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01. Sep 2021

Mit Fragezeichen im Systemwettbewerb

Angela Merkel versprach einst eine „neue Gründerzeit“. Die muss ihren Nachfolgern nun gelingen, damit Deutschland gegen Autokratien wie China bestehen kann.

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Bild: Angela Merkel im Fond ihrer Limousine
Angela Merkel hat außenpolitisch auch von der relativen Schwäche anderer in Europa profitiert; nun fällt einer 
neuen Bundesregierung die Aufgabe zu, den Deutschen „die Wirklichkeit einer raueren Welt zuzumuten“.
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Den ökonomischen Kampf haben die Marktwirtschaften für sich entschieden. Damit ist aber nicht ein für alle Mal der Wettbewerb der Systeme gewonnen“, sagte Angela Merkel vor gut einem Jahrzehnt. Die Kanzlerin, die laut ihrem Biografen Stefan Kornelius „so gerne vergleicht und ihre Systemstudien anstellt“, hat einen besorgten Blick auf das Modell Demokratie und soziale Marktwirtschaft. Merkel zitierte schon 2013 gern Statistiken, nach denen Europa für 7 Prozent der Weltbevölkerung steht und 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung (beides mit abnehmender Tendenz), aber 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. Merkel mahnte: „Wir können unseren Wohlstand wirklich nur dann halten, wenn wir innovativ sind und wenn wir uns an den Besten orientieren.“



Merkel hätte hinzufügen können, dass dies auch für die Außenpolitik gilt. Deutsche und europäische Außenpolitik ist nur dann durchsetzungsfähig, wenn sie auf der wirtschaftlichen, klimapolitischen, technologischen und gesellschaftlichen Strahlkraft des Systems offene Gesellschaft, Demokratie und soziale Marktwirtschaft aufbauen kann. Die nun abtretende Bundeskanzlerin befürchtet, so schrieb Kornelius schon 2013, dass „das freiheitliche System nicht überleben könnte, dass Demokratie und Marktwirtschaft am Ende zu schwach sein könnten“. Ihre Botschaft sei: „Der Härtetest für die Freiheit steht dem Westen noch bevor.“



Dem Härtetest im Systemwettbewerb wird sich Merkels Nachfolgerin oder Nachfolger im Kanzleramt stellen müssen. Obwohl Merkel die Systemsorge in ihrer Amtszeit persönlich sehr umgetrieben hat, hat sie das Land darauf mental schlecht vorbereitet. Merkel selbst übersetzte ihre Sorgen selten in eine konkrete politische Agenda.



„In Gedanken ist Merkel eine Revolutionärin, die findet, dass alles viel schneller gehen muss“, befand Spiegel-Journalist René Pfister. Doch meist behielt Merkel die revolutionären Gedanken für sich und versuchte erst gar nicht, die Bevölkerung für eine ambitionierte Erneuerungsagenda zu gewinnen und dafür politische Mehrheiten zu organisieren. Merkel scheute aus eigener Erfahrung die politischen Kosten, eine aus ihrer Sicht veränderungsresistente westdeutsche Bevölkerung mit einer ambitionierten Agenda zu konfrontieren.

Als Oppositionsführerin hatte sie sich einmal die Finger verbrannt. 2003 brachte Merkel die CDU dazu, eine weitreichende Reformagenda zu verabschieden als Vorbereitung auf den nächsten Wahlkampf. Wer Merkels Rede auf dem CDU-Parteitag in Leipzig im Dezember 2003 heute liest, ist erstaunt vom kämpferischen Ton, vom Aufbruchsgeist der „zweiten Gründerjahre“, den Merkel beschwor: „Wir, die Christlich Demokratische Union Deutschlands, haben die programmatische Kraft, den geistigen Führungsanspruch und den politischen Gestaltungswillen, Deutschland wieder nach vorne zu bringen! Denn Deutschland kann mehr.“



„Setzen wir die Kräfte des Aufbruchs frei“, rief sie aus und sprach von notwendigen Reformen in allen zentralen Bereichen, „und zwar an Haupt und Gliedern“. Sie zeichnete das Bild von einem Land, das zurückgefallen war und das sich den „unumkehrbaren“ Realitäten von globalem Wettbewerb und technologischer Revolution stellen muss: „Die Wahrheit ist schonungslos und deshalb kann sie gar nicht oft genug beim Namen genannt werden: Deutschland steht am Scheideweg. Die Alternative steht fest, liebe Freunde: Entweder vom Wandel überrollt werden, oder den Wandel gestalten.“



Diesen Ton hat man von Merkel als Kanzlerin nie wieder gehört. Das hatte gute Gründe, denn 2005 verpasste sie fast den sicher geglaubten Wahlsieg gegen Gerhard Schröder. Der damalige Amtsinhaber legte im Wahlkampf eine beeindruckende Aufholjagd hin, auch indem er die soziale Kälte von Merkels Reformagenda angriff. Merkel wurde mit nur knappem Vorsprung Kanzlerin. Und zog daraus die Lehre, dass man Wahlen in Deutschland leichter gewinnt, wenn man den Wählern Wohligkeit und nicht einen Umbau „an Haupt und Gliedern“ verspricht.



