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31. Aug. 2018

Nicht länger unverwundbar

Bei den nächsten Wahlen kann Indiens Premier die absolute Mehrheit verlieren

Der indische Premierminister Narendra Modi hat in den vergangenen vier Jahren vieles richtig gemacht – und ist dennoch hinter den haushohen Erwartungen zurückgeblieben. Deshalb könnte seine Partei bei den Wahlen im Frühjahr 2019 ihre absolute Mehrheit verlieren. Was auch an der Mischung aus Hybris und Hindunationalismus in der BJP liegt.

Auf den Cocktailpartys der Mei­nungs­macher in Indiens Hauptstadt Neu-­Delhi ist seit einiger Zeit ein ­neuer Sound zu hören. Es wird darüber spekuliert, wie viele Sitze die regierende Bharatiya Janata Partei (BJP) bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2019 verlieren könnte. Zahlen zwischen 80 und 100 werden ge­raunt, meist mit unverhohlener Schadenfreude – denn dies wäre das Ende der absoluten Mehrheit, die die Partei von Premierminister Narendra Modi 2014 ­gewann. Damals machte die BJP ­keinen Hehl daraus, dass sie ihre Vormachtstellung nach dem fulminanten Wahlsieg für mindestens zehn Jahre zementieren und damit Indien für immer verändern wollte. Zwar ist es noch immer unwahrscheinlich, dass die BJP die Wahlen verliert; aber der Glaube an Modis Unbesiegbarkeit hat Schaden genommen, seit die Partei einige Nachwahlen in wichtigen Bundesstaaten verloren hat.

Dabei hat der indische Premier­minister nicht den einen großen Fehler gemacht, im Gegenteil. Modi hat vieles richtig gemacht – und ist dennoch hinter den haushohen Erwartungen zurückgeblieben, die seine Partei 2014 weckte. Innenpolitisch hat Modi fast alle Themen angepackt, die für die erfolgreiche Entwicklung Indiens wichtig sind. In der Außenpolitik hat er neue strategische Akzente gesetzt und nicht nur durch beherztes Umarmen ausländischer Würdenträger (die so genannten „bear hugs“) Zweifel an seiner Person zerstreuen können.

Wenn Modi heute verwundbar erscheint, liegt das an einer Mischung aus Hybris und Hindunationalismus in seiner Partei, an der er selbst nicht unbeteiligt ist. Kleine Fehler und Fehl­einschätzungen sowie Umsetzungsmängel bei einigen wichtigen Projekten haben sich zu einer Mängelliste aufaddiert, die nicht mehr zu ignorieren ist. Auch wenn dies wohl nicht zum Sturz Modis führen wird, weil die Opposition weder überzeugende Gegenentwürfe noch einen ­besseren Spitzenkandidaten hat, würde bereits der Zwang zu einer Koalitionsregierung die BJP 2019 auf Normalmaß zurückstutzen.

Chaotische Geldentwertung

Wenn es einen Moment geben sollte, der diese Ernüchterung im Land eingeleitet hat, war dies der Abend des 8. November 2016. Da verkündete der Premier live im Fernsehen, dass um Mitternacht alle 500- und 1000-Rupien-Noten, also der Großteil des indischen Geldes, ungültig werden. Die Regierung wolle damit gegen Schwarzgeld und Steuerhinterziehung vorgehen sowie den bargeldlosen Zahlungsverkehr fördern.

Was folgte, waren drei Monate Chaos. Die Menschen mussten mitten in der Nacht aufstehen und endlos in Schlangen vor Bankschaltern und Geldautomaten warten, um ihre alten Scheine einzutauschen oder neue Rupien abzuheben. Dutzende starben beim Warten an Hitzschlag oder Herzinfarkt. Wer nicht über eine Kreditkarte oder Kontakte verfügte, wurde von einem Tag auf den anderen in die Tauschwirtschaft zurückgeworfen.

Das Wirtschaftswachstum fiel in den Monaten nach dieser „Demonetisierung“ genannten Rosskur von 7,9 auf 4,5 Prozent und hat sich seitdem nur mäßig erholt. Nach Angaben des Zentralen Statistikbüros liegt es für 2017 bei 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit nur wenig über dem Wert, mit dem Modis Vorgänger Manmohan Singh von der Kongresspartei krachend die Wahlen verlor.

