Ein neues Indien
Der wiedergewählte Premierminister Modi punktet mit Entschlossenheit
Die überraschend deutliche Wiederwahl Narendra Modis zum Premierminister und der mehr oder weniger landesweite Durchmarsch seiner hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP) an den Wahlurnen bestimmten im Frühsommer die Berichterstattung indischer Medien. Zu Recht, denn Modi hatte bereits bei seinem überwältigenden Wahlsieg 2014 angekündigt, dass er zehn Jahre brauchen werde, um das Land nach seinen Vorstellungen zu verändern.
Trotz einer eher gemischten Erfolgsbilanz und mancherlei Kritik haben die indischen Wählerinnen und Wähler dem ehemaligen Teeverkäufer und Ministerpräsidenten des Bundesstaats Gujarat nun dieses Mandat erteilt. Dabei waren sich die Kommentatoren des politischen Spektrums von rechts bis links einig, dass der Sieg vor allem auf Modis persönliche Popularität zurückzuführen sei.
„Die einzige authentische Analyse dieser Wahl besteht aus zwei Worten – Narendra Modi“, schreibt der Politikwissenschaftler und Vizekanzler der Ashoka Universität, Pratap Bhanu Mehta, in einem Artikel für den Indian Express (24. Mai). „Modi hat die Wähler davon überzeugt, dass er Indiens Schicksal schreiben kann und sie waren froh, ihm ihr Schicksal zu übertragen“, so Mehta. Modi habe gewonnen, weil er „Alternativen undenkbar gemacht“ habe.
Doch Modis Popularität und die überaus professionelle Wahlkampfmaschinerie der BJP allein können nicht erklären, warum die Opposition mit der Kongress-Partei an der Spitze für die große Mehrheit der Inderinnen und Inder nicht als Alternative infrage kam. Es bestehen zwar kaum Zweifel daran, dass der Kongress-Kandidat Rahul Gandhi im Vergleich zu Modi blass und weich wirkt. Doch unter der BJP-Regierung ist das Wirtschaftswachstum 2018/19 nach offiziellen Angaben auf 7 Prozent zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit bleibt hoch und die Landwirtschaft steckt in einer Dauerkrise.
Einig sind sich die Kommentatoren darin, dass Modi überaus erfolgreich die Kriegstrommeln gerührt und den Nationalismus propagiert hat, um die wirtschaftlich magere Bilanz zu maskieren. Geholfen haben ihm dabei vor allem: Pakistan und ein Attentat, das im Februar, zu Beginn der heißen Wahlkampfphase, verübt wurde: ein Angriff auf einen Konvoi der indischen Armee im Distrikt Pulwama in dem konfliktträchtigen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Der Selbstmordattentäter, der 40 indische Soldaten mit sich in den Tod riss, stammte zwar selbst aus Kaschmir, war aber auch Mitglied der in Pakistan ansässigen Terrororganisation „Jaish-e-Mohammed“ (JeM). Premierminister Modi fackelte nicht lange.
Zum ersten Mal in der Geschichte Indiens setzte sich eine Regierung in Delhi über die Angst vor einer nuklearen Eskalation zwischen den beiden Atommächten hinweg und reagierte mit einem konventionellen militärischen Konter auf einen Terrorangriff aus Pakistan.
Militärschlag mit Signalwirkung
Zwölf indische Kampfflugzeuge des Typs „Mirage 2000“ bombardierten Trainingslager der JeM in Balakot in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa – und damit weit entfernt von der umstrittenen „Line of Control“, der Grenze zwischen dem pakistanischen und dem indischen Teil Kaschmirs. Ob dabei wirklich 300 Terroristen ums Leben kamen, wie indische Medien behaupteten, ist zu bezweifeln.
Doch der Militärschlag hatte Signalwirkung – und war in Indien seit Langem gedanklich vorbereitet worden: „Ich habe über Jahre hinweg geschrieben, dass (…) wir nur dann vom Rest der Welt ernst genommen werden, wenn wir mit Härte und Entschlossenheit (auf den Terrorismus) reagieren. Das wird uns kein öffentliches Lob einbringen, aber man wird anerkennen, dass wir es ernst meinen“, schreibt der frühere Chef des indischen Auslandsgeheimdiensts „Research and Analysis Wing“ (RAW) Vikram Sood auf der Meinungsplattform „DailyO“ (26. Februar).