Merkel kam dabei zur Hilfe, dass sich die wirtschaftliche Lage in ihrer Regierungszeit zum Besseren wendete. Aus hohen Arbeitslosenzahlen und hohen Haushaltsdefiziten in den Schröder-Jahren wurden ein boomender Arbeitsmarkt sowie volle Staatskassen über weite Zeit der 16 Merkel-Jahre. Dies passierte alles ohne tiefgreifende Reformen der Arbeits-, Sozial- und Bildungssysteme oder massive Investitionen in Forschung und Entwicklung, Digitalisierung oder öffentliche ­Infrastruktur.



Die eigentümliche Krisenkanzlerin

Merkel war die Krisenkanzlerin, die Deutschland durch Finanz- und Eurokrise, Flüchtlings- und Coronavirus-Krise steuerte. Aber wirtschaftlich fühlten sich die Merkel-Jahre für die meisten Deutschen nicht nach Krise an. Im Gegenteil: Sie waren goldene Jahre des Modells Deutschland. Die exportorientierte Wirtschaft war sowohl in der Eurozone als auch global sehr erfolgreich in den industriellen Kernsektoren. Und es waren Jahre politischer Stabilität. Den Erosionserscheinungen der Volksparteien zum Trotz konnte sich Merkel über vier Legislaturperioden an der Spitze halten.



Beides, die wirtschaftliche Kraft und die relative politische Stabilität, waren Grundlage dafür, dass Deutschlands ­außenpolitische Bedeutung während der Merkel-Jahre rapide gewachsen ist. Viele in Berlin erlebten es so, als sei man plötzlich das „neue Brüssel“ oder das „neue Paris“: der Ort, an dem anscheinend die maßgeblichen europäischen Entscheidungen getroffen werden. Aber es waren im Endeffekt weniger deutsche Stärke oder besondere außenpolitische Akzente, sondern die relative Schwäche der anderen in Europa (allen voran Frankreichs), die den Grundstein für die neue Bedeutung Berlins während der Merkel-Jahre legte (insbesondere vor dem Amtsantritt Macrons).



Deutschland geht mit vielen Fragezeichen in die Post-Merkel-Ära. Die Merkel-Jahre waren nicht die von ihr 2003 avisierten „zweiten Gründerjahre“. Das Beispiel BioNTech – ein deutsches Unternehmen, das weltweit führend in einer neuen Technologie ist – ist die Ausnahme. Gesamtwirtschaftlich ist unklar, wohin die Reise geht. Bei vielen neuen Technologien sind Deutschland und Europa nicht führend. Ob die deutsche Industrie beim Sprung ins klimaneutrale Produzieren international mithalten kann, entscheidet sich in den nächsten Jahren. Der ­klimagerechte Umbau wird zu politischen Verwerfungen führen, knappere öffentliche Kassen werden politische Kompromisse schwerer machen. Dass in einem in der ersten Phase weitgehend blutarmen Bundestagswahlkampf nach Umfragen eine Mehrheit der Wähler keiner Partei zutraut, die Probleme des Landes zu lösen und keinen der drei Kanzlerkandidaten überzeugend findet, gibt zu denken. Politische Turbulenzen mit einem weiter erodierenden Parteiensystem sind kein unwahrscheinliches Szenario.



Weder wirtschaftliche Stärke noch politische Stabilität, die beiden Grundpfeiler außenpolitischer Stärke in der Merkel-Ära, sind garantiert. Gleichzeitig verspricht der Wind des Systemwettbewerbs stürmischer zu werden, sowohl von innen wie von außen. Demokratie, offene Gesellschaft und soziale Marktwirtschaft werden von autoritären Kräften herausgefordert, zum Teil bereits von innen.



