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01. Febr. 2005

Das Unverfügbare

Kultur

Wer glaubt, Islam und Moderne seien unvereinbar, verkennt die Potenziale des Monotheismus

Seit die islamischen Gesellschaften aufgehört haben, sich in übernommenen und abgestandenen Formen aus Europa – dem Nationalismus oder kommunistischen Internationalismus – politisch zu artikulieren, sondern ihren Kampf gegen den Westen als Glaubenskrieg führen, musste Politische Theologie auch bei uns wieder ein zentrales Thema werden. Die Türkei-Debatte beweist: Wir sind zurückgekehrt in den Diskurs-kosmos von Max Webers Religionssoziologie, wo nach dem Zusammenhang von Weltreligionen und Kapitalismus, von Glauben und sozialer Modernisierung gefragt wird.

Selbst die europäische Aufklärung erscheint in dieser Optik als Frucht und letzte Konsequenz jener primären christlichen Scheidung, die mit dem Jesus-Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ begonnen habe. Das amerikanische Demokratiesendungsbewusstsein hat eine Stimmungslage verschärft, die vor allem säkulare Europäer beunruhigt. Irgendwo zwischen den totalitären Reinheitsvorstellungen der Imame und der ganzheitlichen Weltsicht wirtschaftlich autonomer amerikanischer Freikirchen suchen glaubenslose Europäer ihren Weg. Auf einmal weiß man es wieder zu schätzen, dass es große, steuerlich subventionierte Kirchen gibt, also rationale Ansprechpartner und nicht nur undurchsichtige Splittergruppen und Sekten. Schon im nationalen Rahmen wäre man dankbar für einen wirklich handlungsfähigen Zentralrat der Muslime. Wie sehr hat sich das intellektuelle Klima verwandelt! Noch vor 15 Jahren schwelgte die westliche Philosophie in mehr oder weniger ernst gemeinten, halb philosophischen, halb ästhetischen Versionen eines weltanschaulichen Polytheismus. Mythos war das Thema der Stunde, und Weltbilder ermäßigten sich zu „Großen Erzählungen“, in denen man schmökerte wie in alten Romanen. Längst geht es wieder um schicksalhaftere Fragen, um die religiösen, also uranfänglichen Fundamente unserer Freiheit.

Der Vatikan brachte in die jüngste europäische Verfassungsdebatte das Argument ein, der Gottesbezug solle einen Raum des Unverfügbaren markieren, politischer Willkür dauerhaft entzogen – teils als symbolischer Raum, der die anthropologisch begrenzte Reichweite von Politik überhaupt bezeichne, teils als vor allem biopolitische Schutzzone gegen Abtreibung, Euthanasie und medizinische Gentechnik. Das theologische Unverfügbarkeitsargument geht zurück auf die Kritik an der „Allregiererei“ des modernen, gerade auch demokratischen Staates, die von liberalen Katholiken wie Lord Acton, Ignaz Döllinger oder Bischof Ketteler mit Berufung auf Tocqueville seit der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert wurde. Im Widerstand der Kirchen gegen Nationalsozialismus und Kommunismus gewann diese Gedankenfigur eine antitotalitäre Prägnanz, die zuletzt im Polen der achtziger Jahre sichtbar geworden ist.

Aber ist das unser Problem? Zeigt die Religion nicht, in Gestalt des islamischen Fundamentalismus, selbst totalitäre Züge? Was Ratzinger und seine Kirche als „Raum des Unverfügbaren“ abgrenzen wollen, mag in Europa ein schmales Gebiet sein, in anderen Gesellschaften droht es die gesamte Fläche der Gesellschaft einzunehmen.