2018 soll die indische Wirtschaft laut einem Bericht der Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik der Vereinten Nationen (ESCAP) um 7,2 Prozent wachsen. Die Autoren der UN-Studie sind der Auffassung, dass die Einführung der Mehrwertsteuer im Sommer 2017 sowie der Berg notleidender Kredite bei den indischen Banken daran schuld sind, dass das Wachstum nicht stärker Fahrt aufnimmt.

Dabei ist die Einführung der Mehrwertsteuer in einem Land, in dem nur 1,7 Prozent der ­Bevölkerung Einkommensteuer zahlen, eine richtige und wichtige Reform, die bereits von früheren Regierungen versucht worden war. Doch die Umsetzung fiel auch hier holprig aus. Der enorme bürokratische Aufwand hat vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen zu Unmut und Verlusten geführt. Die Frage, ob der Doppelschlag gegen Steuervermeidung und Schwarzgeld am Ende zu wirklich höheren Staatseinnahmen führt, ist daher offen.

Was die faulen Kredite angeht, so haben sich diese nach dem ESCAP-Bericht auf mehr als 100 Milliarden Euro verdoppelt. Das sind etwa 15 Prozent aller Kredite bei indischen Banken. Doch eine beherzte Reform des Bankensektors ist nicht in Sicht. Da die Geldinstitute sich zu 70 Prozent in staatlicher Hand befinden, hat sich ein dichter Filz aus Politik, Bürokratie und Wirtschaft entwickelt, wie der Fall des Diamantenhändlers Nirav Modi (nicht mit dem Premier verwandt) zeigt.

Das Unternehmen hatte von der Punjab National Bank (PNB), der zweitgrößten Bank Indiens, sieben Jahre lang Kredite erhalten, ohne dass jemand bemerkte, dass diese nicht gedeckt waren. Um mindestens 1,4 Milliarden Euro hat Nirav Modi die PNB erleichtert, indem Bankmitarbeiter Bürgschaften ausstellten und dabei kräftig mitverdienten. Ein Bericht des indischen Zweiges der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution spricht von einer „Nabelschnur“, die öffentliche Banken, Politiker und Bürokraten verbinde.

Das macht Reformen kompliziert, von einer Privatisierung der Banken ganz zu schweigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die indische Wirtschaft nicht länger von niedrigen Ölpreisen Rückenwind erhält. Das Land, das 80 Prozent seines Rohölbedarfs importiert, sieht zum ersten Mal, seit Modi an die Macht kam, wieder steigende Preise. Die Rupie fiel kürzlich auf den niedrigsten Wert gegenüber dem Dollar seit 2013, was auch mit dem wachsenden Protektionismus unter US-Präsident Donald Trump zu tun hat.

Nur wenige profitieren

In jedem Fall warnen Experten, dass sich die für Indien bisher sehr günstigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen derzeit ändern. Sollte sich ein Trend zu hoher Inflation und vergleichsweise niedrigem Wachstum im Laufe des Jahres fortsetzen, könnten sich weitere Wähler enttäuscht von der BJP abwenden.

Denn schon jetzt schafft die indische Wirtschaft nicht genug neue Arbeitsplätze. Rund zehn Millionen junge Menschen strömen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation ist die Zahl der Arbeitslosen zwischen 2017 und 2018 von 18,3 Millionen auf 18,6 Millionen gestiegen. Dennoch streiten Ökonomen angesichts der unsicheren Datenlage darüber, ob man wirklich von „jobless growth“ sprechen könne. Arvind Panagariya, der frühere Vizepräsident der Regierungsdenkfabrik NITI Aayog, bezeichnete das „Gerede“ vom Wachstum ohne Arbeitsplätze kürzlich als „Unsinn“. 7,3 Prozent Wachstum könnten nicht allein durch den Einsatz von Kapital entstehen.

Doch auch wenn Indien die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt bleiben sollte, profitieren keineswegs alle Bevölkerungsgruppen davon. Und hier liegt das eigentliche Problem der Regierung. „Fakt ist, dass das reichste 1 Prozent der Bevölkerung 73 Prozent des Wohlstandswachstums einstreicht. Das ist Wachstum, aber es schafft keine Arbeitsplätze“, sagt Mohan Guruswamy, Vorsitzender des Centre for Policy Alternatives, einer Denkfabrik in Neu-Delhi.

Etwa ein Viertel der Bevölkerung arbeitet nach wie vor in der Landwirtschaft. Ihre Einkommen sinken seit Jahren und könnten nach dem Wirtschaftsgutachten 2017/18 des Finanzministeriums aufgrund des Klimawandels um weitere 25 Prozent einbrechen. Bauernproteste, Bauern­selbstmorde und die zum Teil gewalttätigen Demonstrationen einiger Kasten, die von der Regierung verlangen, als benachteiligt anerkannt zu werden, um in den Genuss quotierter Regierungsjobs zu kommen, sind ein Ausdruck dieses Strukturwandels.

