Internationale Presse

01. Jan. 2015

Modis Stunde der Wahrheit

Internationale Presse – Indien

Indiens Premier braucht 2015 Wirtschaftserfolge und diplomatisches Geschick

Indien hat ein aufregendes Jahr hinter und ein nicht weniger spannendes vor sich. Sieben Monate nach dem überwältigenden Wahlsieg Narendra Modis wird sich 2015 herausstellen, ob der neue Premierminister die enormen Erwartungen der Wähler an seine Hindu-nationalistische Regierung einlösen kann.

Zwar ist es kein Geheimnis, dass die wirtschaftlichen Probleme Indiens nicht über Nacht gelöst werden können. Doch Modi wird 2015 handfeste Erfolge vorweisen müssen – schließlich wurde er vor allem gewählt, um das Land wieder auf den Wachstumspfad zu führen. Gleichzeitig erwartet ihn eine wichtige außenpolitische Herausforderung, bei der Neu-Delhi jedoch nicht stark genug ist, um allein den Ausgang maßgeblich zu beeinflussen: die Stabilisierung Afghanistans nach dem Abzug der NATO-Truppen.

In den ersten Monaten nach dem Wahlsieg war die Regierung hauptsächlich damit beschäftigt, Erwartungsmanagement und Symbolpolitik zu betreiben sowie – nicht ungeschickt – schnelle Erfolge auf dem Gebiet der Außenpolitik zu suchen.
„Es kann sein, dass Indien bereits wieder die Wachstumsvorhersagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank übertrifft, aber die Aufgabe, die vor uns liegt, ist nicht einfach“, schrieb die Ökonomin Jayshree Sengupta in der Tageszeitung Tribune (16. September). „Struktur-reformen müssen schnell kommen, um die Erwartungen potenzieller Investoren zu erfüllen.“

Diese halten sich bisher zurück, obwohl die Medien sich in den ersten Monaten nach dem Wahlsieg mit Geschichten über Modis Wirtschaftsfreundlichkeit überschlugen. „Ich warte lieber noch ein paar Monate, ehe ich schnell eine neue Fabrik baue und dann vielleicht sehen muss, dass die Nachfrage wieder runter geht“, erklärte Sunil Mathur, Geschäftsführer von Siemens Indien, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters (11. November). 2015 wird deshalb zur Nagelprobe für Modi.

„Da gibt es kein Wenn und Aber“ zitiert derselbe Reuters-Artikel Gita Gopinath, Wirtschaftsprofessorin in Harvard. „Die Regierung kann die großen Reformen nicht mehr lange aufschieben.“ Sie müsse dringend die Gesetzgebung in punkto Landerwerb, Arbeitsmarkt und Steuern überarbeiten, um Investitionskapital ins Land zu bringen. Die Bedingungen dafür sind 2015 besser denn je. „Wenn Modi die indische Wirtschaft ernsthaft auf Vordermann bringen will, bietet 2015 dafür eine goldene Gelegenheit“, 
schrieben Unni Krishnan und 
Rakteem Katakey für die Agentur Bloomberg (11. Dezember).

Der Ölpreis ist auf einem historischen Tief, die Inflation und das Leistungsbilanzdefizit gehen zurück, nur zwei Bundesstaaten halten 2015 Wahlen ab und die Regierung hat zum ersten Mal seit 30 Jahren eine Mehrheit im Unterhaus. „So etwas sieht man nur sehr selten“, so Saugata Bhattacharya, Wirtschaftswissenschaftler bei der Axis Bank in Mumbai. „Was mehr kann Modi wollen?“

„Die Regierung hat einfach Glück“, meint auch N.R. Bhanumurthy, Ökonom am National Institute for Public Finance and Policy in Delhi. „Es gibt keine bessere Zeit, um Subventionen abzubauen und Maßnahmen durchzusetzen, die als unpopulär gelten.“
Das setzt allerdings voraus, dass Modi sich stärker als bisher auf die Wirtschaft konzentriert und Risiken eingeht, die er bisher vermieden hat. Kritiker meinen, der Premier sei zu stark dem Klein-Klein administrativer Verbesserungen verhaftet, die ihm als Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat den Ruf eines exzellenten Verwaltungschefs eingebracht haben.

