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01. Juni 2008

Momente der Entscheidung

Trotz einiger Fehlschläge haben die USA in den vergangenen 15 Jahren auf dem Balkan eine wichtige Rolle gespielt: Drei Mal haben sie entscheidend eingegriffen – und damit gezeigt, dass sie auch nach dem Kalten Krieg noch eine „europäische Macht“ sind. Heute unterstützt Washington die zügige Integration des gesamten Balkans in EU und NATO.

Nach einer tragischen Zeit der Unentschlossenheit zwischen 1991 und 1995 haben die USA ihre Stimme gefunden und ihren erforderlichen Führungsanspruch behauptet – zuerst in Bosnien, dann im Kosovo und drittens mit ihrer strategischen Vision über die Einbindung der Balkan-Region in europäische und euro-atlantische Strukturen. Natürlich haben die USA bei all diesen Herausforderungen eng mit ihren europäischen Verbündeten zusammengearbeitet. Doch in jedem Bereich erwies sich das Engagement der USA als entscheidend, und die Folgen dieser drei „Momente der Entscheidung“ wirken bis heute nach. Sie unterstreichen den anhaltenden Bedarf nach einer aktiven US-Politik auf dem Balkan, auch wenn die Europäische Union für die Zukunft der Region den bestimmenden strukturellen Rahmen bietet.

Unentschlossenheit und Desaster

Als in den frühen neunziger Jahren Spannungen zwischen Serbien auf der einen und Kroatien und Slowenien auf der anderen Seite aufflackerten, trugen die USA und ihre europäischen Verbündeten mit einer Kombination aus Untätigkeit, Unentschiedenheit und unbeholfener Intervention maßgeblich zum Ausbruch der Gewalt bei. Als Slowenien und Kroatien 1990 und 1991 drohten, sich von der jugoslawischen Föderation abzuspalten, stellte sich die Regierung von George H. W. Bush offiziell gegen dieses Vorhaben. Gleichzeitig ermahnte sie die jugoslawische Regierung, nicht zu versuchen, das Land mit Gewalt zusammenzuhalten. Mit dieser Haltung ermunterte die US-Regierung die Sezessionisten, ohne sich zu verpflichten, in der sich anbahnenden Krise aktiv zu werden. In einem berühmt gewordenen Ausspruch erklärte der ehemalige US-Außenminister James Baker, die USA hätten in diesem Konflikt nichts zu gewinnen. Das ermutigte beide Seiten nur dazu, ohne Angst vor Intervention von außen noch gewalttätiger zu agieren.

Verschlimmert wurde die Unentschlossenheit der USA durch die Unbeholfenheit der EU. Der ehemalige luxemburgische Außenminister Poos, der für seine europäischen Kollegen sprach, steigerte Bakers Fauxpas sogar noch: „Dies ist die Stunde Europas“, polterte er mit größtmöglicher Selbstüberschätzung. In Wirklichkeit waren die EU-Mitgliedsstaaten über das Jugoslawien-Dilemma hoffnungslos zerstritten, als die Gewalt ausbrach. Ergebnis: Die USA schauten stumm zu, die Europäer zankten sich, und viele Menschen auf dem Balkan starben.

Zwischen 1992 und 1994 versuchten die UN und die EU mehrfach erfolglos, Friedensabkommen zwischen den kriegführenden ethnischen Parteien auszuhandeln. Die Clinton-Regierung war durch die Debakel bei ihrer Friedenssicherung in Somalia und Haiti angeschlagen und schwankte hinsichtlich ihrer Rolle und ihres Einsatzes.

Srebrenica und die Entscheidung zu Bosnien

Die Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft hatte im Juli 1995 desaströse Folgen: 8000 bosnische Jugendliche und Männer wurden von bosnisch-serbischen Milizen massakriert und viele Frauen und Kinder gefoltert, vergewaltigt und getötet, während 400 bewaffnete niederländische UN-Blauhelme unglücklich zusahen. Die Welt war fassungslos angesichts der Gräuel von Srebrenica. Dass der Westen unfähig oder nicht willens war, die menschliche Tragödie zu verhindern, die sich auf dem Balkan abspielte, war sein größtes Versagen seit der Appeasement-Politik gegenüber Hitler.