In einem Kommentar desselben Autors in der Economic Times heißt es, dass „Pakistan und nicht nur JeM für den Anschlag in Pulwama“ verantwortlich sei. „Pakistan ist das einzige Land, das Terroristen ermutigt, Soldaten und Zivilisten in allen drei Nachbarländern ohne Vergeltung zu töten“, argumentiert Sood. „Dies hat sich jetzt geändert.“ (1. Mai)
Wohl wissend, dass Indiens Angriff das etablierte Modell atomarer Abschreckung zwischen den beiden Ländern infrage stellt, reagierte Pakistan umgehend mit dem Abschuss zweier indischer Kampfflugzeuge im Luftraum über dem pakistanischen Teil Kaschmirs. Dabei wurde der indische Geschwaderkommandant Abhinandan Varthaman gefangen genommen, was zu einem wahren Feuerwerk patriotischer Berichterstattung in den indischen Medien führte.
Durch die Freilassung Varthamans einen Tag später hatte Indien nun auch noch einen lebenden Kriegshelden – und Modi sein alles dominierendes Wahlkampfthema. „In der Wahlkampagne von 2019 ging es um Entschlossenheit und Aggression, darum, sich nicht von Nuklearwaffen und Terrorismus erpressen zu lassen, zurückzuschlagen, um Indien und die Inder um jeden Preis zu verteidigen“, schreibt der Pakistanexperte Sushant Sareen auf der Meinungsplattform „DailyO“ (30. Mai). „Damit wurde der richtige Ton bei den indischen Wählern getroffen, die zu einem entschlossenen Führer aufschauen – und nicht zu einem verweichlichten NGO-Vertreter, der herumgeht und allen erzählt, dass er sie lieb hat.“ Solange die Kongress-Partei diese Lektion nicht lerne und ihren „nationalistischen Anker“ nicht wiederfinde, werde sie weiter sinken.
Das überholte Modell
Doch Sareens Krokodilstränen treffen nur einen wunden Punkt der Kongress-Partei. Tatsächlich hat sie, die über Jahrzehnte hinweg mit Jawaharlal Nehru, seiner Tochter Indira Gandhi und ihrem Sohn Rajiv indische Premierminister stellte und auch unter Indiras Schwiegertochter Sonia und dem von ihr erwählten Premierminister Manmohan Singh die Regierung bilden konnte, an fast allen Fronten den Bezug zur indischen Realität verloren.
Rahul Gandhi markiert in dieser Lesart nicht nur das Ende einer politischen Dynastie. Der Journalist Praveen Swami ist der Auffassung, dass die Kongress-Partei für ein ganzes Politik- und Gesellschaftsmodell steht, das sich überholt hat. Danach stand die Nehru-Gandhi-Dynastie jahrzehntelang im Zentrum eines „Universums“, in dem sich eine „dynastische Elite“ über gemeinsame Bildungseinrichtungen und die englische Sprache Zugang zu den Staatsressourcen verschafft habe und fortan Regierung, Universitäten, Justiz, Kultur und Medien dominierte.
Doch die wirtschaftliche Öffnung Indiens seit Anfang der 1990er Jahre, so Swami, habe dazu geführt, dass innerhalb einer Generation die „fundamentalen Elemente der sozialen Ordnung“ ins Wanken geraten seien, insbesondere die traditionelle Familienstruktur. Der „anämische“ indische Staat könne die damit verbundene Unsicherheit nicht ausgleichen. Modi habe „wie jeder Politiker der Rechten weltweit“ erfolgreich Traditionen heraufbeschworen, die in einer „fragmentierten, wenn nicht gar unverständlichen Welt“ Orientierung versprechen. „Rahul (Gandhi) und seine Berater haben es versäumt, zu den Hoffnungen und Befürchtungen dieses neuen Indien zu sprechen, weil sie es nicht können. Sie sind ohne Ausnahme Bürger einer Welt, die nicht mehr existiert“, schreibt Swami auf der Nachrichtenseite „Firstpost“ (27. Mai).
Zeichen einer Hindu-Herrschaft?