Doch die Regierung tut wenig, um die Folgen für die Betroffenen abzufedern. In Modis Vision für sein Land überspringt Indien gleich mehrere Entwicklungsstufen und geht direkt zur digitalen Wirtschaft über. Angesichts der Tatsache, dass weltweit aufgrund der Digitalisierung die Zahl der Jobs zurückgeht, ist dies eine weitblickende Strategie. Viele Reformen der Ära Modi, von der Demonetisierung bis zur Einführung der „Aadhaar Card“, einem biometrischen Ausweis, auf dem alle persönlichen Daten gespeichert sind und der ab diesem Jahr verpflichtend ist, um staatliche Transferleistungen zu beziehen, beruhen auf einem erstaunlichen Vertrauen in die Segnungen neuer Technologien.

„Es ist noch viel zu tun“

Doch da noch immer 17 ­Prozent der indischen Haushalte keinen Strom­anschluss und nur ein Viertel der Inderinnen und Inder einen Internetanschluss haben, kann dies nur langfristig Erfolg versprechen. Auf der anderen Seite lässt die „Make in India“-Kampagne der Regierung, die darauf zielt, internationale Investoren ins Land zu holen und Jobs in der produzierenden Industrie zu schaffen, selbst nach Auffassung ihres Erfinders Amitabh Kant zu wünschen übrig. „Es ist noch viel zu tun“, sagte der Geschäftsführer der Denkfabrik NITI Aayog kürzlich selbstkritisch bei einem Treffen mit Vertretern der indischen Industrie.

Denn Vertreter der Industrie werden ungeduldig. Nach einem Bericht der Zentralbank nutzte die Industrie Ende 2017 aus Mangel an Nachfrage nur 70 Prozent ihrer Kapazitäten. Von zusätzlichen Investitionen kann keine Rede sein. Das Land braucht mehr „ausgebildete Fachkräfte und eine liberale Politik“, um ausländische Investoren anzulocken, meint nicht nur der Chef des Luftfahrtunternehmens ­Boeing India, Pratyush Kumar. Doch mit beidem tut sich die BJP schwer.

Das Gros der Reformen, die die Regierung angestoßen hat, sind etatistisch. Selbst wenn Indien es 2017 geschafft hat, sich auf dem Doing-Business-Index um 30 Plätze nach oben zu hangeln, liegt es weltweit in Sachen Geschäftsfreundlichkeit lediglich im Mittelfeld. Eine Deregulierung des Arbeitsmarkts und eine Reform der Gesetze für den Landerwerb, die den Ausbau der Infrastruktur behindern, lassen weiter auf sich warten. Wer gedacht hat, dass mit Narendra Modi ein Wirtschaftsliberaler an die Macht kam, hat sich getäuscht.

Dies zeigt sich unter anderem auch an den Reformversuchen im Bildungssystem, das eine gigantische Baustelle bleibt. Es produziert chronisch zu wenig Fachleute und zementiert Kasten- und Klassenunterschiede. Schnelle Erfolge wären selbst bei beherzten Reformen nicht zu erwarten, doch der Regierung fehlen überzeugende Konzepte. Die so genannte „Skill India“-Initiative, die vor allem auf Berufsbildung zielt, ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Der zuständige Minister, Rajiv Pratap Rudy, musste vergangenen Herbst zurücktreten. Der Versuch, sehr schnell eine große Zahl qualifizierter Absolventen hervorzubringen, ging am Bedarf der Industrie vorbei.

Stattdessen zieht sich die Regierung an den Hochschulen den Zorn von Studierenden und Professoren zu, weil sie in akademische Belange hineinregiert und kritische Intellektuelle verprellt oder aus Entscheidungspositionen herausdrängt. An Delhis traditionell linker Eliteuniversität JNU sind Studentenproteste und Zusammenstöße mit der Polizei keine Seltenheit mehr.

Auch mit linksliberalen Journalisten steht die Regierung auf Kriegsfuß. Informationsministerin Smriti Irani wollte das Verbreiten von Fake News mit bis zu sechs Jahren Gefängnis und dem Verlust der Akkreditierung bestrafen. Doch Modi persönlich kassierte den Gesetzentwurf innerhalb von 24 Stunden und Irani verlor ihren Job.