In manchen EU-Staaten wie Ungarn sitzen die Kräfte schon an den Hebeln der Macht, ebenso im NATO-Partnerland Türkei. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA könnte der Trumpismus erneut siegen. Der Kreml, wenngleich wirtschaftlich schwach und korrupt, fordert europäische Demokratie und offene Gesellschaft immer mehr heraus. Und der chinesische Parteistaat zeigt, dass man einen immer radikaleren Autoritarismus mit wirtschaftlichem Erfolg verbinden kann. Deshalb ist der autoritäre Staatskapitalismus chinesischer Prägung die schwierigste Herausforderung im Systemwettbewerb, auf die sich Deutschland und Europa einstellen müssen.



Alle drei Kanzlerkandidaten haben dies im Wahlkampfjahr zum Thema gemacht. Armin Laschet sprach in der Corona-Pandemie von einem „Systemwettbewerb mit China“. Annalena Baerbock formulierte in einem gemeinsamen Beitrag mit Robert Habeck: „Wir befinden uns in einem globalen Systemwettbewerb zwischen demokratischen und autokratischen Systemen.“ Und Olaf Scholz sagte in einer Rede bei der DGAP: „Wir erleben in der Tat einen neuen Wettbewerb der Systeme, den wir aber selbstbewusst und engagiert angehen können.“ Um im Systemwettbewerb wirklich „selbstbewusst und engagiert“ auftreten zu können, ist eine Stärkung defensiver wie offensiver Maßnahmen nötig.



Defensive Maßnahmen

Autoritäre Systeme gehen nicht nur gegen Kritik von innen rabiat vor, sondern schotten sich auch gegen missliebige Einflüsse von außen ab. Russland etwa überzieht ausländische Nichtregierungsorganisationen mit Verboten. China schränkt die Arbeit unabhängiger ausländischer Journalisten immer weiter ein und hat Sanktionen gegen missliebige Forscher verhängt, wovon beispielsweise das Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin betroffen ist. Geduldete Forschungskooperation dient Peking primär dazu, systematisch eigene technologische und wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.



Demokratien sind dagegen weitgehend offen. Autoritäre Systeme nutzen die Asymmetrie der einseitigen Offenheit zur Einflussnahme, sei es durch Desinformation und Propaganda, den Aufbau wirtschaftlicher Abhängigkeiten oder durch das „Einkaufen“ demokratischer Eliten aus Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, sei es durch Geschäftsbeziehungen, Lobbyismus oder Korruption.



Eine wichtige Antwort darauf ist Transparenz. PR-Agenturen, Lobbyisten, Wissenschaftler, Anwälte, Banker und andere Dienstleister sollten verpflichtet werden, offenzulegen, wenn sie im Auftrag autoritärer Systeme und deren Unternehmen agieren. Die neue Bundesregierung sollte ein entsprechendes Transparenzregister für verpflichtende Meldungen auf den Weg bringen. Transparenz ermöglicht dann, dass eine kritische Öffentlichkeit diese Beziehungen informierter diskutieren kann. Zudem sollten staatliche sowie alle der offenen Gesellschaft verpflichtete private Institutionen diese Informationen bei der Vergabe von Aufträgen berücksichtigen.



Die neue Bundesregierung sollte in Kooperation mit den Ländern darauf dringen, dass öffentlich geförderte Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland und Europa keine Gelder aus Nichtdemokratien annehmen. Dass etwa die Freie Universität Berlin Geld vom chinesischen Staat für die Einrichtung einer Professur annimmt, zeigt, wie weit sie sich von den Gründungsidealen entfernt hat. Zumindest jedoch sollten Universitäten und auch Thinktanks Gelder offenlegen müssen, die sie aus Nichtdemokratien erhalten. Aktivisten sollten nicht in mühseliger Kleinarbeit durch kostspielige Informationsfreiheitsanfragen solche Angaben erstreiten müssen, wie es beispielsweise David Missal für chinesisches Geld an deutschen Universitäten tut.



Das Gift der Korruption

Stärkere Korruptionsbekämpfung ist eine weitere Priorität. Autoritäre Staaten nutzen „strategische Korruption“ als Waffe zur politischen Einflussnahme, wie beispielsweise die Skandale um deutsche Politiker gezeigt haben, die Gelder aus Aserbaidschan erhielten. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden hat auch aus diesem Grund den Kampf gegen Korruption zu einem Schwerpunkt gemacht, auch im Rahmen des im Dezember 2021 erstmals stattfindenden „Gipfel für Demokratie“. Biden bittet teilnehmende Staaten dabei um die Vorstellung eigener Beiträge. Die Bundesregierung sollte die Intensivierung des eigenen Kampfes gegen „strategische Korruption“ und kleptokratische Netzwerke als eigene Initiative vorstellen. Dazu gehört es auch, investigativen Journalismus und Forschung zum Thema zu fördern. Dass demokratische Eliten sich an autoritäre Staaten verkaufen oder von ihnen kaufen lassen, untergräbt das Ansehen der Demokratie.