Dabei ist auch der hindu-nationalistische Diskurs in Indien, wie andere Diskurse der neuen Rechten, eine Aneignung der Vergangenheit im Dienst der Gegenwart. Während der erste Wahlsieg Narendra Modis 2014 mit dem Slogan „Die guten Tage kommen“ noch dem Versprechen geschuldet war, Wohlstand für alle zu bringen, bediente Modi 2019 rhetorisch das breite Spektrum der als „Sangh Parivar“ bekannten Familie hindu-nationalistischer Organisationen, zu der auch die BJP gehört.
Kaum jemand kennt den „Sangh“ besser als Modi, der seinen politischen Aufstieg in der Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) begann. Die am heftigsten diskutierte Frage in Indien ist daher, ob die Regierung „Modi 2.0“ tatsächlich den Versuch unternehmen wird, den säkularen, multireligiösen Vielvölkerstaat Indien in ein „Hindu Rashtra“, eine Herrschaft der Hindus, zu verwandeln – wie von den Vordenkern der RSS regelmäßig gefordert.
Zwar haben Berichte über eine Zunahme von Lynchmorden an Muslimen wegen vermeintlichen Rindfleischkonsums unter gläubigen Hindus und Liberalen widerstreitende Emotionen geschürt. Auch die Wahl der des Terrorismus verdächtigen RSS-Hardlinerin Pragya Singh Tharkur in das Parlament in Neu-Delhi lässt Schlimmstes befürchten. Doch es ist bisher nicht ausgemacht, wie weit Modi in dieser Frage gehen und was er eigentlich überhaupt will.
Eher Heiliger denn Kämpfer
„Es wäre ein Fehler, Modis Wiederwahl als Rückkehr des Safran-Fundamentalismus zu bezeichnen“, schreibt Rahul Shivshankar in der Times of India (7. Juni). Es habe unter Modi keine breitflächigen kommunalen Unruhen gegeben. Zwar sei nicht zu leugnen, dass Hindu-Hardliner Druck machten, um die muslimische Vergangenheit Indiens zu beseitigen, doch hiergegen gebe es in den meisten Fällen Widerstand. Stattdessen habe Modi es geschafft, „eine große Zahl von Hindus davon zu überzeugen, dass die von der Opposition propagierte Version des Säkularismus eine Geringschätzung des Hinduismus darstellt“.
Shivshankar ist wie viele Rechtsintellektuelle der Auffassung, dass damit nicht einfach Ressentiments gemeint sind. Statt Hindutva (Hindu-Nationalismus), so der Chefredakteur des Fernsehsenders „Timesnow“, propagiere Modi „Hinduheit“. Diese sei „in ihrer reinsten Form“ etwas anderes als Religion. Hiermit spielt der Autor auf den Begriff „Sanatana Dharma“ an. Dieser bezieht sich auf den hinduistischen Lebensstil, der der Kolonialisierung vorausging und der sich von den Dogmen der monotheistischen Religionen unterscheidet. Modi habe deshalb dem früheren Wahlslogan „Sabka Saath, Sabka Vikas“ (Hindi: Entwicklung für alle) den Zusatz „Sabka Vishwat“ (Vertrauen für alle) hinzugefügt.
Tatsächlich deuten die Fotos, die Modi einen Tag vor Ende des Wahlprozesses von sich machen ließ und die ihn beim Meditieren in einer Höhle im Himalaya zeigen, darauf hin, dass er sich eher als Heiliger denn als aggressiver Hindutva-Kämpfer präsentieren will. Was dies im Einzelnen heißt, werden die nächsten fünf Jahre zeigen. Doch dass es etwas anderes ist als die „Idee Indiens“, die die Gründerväter Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi propagierten, ist klar.
„Ideen können gemacht werden und sich auflösen. Diese Unbeständigkeit ist es, die die Möglichkeit für neue Vorstellungen eröffnet“, schreibt die Historikerin Ravinder Kaur im Indian Express (7. Juni). „Der erste Schritt besteht darin anzuerkennen, dass die Idee Indiens ihren Wert als politisches Zahlungsmittel verloren hat.“
Britta Petersen ist Senior Fellow bei der Observer Research Foundation (ORF), einem Thinktank in Neu-Delhi.
Internationale Politik 4, Juli/ August 2019, S. 134-137