Nach dem Massaker in Srebrenica drohten die europäischen Verbündeten damit, ihre im Rahmen der Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) vor Ort stationierten Bodentruppen abzuziehen – ein Vorhaben, das die US-Truppen unter Clinton eigentlich unterstützen sollten. Daher war Srebrenica der Wendepunkt, der Clinton zu einer Entscheidung zwang: Entweder den US-Truppen zu befehlen, alliierte Truppen bei einem äußerst beschämenden Rückzug zu unterstützen, oder die US-Truppen als Teil einer umfassenden NATO-Mission einzusetzen, um die Kämpfe zu beenden und endlich Frieden zu schaffen. Clinton entschied sich für letzteres.

Das fatale „Dual-key“-Arrangement zwischen NATO und UN hatte viel dazu beigetragen, die Handlungsmöglichkeiten des Westens zu beschneiden. Eine Kombination aus Entwicklungen vor Ort und geschickter westlicher Diplomatie führte dazu, dass das „Dual-key“-Arrangement durch die alleinige Entscheidungsbefugnis der NATO ersetzt wurde; das mündete in das Friedensabkommen von Dayton, welches den Bosnien-Krieg beendete, und leitete eine bedeutende Verstärkung der NATO- und EU-Einsätze in der Region ein. Kurz nach Dayton trafen 60 000 schwerbewaffnete NATO-geführte IFOR-Truppen ein, um Frieden zu schaffen. Der Einsatz der USA in Bosnien trug nicht nur maßgeblich zur Beendigung des Konflikts selbst bei, sondern er beförderte auch die Klärung größerer Fragestellungen. Die drängendste Frage lautete, ob die USA Europa auch nach dem Kalten Krieg verpflichtet bleiben würden. Die US-Politik in Bosnien bestätigte, dass die USA tatsächlich eine Macht in Europa bleiben und ihre Führungsmacht für einen europäischen Frieden weiterhin entscheidend sein würde. Zweitens unterstrich Bosnien die Bereitschaft der USA, sich nicht nur in der Friedenserhaltung (wie bei der unglückseligen Mission in Somalia), sondern auch in der Friedensschaffung zu engagieren und die eigenen Kräfte in den Dienst internationaler Koalitionen zu stellen, um in solchen Situationen zu intervenieren und zu vermitteln. Drittens bestätigte Bosnien die Relevanz der NATO auch nach dem Kalten Krieg. Viertens zeigte sich die EU trotz ihrer massiven Rhetorik unfähig, die Bosnien-Krise zu bewältigen. Es würde eine beträchtliche Weile dauern, bis sie die notwendigen militärischen und politischen Ressourcen dazu entwickeln würde. In der Zwischenzeit blieb die EU von den USA abhängig.

Die Entscheidung über das Kosovo

Drei Jahre später kehrte Richard Holbrooke, der das Friedensabkommen von Dayton ausgehandelt hatte, nach Belgrad zurück und warnte Slobodan Milosevic, die NATO werde nicht untätig bleiben, wenn Milosevic die Kosovo-Albaner weiter aus ihren Häusern vertreibe. Die USA und ihre Verbündeten holten erfolgreich Resolutionen im UN-Sicherheitsrat ein, die die Repression der Kosovo-Albaner durch Serbien verurteilten; eine OSZE-Beobachtermission wurde in die Provinz entsandt. Gleichzeitig drängte die NATO Belgrad dazu, den von den USA entworfenen Autonomieplan anzunehmen, der als Teil des Verhandlungspakets in Rambouillet entworfen worden war. Der Waffenstillstand wurde jedoch Anfang 1999 gebrochen. Milosevic lehnte die Bedingungen der NATO ab und setzte die „ethnischen Säuberungen“ im Kosovo fort. 30 Stunden später begann die 78-tägige Bombardierung des Kosovo und Serbiens durch die NATO.