Vor dem Hintergrund der islamistischen Verschärfung gewinnen die schon vor dem 11. September 2001 vorgetragenen Thesen des Ägyptologen Jan Assmann zum Monotheismus ihre aktuell politische Brisanz. Den mosaischen Glauben an den einen Gott versteht Assmann als menschheitsgeschichtliche Wende; er habe mit seiner Bildlosigkeit, der Auslagerung Gottes in eine Transzendenz jenseits der sichtbaren Welt, der Abschaffung magischer und mythischer Praktiken die Unterscheidung von Wahr und Falsch in der Religion aufgebracht. Damit aber sei eine neuartige Unversöhnlichkeit in die Welt gekommen. Während heidnische, also mythische Formen des Religiösen durch eine allgemeine „Übersetzbarkeit“, den Austausch der Namen, Funktionen und Figuren gekennzeichnet seien, fehle dem Monotheismus solche interkulturelle Anschlussfähigkeit. Jahwe kann nicht als Zeus oder Jupiter verstanden werden, soviel seine alttestamentarische Gestalt einst vom ägyptischen Sonnengott Aton oder dem babylonischen Weltschöpfer Marduk übernommen haben mag. Jahwe ist der Gott, der seinen Anhängern die Teilnahme an den hellenistischen und römischen Herrscherkulten verbot und sie daher in Religionskriege stürzte, mit der Folge der Zerstreuung des jüdischen Volkes.

Assmanns Analyse des Monotheismus kann als Fortsetzung einer postmodernen Kritik am Prinzipiellen – wie Odo Marquards „Lob des Polytheismus“ – gelesen werden, die bis zu den neuheidnischen Anwandlungen Martin Walsers reicht und Motive von Nietzsches „Genealogie der Moral“ aufnimmt. Dieser philosophische Antimonotheismus hat längst Kritik von jüdischer Seite, sehr früh etwa von Jacob Taubes, erfahren; und so konnte auch der Vorwurf des Antisemitismus gegen Assmann nicht ausbleiben. Seine Darstellung der monotheistischen Dynamik laufe darauf hinaus, den Juden die Schuld an ihrer Ausgrenzung selbst zuzuschreiben, wie es eine lange Tradition der Kritik an jüdischer „Reinheit“ schon vor dem Holocaust getan habe.

Nun fällt es schwer, bei Assmanns Typologie des Monotheismus nicht auch an den Islam zu denken. Es ist verführerisch, Bin Ladens Kampf um die Reinigung der heiligen Stätten des Islams von den Ungläubigen als weiteres Resultat jenes monotheistischen Strebens nach Weltabgrenzung zu verstehen. Die fundamentalistische Kritik an westlicher Dekadenz, die Märtyrerkultur der Keuschheit im Diesseits, die Verschleierung der Frauen – Folgen des weltfremden transzendenten Gottesbegriffs? Assmann würde das wohl bestreiten. Gerade die Jenseitigkeit Gottes gibt ja ein Diesseits zu irdischer Gestaltung frei, eröffnet also auch einen Raum des Verfügbaren. Im Monotheismus liegt als grundsätzliche Möglichkeit nicht nur ein verschärftes Reinheitsstreben, sondern auch eine entzauberte Welt als Ort irdischer Tüchtigkeit. Wer den heidnischen Kaiserkult ablehnt, dem öffnet sich auch der säkulare Raum des Politischen, der in dem Jesus-Wort von Gott und Cäsar gemeint ist. Und warum sollte dem Islam mit seinem überaus abstrakten Gottesbegriff diese Möglichkeit nicht auch grundsätzlich offen stehen?

Man kann diese Fragen durchaus in der Schwebe lassen, wenn man zugibt, dass das Sinnpotenzial monotheistischer Religiosität die unterschiedlichsten Aggregatzustände zwischen dem Heiligen und der Welt, Religion und Politik, Staat und Kirchen zulässt – wie es ja die konfessionell so vielfältige europäisch-amerikanische Geschichte beweist. Ob das Unverfügbare der Religion Freiheit oder Zwang bedeutet, ist eine Frage des politischen Zusammenhangs – letztlich ein Problem des Gleichgewichts. Logische Zwangsläufigkeit gibt es da nicht. Wovor wir uns hüten müssen, ist etwas anderes: Religion darf nicht zu einem Begriff unübersteigbarer ethnisch-kultureller Abgrenzung werden, also zu einem funktionalen Nachfolger des Rassebegriffs. Wer glaubt, Islam und Moderne oder Islam und Demokratie oder Islam und Europa gingen grundsätzlich nicht zusammen, bewegt sich auf diesem Pfad. Politische Theologie bleibt ein brisanter Stoff, mit dem man nicht leichtfertig hantieren sollte.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 86 - 87.

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