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01. Nov. 2005

Medienkritik, Demokratiekritik

Nach den Wahlen grassierte die Kritik an den Medien. Aber was wäre Demokratie ohne sie?

Die deutsche Öffentlichkeit ist derzeit, verstärkt seit der Bundestagswahl, voller Medienkritik. Der Wahlausgang wird als Sieg des demokratischen Souveräns, genannt „Volk“, über die Wortführer gefeiert, die Ruck-Schreiber und Machtopportunisten in den Redaktionen, die Agenten der angeblich politisierten publizistischen Konzerne. Diese Kritik kommt aus zwei unterschiedlichen Lagern: dem der bisherigen rot-grünen Regierung, die eine überzogen schlechte Presse zu haben meinte, und dem engagierter Literaten, die das Banner einer nichtökonomischen Moral hochhalten und als Vertreter der Schrift das mündliche Geschnatter der politischen Shows tief verachten.

Nun kann Medienkritik leicht in Demokratiekritik umschlagen. Denn Demokratie ist die Staatsform, die bei Licht betrachtet ganz aus Medien, nämlich diskursiven Zwischeninstanzen, besteht. Selbst auf dem athenischen Marktplatz brauchte man das Urmedium der Menschheit, die Sprache. In größeren Verbänden, die sich nicht mehr an einem Ort versammeln können, stellten Repräsentativversammlungen, die ein ganzes Land abbilden sollten, selbst so etwas wie Medien dar. Und um die Kommunikation zwischen Parlamenten, Regierungen und der Gesellschaft zu sichern, waren seit jeher Berichterstatter nötig. Parlamentarismus und Presse sind logisch gleichursprünglich.

Eine Staatsform ohne Medien müsste sich ganz auf Gewalt verlassen, obwohl auch sie nicht ohne Informationsfluss auskommen kann. Was Gewaltregime an Öffentlichkeit entbehren, ersetzen sie regelmäßig durch die Arbeit der Geheimdienste. Direkte Demokratie ist prinzipiell eine Illusion, und nicht einmal eine schöne; regelmäßig diente dieser Wahn als Rechtfertigung für die Herrschaft von Diktatoren und Parteicliquen.

Solche einfachen Wahrheiten müssen heute wieder ausgesprochen werden, weil Politiker zwar einerseits gern auf Presse und Demoskopie schimpfen, aber andererseits auch geneigt sind, reale Wahlergebnisse in Relation zu demoskopischen und publizistischen Vorgaben zu interpretieren; nur so kam die Suggestion eines „Sieges“ der SPD und einer „Niederlage“ der CDU/CSU zustande.

Ebenso heikel ist die Medienschelte von Schriftstellern. Hier tadeln, bei Licht betrachtet, die Vertreter älterer Medien ein jüngeres wie das Fernsehen, das ihnen den Rang abgelaufen hat. Ohnehin gibt es, historisch betrachtet, wenig Anlass, ausgerechnet Schriftsteller als Hüter der Demokratie zu schätzen. Die deutschen Intellektuellen waren bis 1945 in ihrer überwältigenden Mehrheit nationalistisch und antidemokratisch. Und der von Max Weber im Ersten Weltkrieg so wütend bekämpfte „Dilettantismus der Literaten“ bleibt, was er ist, auch wenn seine Intentionen längst humanitärer und demokratischer geworden sind als zu Webers Zeit. Mandarine haben mehr Macht in vordemokratischen Verhältnissen; am größten ist ihr Einfluss bei der Konstituierung demokratischer Gesellschaften. Darum waren deutsche Schriftsteller in der Nachkriegszeit so eminent wichtig; und darum ist heute eine Figur wie der große türkische Schriftsteller Orhan Pamuk so entscheidend für sein Land. Nicht umsonst nimmt Pamuks jüngster Roman „Schnee“ das Muster von Dostojewskijs „Dämonen“ auf – die gewaltsam modernisierte, im Kern vielfach tradi-tionell gebliebene Türkei zeigt manche Parallelen zum zarischen Russland, das seit den Reformen Peters des Großen an dem Zwiespalt zwischen westlicher Modernisierung und autochthonen Traditionen laboriert. Was Zar Peter für Russland war, das war Kemal Atatürk für die Türkei – er säte einen kulturellen Dauerkonflikt, in dem Schriftsteller eine überragende Rolle spielen können.

