehrte „Domino-Theorie“ – ein Staat nach dem anderen werde sich unter dem Eindruck der militärischen Übermacht Amerikas zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen bereit erklären und langsam zur Demokratie wandeln. Was aber, wenn das System anders funktioniert? Wenn die Domino-Logik irrt und die Neocon-Strategie vielmehr andere Staaten zum Widerstand motiviert, ja sie geradezu drängt, nach Atomwaffen zu streben? In Iran und Nord-Korea ist die Voraussage Mearsheimers Realität.

Der andere Denkfehler der Bush-Doktrin ist für Mearsheimer die Theorie vom „demokratischen Frieden“. Historisch gesehen verhalten sich Demokatien nur gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung besser als Diktaturen. Im internationalen System sind auch Demokratien nur am Eigeninteresse orientierter Mitspieler, die Unheil angerichtet und Kriege heraufbeschworen haben. Selbst wenn die Theorie vom „demokratischen Frieden“ zuträfe, wie konnte man dann ausgerechnet das Militär als Friedensstifter einsetzen? Hier wirkt die Blendung durch die militärischen Möglichkeiten nach. Rumsfelds „Revolution in Military Affairs“ resultierte in der Reduktion intellektueller Kapazitäten. Als echte Konservative bleiben Realisten skeptisch gegenüber „social engineering“, wie es die Neocons für den Nahen und Mittleren Osten anstreben.

Von Morgenthau könnte die Bush-Regierung lernen, dass nicht Demokratie, sondern der Nationalismus die stärkste Kraft auf Erden ist. Dessen Ausbreitung ist unaufhaltsam, gemessen an historischen Standards. Die Logik eines imperialen Systems bedingt, dass sich als Reaktion auf dessen Ausbreitung der Nationalismus radikalisiert. Aus dem Befreier wird schnell der Besatzer. Das war in Vietnam deutlich, wo der Norden nicht in Diensten des Weltkommunismus stand, sondern ein Ausdruck des einheimischen Nationalismus war, der den Süden vom westlichen Besatzer befreite.

Demokratien im Mittleren Osten zu schaffen ist ein wunderbares politisches Ziel, und es liegt langfristig im Interesse des Westens, betont Mearsheimer. Aber es ist ein unglaublich schwieriges Ziel. Wer keine Erfahrung hat, sollte wenigstens so gut wie möglich vorbereitet sein. Kurzfristig hätte es genügt, Irak einzudämmen, was allerdings auch an der mangelnden Einigkeit der Europäer gescheitert sei.

Drittens: Der Realismus ist ein Plädoyer für staatsmännische Weisheit. Theorie und Praxis stehen in enger Verbindung. Obwohl der Realismus eine strukturelle Analyse betreibt, kommt an dieser Stelle die Rolle des Individuums ins Spiel. Bismarck, Churchill und der amerikanische Außenminister Dean Acheson sind Morgenthaus seltene moderne Idealbilder. Das Gegenteil dieser Klugheit ist eine unflexible, selbstgerechte Haltung, die nicht dazuzulernen und über eigene Schwächen nachzudenken bereit ist. Sie schlägt leicht in blinden Missionarismus um. Wie Morgenthau warnt heute Mearsheimer vor dem globalen Kreuzzug der Neocons, der in einer Katastrophe enden werde.

Der Realismus nimmt an dieser Stelle eine klassische Wendung. Die Theoretiker der Machtpolitik betonen die Kunst der Diplomatie, auf die selbst die größte Macht nicht verzichten könne, um das internationale System zu stabilisieren. Diplomatie ist zum Kompromiss fähig und lässt alle Seiten ihr Gesicht wahren. Sie nimmt die Dynamik aus der Widerstandsreaktion, die das imperiale System auslöst. Der Kern des Problems im Nahen und Mittleren Osten ist laut Mearsheimer ein massives, durch die amerikanische Politik teilweise selbstverschuldetes Imageproblem der USA. Um den Terrorismus einzudämmen, müsse der Krieg der Ideen gewonnen werden. Dabei kommt es auf die Diplomatie an – auch und gerade auf die „public diplomacy“, die nach dem Krieg in Europa so gute Früchte trug.

Viertens: Auch Realisten liegen nicht immer richtig. Morgenthau definierte das nationale Interesse der USA sehr eng. Dadurch unterlief ihm eine Fehleinschätzung der amerikanischen Politik im Kalten Krieg, besonders der Truman-Doktrin. Deren innenpolitische Dimension blieb ihm unverständlich. Hinter der demokratisch-missionarischen Rhetorik verbarg sich, wie Art hervorhebt, eine sehr realistische Interessenpolitik. Zum anderen ist der Realismus am Staatensystem orientiert. Nichtstaatliche Akteure (wie transnationale Terroristen) oder globale Herausforderungen (wie Klima oder Demographie) kann er nur analysieren, insoweit das Handeln der Staaten davon betroffen ist, so John H. Herz und auch Mearsheimer selbst.

Eine amerikanische Außenpolitik ohne idealistische Elemente ist nicht vorstellbar, eine völlig ohne realistische hat es bisher nie gegeben. Im richtigen Mischungsverhältnis liegt wohl der Erfolg der amerikanischen Politik. Nur im Zweiten Weltkrieg fielen Idealismus und Realismus zusammen, seitdem wird das Verhältnis der beiden immer wieder neu ausgehandelt. Die Rückzugsgefechte des Idealismus werden derzeit am deutlichsten bei Charles Krauthammer, jenem Neocon-Vordenker, dessen Ansichten Francis Fukuyama zum Anlaß einer umfassenden Kritik der neokonservativen Außenpolitik nahm (siehe IP, 8/2004). Im National Interest (Herbst 2004) verteidigt sich Krauthammer dagegen mit vielsagenden Argumenten. Er will nicht länger wie Robert Kagan und Bill Kristol oder George W. Bush und Tony Blair als „demokratischer Globalist“ gesehen werden, der sich idealistisch die weltweite Ausbreitung der Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat. Seine Position bestimmt Krauthammer als „demokratischen Realismus“. Demokratie soll von den USA auch mit militärischen Mitteln nur noch in solche Regionen gebracht werden, die von großem strategischen Interesse für die USA sind. So erhält das Projekt der Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens einen realistischen Anstrich.

Wie der „liberale Realismus“, eine klassisch amerikanische Mischung aus internationalistischem Idealismus und Realpolitik, mit dem Mittleren Osten verfahren würde, entwerfen Marina Ottaway und Thomas Carothers in Foreign Policy (November/Dezember). Ihr Tenor lautet: Eine Demokratisierung ist strategisch nötig, sie ist nicht unmöglich, aber sie muss von innen kommen. Und darum darf der Westen nicht nur auf aufgeklärte Intellektuelle setzen. Der Weg zur Demokratisierung ist riskant, aber es gibt nur diesen einen – über die islamischen Parteien, deren Massenbasis autoritäre Herrscher erschüttern kann. Doch selbst wenn dieses Projekt gelingen, selbst wenn sich die Islamisten nach türkischem Vorbild mäßigen sollten – den Terrorismus werde man damit nicht so schnell besiegen. In Spanien, so erinnern die liberalen Autoren realistisch, nahm der Terror nach dem Ende Francos zu. Man darf gespannt sein, welche Mischung aus Idealismus und Realismus die amerikanische Außenpolitik in den nächsten Jahren finden wird.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 163‑166

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