Das Kosovo stellt einen weiteren Moment der Entscheidung dar, mit Folgen, die weit über die eigentlichen Ereignisse hinausgehen. Denn im Gegensatz zu Bosnien war das Kosovo ein klarer Abwägungsfall zwischen dem Respekt für die nationale Souveränität und der Achtung der Menschenrechte – zwei Kernprinzipien der UN-Charta und des internationalen Rechts. Am Ende gelang es den USA nicht, im UN-Sicherheitsrat die Unterstützung Russlands und Chinas für den NATO-Einsatz zu gewinnen. Der Westen argumentierte aber, dass die Souveränität Jugoslawiens durch die Menschenrechtsverletzungen Belgrads an den Kosovo-Albanern ohnehin ihre Gültigkeit verloren hätte, und dass die NATO handeln müsse, um diese Rechte zu schützen. Im Wesentlichen stellte der Westen die Wahrung der Menschenrechte über die Unantastbarkeit der nationalen Grenzen. Er etablierte damit einen wichtigen Präzedenzfall in der heute noch andauernden Debatte über die Legitimität und Legalität von humanitären Interventionen.

Die Entscheidung für Integration

1999, unmittelbar vor dem 50. Geburtstag der NATO, sicherte der Westen also einen brüchigen Frieden in Bosnien und ließ sich zudem auf eine neuerliche Auseinandersetzung mit Slobodan Milosevic ein, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wie die Konfliktherde auf dem Balkan zu löschen und zugleich ein geeintes und freies Europa zu schaffen wäre. Die Öffentlichkeit bezweifelte zu jener Zeit sogar, ob der Balkan überhaupt Teil Europas sei. Die USA und ihre Verbündeten hatten sich darauf geeinigt, Milosevic das Handwerk zu legen, notfalls auch mit Gewalt; ihnen fehlte jedoch ein umfassender Entwurf für einen nachhaltigen Frieden.

An dem Tag, an dem die Bombardierung des Kosovo begann, schickten Diplomaten des US-Außenministeriums eine Note an Außenministerin Madeleine Albright, in der sie die USA drängten, eine führende Rolle beim Entwurf eines strategischen Planes für die Balkan-Region zu übernehmen. Trotz des Friedens in Bosnien und der Aussicht auf einen Sieg in Serbien, argumentierten sie, werde der Erfolg nur vorübergehend sein, wenn er nicht von einem umfassenden Plan für die europäische Integration der Region begleitet werde. Es sei Zeit für einen neuen Vorstoß in der Region, sagten die US-Diplomaten.

Die USA hätten während des Kalten Krieges die Integration in Westeuropa durch demokratischen Frieden und Wohlstand gefördert, ebenso wie in großen Teilen Zentraleuropas nach dem Ende des Kalten Krieges. Nun müssten sie bereit sein, zusammen mit ihren Verbündeten das gleiche für Südosteuropa zu tun. Die einzige wirkliche Exit-Strategie, sagten sie weiter, sei eine Integrationsstrategie, in der die Länder der Balkan-Region in die EU, NATO und andere westliche Strukturen eingebunden würden – sofern die Staaten selbst bereit seien, sowohl allein als auch gemeinsam daran zu arbeiten, dass die Bedingungen für eine solche Integration geschaffen würden. Die USA müssten bereit sein, derart reformierte Balkan-Staaten in der NATO zu akzeptieren, und sie müssten gleichzeitig auch die wichtigsten europäischen Partner davon überzeugen, eine Führungsrolle zu übernehmen und sich klar zur Erweiterung der EU nach Osteuropa zu bekennen.

Außenministerin Albright teilte den Vorschlag Präsident Clinton mit, der ihn begrüßte. Schnell und leise erarbeiteten US-Beamte zusammen mit ihren deutschen Kollegen, die eine ähnliche Vorstellung von der Zukunft der Balkan-Region hatten (und zu der Zeit hatte Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne), einen gemeinsamen Entwurf für eine umfassende Initiative. Verhandlungen fanden erst separat und dann im Mai 1999 gemeinsam auf dem Petersberg bei Bonn statt, und im Sommer trafen sich Präsident Clinton und die europäischen Staatsoberhäupter in Sarajewo, um den Stabilitätspakt für Südosteuropa zu unterzeichnen.