Dennoch ist eine wachsende Schar von Kritikern der Meinung, dass die BJP sich von dem Versprechen auf Wachstum und Wohlstand verabschiedet hat. Stattdessen würde sich die Partei darauf verlegen, Ressentiments gegen Minderheiten zu schüren, um die Mehrheit der Hindus 2019 an der Wahlurne hinter sich zu vereinen. Doch diese Argumentation erscheint zu einfach angesichts der Vielzahl ehrgeiziger Reformprojekte, die die Regierung weiterhin vorantreibt.

Effektive Wahlkampfmaschinerie

Es lässt sich aber nicht von der Hand weisen, dass Modi seinen Wahlsieg 2014 auch einer effektiven Wahlkampfmaschinerie verdankt, die seine Partei unter ihrem Vorsitzenden Amit Shah entwickelt hat. Perfektionistische Planung, professioneller Einsatz sozialer Medien und ein landesweites Netzwerk von „Sewaks“ (Freiwilligen) der hindunationalistischen Vorfeldorganisationen RSS (Nationales Freiwilligencorps), VHP (Welt-Hindurat) und der Jugendorganisation Bajrang Dal sind die Säulen ihres Erfolgs.

Vor allem die „Sewaks“ sind der Meinung, dass der Wahlsieg der BJP auch ein Mandat für ihre hindunationalistische Ideologie sei. Wie der Journalist Prashant Jha in seinem Buch „How the BJP Wins. Inside India’s Greatest Election Machine“ darlegt, glauben sie, dass die BJP in einem Land mit 80 Prozent Hindus nur das Image ablegen müsse, eine Partei der oberen Kasten zu sein. Doch die Hoffnung, dass eine derart „konsolidierte“ Hinduwählerbasis die Partei von Wahlsieg zu Wahlsieg tragen werde, unterschätzt die Diversität der indischen Gesellschaft und ist im Kern antipluralistisch.

Kampf der Kulturen

Der Aufstieg des als Hindufundamentalist bekannten Mönches Yogi Adityanath zum Ministerpräsidenten im größten indischen Bundesstaat, Uttar Pradesh, ist in dieser Lesart eine Konzession Modis an die radikalen Elemente im Umfeld der BJP sowie ein Experiment, wie weit antimuslimische Rhetorik und Politik gehen können. Nicht nur in Uttar Pradesh sind brutale Angriffe auf Muslime inzwischen an der Tagesordnung, oft aufgrund des Verdachts, dass diese Rindfleisch verzehren oder „heilige Kühe“ schlachten.

Landesweit sind Vorfälle kommunaler Gewalt zwischen 2014 und 2017 um 28 Prozent gestiegen. Dies hat eine Analyse von Zahlen des Innenministeriums durch „India­Spend“ ergeben, einer auf Datenjournalismus spezialisierten Organisation in Mumbai. Doch das zynische Kalkül, Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, ist keine Spezialität der BJP. Laut „IndiaSpend“ kamen die meisten Vorfälle kommunaler Gewalt in den vergangenen zehn Jahren 2008 vor, also unter der Kongressregierung.

„Die BJP repräsentiert noch immer das aufstrebende Indien“, meint Suhas Palshikar, Professor für Politikwissenschaft in Pune. In der Tat hat die oppositionelle Kongresspartei ein Problem, nicht nur weil ihr Spitzenkandidat Rahul Gandhi unerfahren und zahm wirkt. Als Erbe der Nehru-Gandhi-Dynastie – und nur dieser Tatsache verdankt er seine Position – wirkt er im modernen Indien wie aus der Zeit gefallen.

Selbst wenn die Kongresspartei ein überzeugendes politisches Programm hätte, könnte Gandhi die Ambitionen des jungen Indien nicht verkörpern. Seine Botschaft ist durch den dynastischen Charakter der Partei gefangen in einer Zeit, in der es ausreichte, durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen das dürftige Überleben der Armen zu sichern.

Doch auch Narendra Modi ist nicht unverwundbar. Die BJP werde deshalb unabhängig vom Erfolg ihrer Wirtschaftspolitik die nächsten Wahlen zu einem Kulturkampf stilisieren, meint Suhas Palshikar. Die Unsicherheit über die Wirtschaftslage mache die Wähler anfällig für kulturelle Ängste. Es sei diese Mischung der BJP-Politik, auf die die Kongress­partei keine Antwort finde.

Britta Petersen ist Senior Fellow bei der Observer Research Foundation (ORF), einem Think Tank in Neu-Delhi.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 100 - 105

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