Während Indien zweifellos nach guter Verwaltung lechzt, darf der Premier weder die großen wirtschafts-politischen Linien aus den Augen -verlieren noch die Außenpolitik in seiner krisengeschüttelten Nachbarschaft vernachlässigen. Dabei könnte ihm die Tatsache zum Handicap werden, dass seine Bharatiya Janata Party im Grunde über eine zu schmale Personalbasis verfügt.

Ausdruck dieser Misere ist die Tatsache, dass Modi seinem „besten Pferd im Stall“, Arun Jaitley, gleich zwei Schlüsselministerien überantwortet hat: Finanzen und Verteidigung. Kombiniert mit der Tendenz des Premiers, nur wenigen Leuten zu trauen, könnte dies zu einem Ideen- und Entscheidungsstau führen, falls es gleichzeitig zu mehreren Krisen kommen sollte.

Die Kunst des Möglichen

Neu-Delhi versucht daher an allen Fronten, den Ball flach zu halten. Als Finanzminister enttäuschte Jaitley mit seinem ersten Budget, das viele für kaum mehr als eine Fortsetzung der Arbeit seiner Vorgänger hielten, und verbreitet derzeit, wie die Wirtschaftszeitung LiveMint (5. November) kritisierte, die Botschaft, dass „Reformen die Kunst des Möglichen“ seien.

Eine philosophische Einsicht, die nicht nur die 400 Millionen Inder, die nach wie vor in Armut leben, kaum beeindrucken wird. Auch die aufstrebende Mittelschicht, die hohe Erwartungen in die neue Regierung gesetzt hat, wird sich nicht mit kleinen Erfolgen und Symbolpolitik wie der „Sauberes Indien“-Kampagne abspeisen lassen, mit der Modi im Sommer Schlagzeilen machte, als er selbst zum Besen griff und die Straßen eines Slums fegte.

Im Dezember tauchten zum ersten Mal Zweifel an der grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Marschrichtung auf – und zwar vom Chef der Notenbank, Raghuram Rajan, höchstpersönlich. Auf einer Veranstaltung der Industrie- und Handelskammer Mitte Dezember in Delhi erklärte Rajan, dass eine exportorientierte Wachstumsstrategie sich für ein Land von der Größe Indiens wegen der schlechten Wirtschaftslage vor allem in den Industrieländern nicht auszahlen werde.

„Die Welt kann kein weiteres China absorbieren“, warnte der frühere Chefvolkswirt des IWF. Und in einem direkten Angriff gegen Modis „Make in India“-Kampagne sagte Rajan, Indien solle besser für den indischen Markt produzieren. Diese Kritik sorgte für wütende Reaktionen unter Modi-Fans. „Gott bewahre uns vor jedem, der das wieder erwachende Indien mit einer Zurück-in-die-Zukunft-Strategie in eine Festung verwandeln will“, schrieb Sanjeed Ahluwalia, Berater beim Thinktank Observer Research Foundation in Delhi, in seinem täglichen Blog (13. Dezember).

Als ehemals hochrangiger Beamter der indischen Verwaltung weiß Ahluwalia genau, wovor er Angst hat, obwohl die Bemerkungen Rajans wohl kaum als Aufruf zum Protektionismus zu verstehen sind, sondern eher als Warnung, dass das Land sich von einer exportorientierten Wachstumsstrategie keine allzu schnellen Erfolge erhoffen sollte.

Keine Entspannung mit Islamabad

Auch außenpolitisch stellen sich 2015 einige Grundsatzfragen. Während Modi gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine Charmeoffensive in seiner Nachbarschaft gestartet und auch dem abgekühlten Verhältnis zu den USA neues Leben eingehaucht hatte, hat sich die Beziehung zu Pakistan deutlich verschlechtert – und daran ist Modi nicht ganz unschuldig.