Deutschland muss sich nicht sorgen, den Systemwettbewerb mit Kleptokratien wie Aserbaidschan zu verlieren. Aber strategische Korruption durch Aserbaidschan ist Gift für das Vertrauen in demokratische Eliten. Es ist auch Wasser auf die Mühlen des Kremls. Dieser möchte nicht das eigene System als tugendhafter darstellen, sondern Demokratien als mindestens genauso korrupt wie das eigene System „entlarven“. Auch wenn es sich nicht um nachweisbare Korruption handelt, wie im Falle des Engagements von Altbundeskanzler Gerhard Schröder für Rosneft und die Nord-Stream-Pipeline, ist der Schaden durch den Ausverkauf demokratischer ­Eliten immens.



Umso wichtiger ist es, dass sich die neue Bundesregierung klar von solchen Aktivitäten distanziert. Ehemaligen Politikern wie Rudolf Scharping, die ihre Kontakte mit einem eigenen Beratungsunternehmen zu Geld machen und dabei als Interessenvertreter etwa des chinesischen Parteistaats fungieren, sollte der informelle Zugang zu Informationen aus Ministerien verwehrt werden. Auch sollten Politiker und andere die Teilnahme als Redner bei Veranstaltungen etwa von Scharpings Beratungsfirma wie der „Deutsch-Chinesischen Wirtschaftskonferenz“ verweigern. Das würde die Geschäfte derjenigen erschweren, die sich als Türöffner für autoritäre Systeme verdingen. Und Angela Merkel kann dem Land einen großen Dienst erweisen, indem sie auch als Altkanzlerin das Gegenmodell zum einzigen noch lebenden Altkanzler Schröder verkörpert: sich unbestechlich und an persönlichem Reichtum uninteressiert in den Dienst des öffentlichen Guts stellend, statt als gieriger Handlanger für Autoritäre zu fungieren.



Ein weiteres zentrales Ziel sollte die Reduktion wirtschaftlicher Abhängigkeiten von autoritären Systemen sein, sei es bei Wertschöpfungsketten oder Absatzmärkten, um Deutschland davor zu schützen, dass Systemrivalen diese als Waffe einsetzen. Unternehmen, die sich etwa überproportional von China als Absatzmarkt abhängig machen, muss klar signalisiert werden, dass die Politik darauf bei Positionierungen gegenüber Peking keine Rücksicht nehmen wird. Die nächste Bundesregierung sollte auch deutsche Unternehmen bei der Diversifizierung unterstützen, um wo nötig ­Abhängigkeiten von einzelnen Märkten wie China zu verringern. Dass Bundeskanzlerin Merkel bei der Sicherheit der kritischen Infrastruktur 5G Abstriche machen wollte und sich für die Zulassung des Hochrisikoanbieters Huawei ausgesprochen hat, weil sie Sanktionen gegen deutsche Unternehmen in China befürchtete, darf sich nicht ­wiederholen.



Deutschland sollte bei der Investitionskontrolle nicht nur auf den Ausverkauf von Technologie achten, sondern auch darauf, dass gerade im Bereich Infrastruktur die Gefahr von Abhängigkeiten vermieden wird. Die vom Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher ausgegebene Devise mit Blick auf die Beteiligung des ­chinesischen Terminalbetreibers Cosco am Hamburger Containerterminal zeigt, dass es noch Lernbedarf gibt: „Was unternehmerisch sinnvoll ist, muss auch praktisch möglich sein und gemacht werden“ – das kann nicht die Devise sein in sensiblen Bereichen.

Zudem braucht es einen kollektiven Sicherheitsmechanismus unter gleichgesinnten Staaten gegen wirtschaftliche und politische Zwangsmaßnahmen, insbesondere durch China. Demokratien müssen zusammenstehen und Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn Peking Australien durch wirtschaftliche Bestrafungsmaßnahmen unter Druck setzt oder kanadische Staatsbürger als Geiseln nimmt, um Druck auf die Regierung in Ottawa auszuüben.