In Deutschland dagegen hat sich die moralische und intellektuelle Vorreiterrolle von Schriftstellern mutmaßlich erst einmal erledigt. Intellektuelle können hier inzwischen weniger durch Beispiel und Moral – so das Muster bis Günter Grass und Christa Wolf – als durch kenntnisreiche Brillanz und professionelles Aufnehmen aktueller Probleme wirken. Nicht der olympische Vater des Vaterlands – dessen Rolle Thomas Mann vorbildlich ausgestaltet hatte –, sondern der im Staub kämpfende Engagierte findet, wie in jeder reifen Demokratie, sein Feld: der Typus Emile Zola oder auch eines Hans Magnus Enzensberger. Diese Autoren haben sich die Gegenstände, zu denen sie sich äußerten, erst einmal zu eigen gemacht, in professioneller Manier, wie Gelehrte oder Journalisten. Was sie dazutaten, war nicht überlegene Moral, sondern überlegene Sprache.

Wie sich die Rollen abgrenzen, könnte man an einem historischen Beispiel zeigen: Im Ersten Weltkrieg schrieben Thomas und Heinrich Mann über Kultur und Zivilisation, über Politik und Nation, glanzvoll, aber auch sehr allgemein; Max Weber dagegen handelte als Publizist von scheinbar so speziellen Themen wie dem Preußischen Wahlrecht und den Bundesratsparagraphen der Bismarckschen Verfassung, er verhielt sich also wie ein Gutachter zu fachlichen Einzelproblemen. Aber natürlich hat Weber viel mehr für Parlament und Demokratie in Deutschland getan als selbst Heinrich Mann. Nicht als moralisierende Dilettanten, sondern als von Fall zu Fall brillant eingearbeitete Fachleute können demokratische Intellektuelle ihre größte Wirkung erzielen: als Mediatoren zwischen den professionellen Anforderungen moderner Politik und der kritischen Öffentlichkeit.

Medienkritik ist unentbehrlich, aber sie muss sachlich-fachlich sein. „Christiansen“ ist ärgerlich nicht aus kulturkritischen Gründen oder weil „das Fernsehen zu viel Macht“ hat, sondern weil die dort geführten Diskussionen so unzulänglich sind. Die gefährliche Wirkung der Medien beruht heute vor allem auf zweierlei: erstens den täglichen Rückkoppelungseffekten, die zu einem historisch beispiellosen Zeitdruck führen, so dass Regierungen von Tag zu Tag auf Reaktionen der Medien reagieren; zweitens dem verwandelten Anforderungsprofil für Berufspolitiker. Diese werden im Machtkampf der Parteien geschult, bis sie zur Leitung großer Ämter befähigt sind; fachpolitisch erwerben sie ihre Qualifikationen in kommunalen Selbstverwaltungen, Parlamenten und Gremien.

Demokratische Politik ist eben „Beruf“ und „Betrieb“. Dazu kommen nun aber mediale Anforderungen von ungekannter Härte: Politiker müssen sich unentwegt mit Haut und Haar den Kameras ausliefern, ihre Frisuren, Garderobe, ja ihre Schweißflecken kommentieren lassen. Das große Duell der Spitzenkandidaten ist weniger ein Austausch von Argumenten als ein öffentlicher Härtetest in Nervenstärke. Welchen „Menschentypus“ (Max Weber) dieses Anforderungsprofil begünstigt, das ist eine heikle Frage, die interessanter ist als alle Medienkritik.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2005, S. 74 - 75

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