Der Stabilitätspakt stieß auch auf Kritik, und das anfängliche Durcheinander von Arbeitsgruppen, Tagungen und zahlreichen scheinbar unkoordinierten Projekten warf sicherlich Fragen bezüglich seines Wertes auf. Doch der wichtigste Effekt des Stabilitätspakts bestand nicht aus bestimmten Konferenzen oder Projekten, sondern aus der grundsätzlichen Übereinkunft, die ihm zu Grunde lag. Erstens akzeptierte der Westen den Balkan darin als festen Bestandteil Europas: Die Balkan-Staaten konnten und sollten vollwertige Mitglieder der EU, der NATO und anderer westlicher Strukturen werden. Dazu mussten umgekehrt die Balkan-Staaten Bedingungen für eine solche Einbindung schaffen – durch demokratische, wirtschaftliche und militärische Reformen und regionale Kooperation. Zweitens zeigten sich die USA bereit, ihre Verpflichtungen für die europäische Sicherheit durch eine fortwährende Ausweitung ihrer Allianz auf die Balkan-Region zu vertiefen. Drittens würden die USA die Führungsrolle der EU in der Region unmissverständlich unterstützen.

eute gehört der Gedanke, dass die Staaten Südosteuropas in die EU und NATO integriert werden sollen, zum Gemeingut. Vor nicht einmal zehn Jahren galt er als radikal. Die Strategie ist aufgegangen. Einige Länder sind Vollmitglieder der EU geworden, weitere werden folgen.

Trotz zeitweiser Versäumnisse und trotz verschiedener falscher Signale hat die Regierung von George W. Bush eng mit den europäischen Partnern zusammengearbeitet, um diesem Plan Leben einzuhauchen. Sie hat die Führung in Bosnien der EU übertragen, sie hat darauf hingearbeitet, einigen Staaten der Region die NATO-Mitgliedschaft zu ermöglichen und anderen die Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen, und sie hat versucht, Unterstützung für ein unabhängiges Kosovo innerhalb eines europäischen Rahmens zu mobilisieren. Kurzum: Trotz fortdauernder Probleme in der Balkan-Region, mögliche Ausbrüche von Gewalt eingeschlossen, gilt und wirkt der Pakt grundsätzlich weiterhin. Er ist der einzig gangbare Weg in Richtung einer friedlichen und florierenden Zukunft für das Kosovo und Serbien. Kosovo hat ausdrücklich zugestimmt, für eine Zeitlang von einem internationalen zivilen Büro (International Civilian Office – ICO) unter europäischer Führung und mit US-Unterstützung „beaufsichtigt“ zu werden. Die Europäische Union hat ihre Ressourcen ausgebaut und führt eine Rechtsstaatlichkeitsmission im Kosovo durch, ebenfalls mit Unterstützung der USA. Die NATO schließlich sorgt im Rahmen von UN-Sicherheitsratsresolution 1244 und mit Beteiligung der USA vor Ort für Sicherheit.

Sollte Serbien sich ebenfalls für eine Orientierung nach Westen entscheiden, ist es wahrscheinlich, dass sich die diplomatischen Bemühungen der USA darauf richten werden, das Land in die transatlantische Gemeinschaft aufzunehmen. Die Entscheidung hierfür muss von der Bevölkerung Serbiens getroffen werden, und es liegt auch in ihrer Verantwortung, die entsprechenden Bedingungen für eine solche Integration zu schaffen. Aber der Westen sollte sich darauf einstellen, Serbien auf diesem Weg zu ermuntern und deutlich zu machen, dass die Integration Serbiens in die europäischen und euro-atlantischen Strukturen nicht nur möglich, sondern auch gewünscht ist. Falls Serbien kluge Entscheidungen trifft, wird schnell der Tag kommen, an dem es dem Kosovo als Partner in der EU und NATO gegenübersteht. Und ganz gleich, wer im Januar 2009 Präsident der USA wird, die USA werden höchstwahrscheinlich an die Hinterlassenschaft dieser drei Entscheidungsmomente auf dem Balkan anknüpfen.

Prof. Dr. DANIEL HAMILTON,  geb. 1955, ist Richard von Weizsäcker-Professor und Direktor des Zentrums für transatlantische Beziehungen an der Paul H. Nitze School for Advanced International Studies der Johns Hopkins Universität in Washington. Vorher war er u.a. US-Koordinator des Stabilitätspakts für Südosteuropa.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2011, S. 62 - 67

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