Es stimmt, dass nicht nur Autokratien wie China, sondern auch die USA Abhängigkeiten als Waffe benutzen, auch gegenüber Verbündeten. Die US-Sanktionen gegen Europa mit Blick auf den Iran und die Gaspipeline Nord Stream 2 sind dafür Beispiele. Umso wichtiger wäre ein Übereinkommen mit der Biden-Regierung, Sanktionen nicht als Waffe unter Demokratien einzusetzen.



Investitionen in eigene Stärken

Defensive Maßnahmen sind notwendige Bedingung für das erfolgreiche Bestehen im Systemwettbewerb mit autoritären Systemen, aber nicht hinreichend. Entscheidend ist das Investieren in eigene Stärken. Dabei sind die „neuen Gründerjahre“, die Merkel einst für ihre erste Amtszeit avisiert hatte, ein gutes Leitbild für die Post-Merkel-Jahre. Das mag angesichts des vielen Klein-Kleins im Wahlkampf vermessen klingen, doch genau diesen Aufbruchsgeist braucht Deutschland jetzt.



Demokratie, soziale Marktwirtschaft und offene Gesellschaft müssen wieder in die Offensive kommen, national wie international. Das erfordert massive Investi­tionen, um Staat, Industrie und Gesellschaft besser für digitale Transformation und Dekarbonisierung aufzustellen. Anders als bei Merkels noch von der neo­liberalen Anpassung an die Globalisierung geprägten Überlegungen von 2003 hat der Staat hierbei eine starke Rolle zu spielen.



Bei jedem der drei Kanzlerkandidaten ist das im Prinzip programmatisch angelegt: ob Laschets „Modernisierungsjahrzehnt“ oder die „Investitionsoffensiven“ von Baerbock und Scholz. Für eine neue Koalition gilt es, dies mit Leben zu füllen und sich dabei auch nicht von bestehenden bürokratischen Regelzwängen einschränken zu lassen. Die bisherigen Erfahrungen mit der Agentur für Sprunginnovation, die durch bestehendes Regelwerk für öffentliche Institutionen gefesselt ist, zeigen dies deutlich. Nur wenn Deutschland und Europa sich die Technologieführerschaft sichern, können sie nachhaltig Standards für neue Technologien in ihrem Sinne prägen, auch gegenüber Systemkonkurrenten wie China. Und je stärker Deutschland und Europa wirtschaftlich und technologisch sind, desto mehr können sie diese Stärke für eine effektivere Politik in internationalen Institutionen nutzen.



Auch im Multilateralismus spielt die Systemkonkurrenz eine große Rolle. In Institutionen gleichgesinnter Demokratien wie der EU muss Deutschland sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass Mitgliedstaaten gemeinsam vereinbarte Standards der Rechtsstaatlichkeit einhalten. Hier gilt es, aus dem Scheitern gegenüber Ungarn in den Merkel-Jahren zu lernen. In Foren wie den Vereinten Nationen, die Demokratien und Nichtdemokratien zusammenbringen, müssen Deutschland und Europa effektive Allianzen für universelle Menschenrechte schmieden, auch gegen Bemühungen Pekings, diese umzudefinieren.



Multilateralismus heißt auch, die Kooperation mit Systemwettbewerbern zu suchen, etwa bei globaler Gesundheit oder Klimaschutz. Dies sollte ohne Illusionen passieren. Das Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion vom Juni 2020 merkt sehr richtig an: „Die Systemkonkurrenz bestimmt letztendlich das Ausmaß, wie die Partnerschaft mit China konkret ausgestaltet werden kann.“ Dies lässt sich auch auf den Kreml übertragen. Die Erfahrungen in der Pandemie unterstreichen dies, sei es Pekings Blockieren von Untersuchungen zum Ursprung der Pandemie oder die Kreml-Propaganda um den Impfstoff Sputnik V. Kooperations­hoffnungen bei globalen Problemen wie der Klima­krise rechtfertigen keinesfalls Leisetreterei gegenüber Peking und Moskau mit Blick auf andere Themen.



Bei alledem brauchen wir Selbstkritik bei eigenem Versagen, Offenheit zum Lernen von anderen (auch Systemkonkurrenten), Neugier sowie Willen zur Erneuerung der eigenen Demokratie. Thomas Bagger hat in der IP 4/2021 treffend formuliert: „Es wird zu den schwierigeren Herausforderungen einer neuen Bundesregierung gehören, den Deutschen die Wirklichkeit einer raueren Welt zuzumuten.“ Diese Zumutungen sind leichter zu ertragen, wenn man die begründete Zuversicht hat, dass das eigene System sie bewältigen und eine bessere Zukunft gestalten kann.     



Thorsten Benner ist Mitgründer und Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 24-31

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