Hatten er und der pakistanische Premier Nawaz Sharif noch im Sommer Geschenke für ihre Mütter ausgetauscht und damit Hoffnungen geweckt, dass sich etwas bewegen könnte zwischen den verfeindeten Nachbarn, ging es schnell bergab, als Modi ein bilaterales AußenministerTreffen absagte, weil sich Pakistans Botschafter in Indien mit Vertretern einer Separatistengruppe aus dem zwischen beiden Ländern umstrittenen Kaschmir getroffen hatte.

Dahinter steckte eine geänderte Strategie gegenüber Pakistan. „Es ist ein Mythos, dass Modi eine engere Zusammenarbeit mit Pakistan will. Er will eine Beziehung, aber eine, die von klaren roten Linien gekennzeichnet ist und in der Islamabad minimalen Gestaltungsspielraum hat“, schrieb die Hindustan Times nach der Absage des Außenministertreffens (19. August).

Ob Modis Kalkül aufgeht, könnte sich sehr schnell zeigen. Der Abzug 
der NATO-Truppen aus Afghanistan weckt in beiden Ländern die Befürchtung, das Land könnte in Instabilität oder gar einen Bürgerkrieg abgleiten. Dabei hat Pakistan, das eine mehr als 3000 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan teilt, anders als Indien starken Einfluss darauf, wie sich die Sicherheitslage beim Nachbarn entwickelt. Und es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Islamabad nicht nur auf die Regierung in Kabul Einfluss nehmen will, sondern auch daran interessiert ist, das indische Engagement in Afghanistan zu minimieren, auch wenn in der offiziellen Sprachregelung das Wort „strategische Tiefe“ nicht mehr vorkommt.

Es ist mindestens zweifelhaft, ob die Offensive der pakistanischen Armee in Nordwaziristan wirklich auch diejenigen Terrorgruppen bekämpfen soll, die nicht unmittelbar Pakistan bedrohen, wie etwa die pakistanischen Taliban, sondern auch jene, die in Afghanistan im Einsatz sind, wie etwa das Haqqani-Netzwerk. Gar nicht zu reden von Gruppen, die vor allem in Kaschmir kämpfen, wie etwa Lashkar-e-Taiba.

In Indien gibt es daher kaum jemanden, der den Schalmeienklängen des pakistanischen Generalstabschefs Raheel Sharif traut. Bei einem Treffen mit dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani und US-Außenminister John Kerry versicherte der General, dass sich Pakistan um seine innen-politischen Probleme kümmern wolle und daher Stabilität und Frieden in Afghanistan wünsche.

„Realisten in Delhi würden sagen, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass Rawalpindi (der Sitz des Armee-Hauptquartiers) seine Politik ändert“, schrieb C. Raja Mohan, einer der renommiertesten außenpolitischen Denker des Landes, in der Tageszeitung Indian Express (10. Dezember). Er warnte jedoch, dass Indien nicht in der Position sei, mit Pakistan um die Vorherrschaft in Afghanistan zu konkurrieren. Weder habe es eine gemeinsame Grenze mit Afghanistan noch die finanziellen Mittel, die USA dort militärisch zu ersetzen.

Indien solle sich daher in „strategischer Geduld“ üben, wachsam die Entwicklung beobachten, mit allen relevanten Akteuren im Kontakt bleiben und seine knappen Ressourcen bewusst einsetzen. Ein solcher Schritt sei etwa Indiens Entscheidung, sich am lange diskutierten Ausbau des Hafens Chabahar im Südosten des Iran zu beteiligen. Dies würde Indien, dessen Güter auf dem Landweg keinen direkten Zugang zu Afghanistan haben, den Handel über den Seeweg eröffnen.

Indiens „Connect Central Asia“-Politik beinhaltet zahlreiche weitere Initiativen, die darauf zielen, sich politisch und wirtschaftlich in Afghanistan und Zentralasien zu engagieren, ohne Pakistan direkt herauszufordern. Raja Mohan warnt allerdings zu Recht, dass Indien „einen Plan B“ für den Fall brauche, dass die Dinge in Afghanistan wieder außer Kontrolle geraten. Der fehlt leider nicht nur in Neu-Delhi.

Britta Petersen ist Senior Fellow bei der Observer Research Foundation (ORF) in Neu-Delhi.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 134-137

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