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01. Aug. 2005

Wozu Akademien?

Gute Frage. Aber als geistige und moralische Anstalten haben sie durchaus ihren Sinn

Es klang wie ein zarter Hilfeschrei. Als Christina Weiss, die Staatsministerin für Kultur, Ende Mai bei dem traditionellen Mittagessen des Ordens Pour le mérite in Berlin eine Tischrede zu halten hatte, da schlug sie den hervorragenden Mitgliedern des Ordens – Nobelpreisträger, Gelehrte, Schriftsteller – vor, ihre überlegenen Geisteskräfte, ihr Wissen und ihren Verstand der Öffentlichkeit gesammelt zur Verfügung zu stellen. Eine jährliche Äußerung zu einem die Nation bewegenden geistigen Thema, eine öffentliche Diskussion unter Mitgliedern des Ordens oder so etwas wie ein Bericht zur geistigen Lage der Nation schwebt der Ministerin vor. Auf Nachfragen nannte sie mögliche Themen: Rechtschreibung, Bioethik.

Schon bei der Eröffnung des neuen Hauses der Berliner Akademie der Künste drei Wochen zuvor waren in den Reden der Politiker ähnliche Anregungen zu hören gewesen. „Kritische Fragen“, „Debatten“, moralische Stellungnahmen erwarten jedenfalls Bundeskanzler Schröder und Frau Weiss. Und sind solche Forderungen und Erwartungen nicht plausibel? Der deutsche Staat mit seinen Ländern leistet sich eine Fülle von Akademien und Gelehrtengesellschaften, in München und Dresden, in Mainz und Düsseldorf, in Darmstadt und Heidelberg, um nur die berühmtesten zu nennen. In Berlin sitzt nicht nur die Akademie der Künste, sondern auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die nach der Wende ins Leben gerufene Nachfolgerin ihrer ehrwürdigen preußischen Ahnin. Dazu kommt, als erlesenste Versammlung geistigen Honoratiorentums, eben jener Orden Pour le mérite, der die Friedensklasse seines preußischen Vorläufers glanzvoll weiterführt.

Alle großen Nationen Europas haben solche Einrichtungen, nicht nur Frankreich mit seiner modellgebenden Académie française, sondern auch Italien mit der Accademia dei Lincei in Rom oder Großbritannien mit seiner Royal Society. Die meisten dieser Gelehrten- und Künstlervereinigungen, die sich heute durch Zuwahl selbst ergänzen, sind Kinder des absolutistischen Zeitalters, als der Zentralstaat begann, alle Kräfte seines Landes an sich zu ziehen. Also sollte auch das Beste von Wissenschaften und Künsten in unmittelbarer Nachbarschaft zur monarchischen Spitze angesiedelt werden – zu Zwecken der Beratung und Repräsentation, aber auch zur kulturellen Durchdringung von Gesellschaften.

Akademien wurden normsetzende Institutionen, ästhetisch und wissenschaftlich. Sie gaben nicht selten Maße und Gewichte vor, veröffentlichten Wörterbücher und bestimmten die Regeln eines offiziösen künstlerischen Stils. Perfektion, Traditionalismus, konservative Erhabenheit wurden zu Merkmalen des ästhetisch-literarischen Begriffs vom Akademischen. Dazu kamen vor allem im 19. Jahrhundert die großen arbeitsteiligen Wissenschaftsunternehmen, die auf Kontinuität exzellenter Leistung angewiesen sind: Quellenausgaben, Klassikereditionen, Sammlungen: alles, was definitiv sein muss.

Die normsetzende Staatsnähe des Akademischen wurde für die Kunstakademien zum Problem, als mit der bürgerlichen Moderne das Ideal ästhetischer Autonomie im Avantgardebegriff seine letzte Konsequenz zog. Der Geist der ewigen Revision, des unendlichen Fortschritts und des permanenten Widerstands gegen das Vorgegebene, der die modernen Künste zu regieren begann, lässt sich in die Klassizität akademischer Kunstideale nicht mehr einfügen. Freiheit, Widerstand wurden zu immanenten und zugleich politischen Idealen der Kunst – also auch Ferne von Staat und Autorität. In den Akademien begannen sich Herrschaften zu sammeln, die das Prädikat des Akademischen entrüstet von sich gewiesen hätten. Nach üblen Erfahrungen mit totalitären Regimen herrscht heute ein wohlbegründetes Misstrauen gegen Ansprüche von staatlicher Seite.

Die Akademie der Künste zu Berlin erinnert sich besonders gern an den honorigen Widerstand ihrer Sektion Dichtkunst gegen die neuen Machthaber im Jahre 1933. Beim Neubezug des Hauses am Pariser Platz jetzt im Mai achtete das Protokoll des Präsidialsekretärs darauf, dass das Gebäude erst von den Akademiemitgliedern in Besitz genommen wurde, bevor der Präsident die Politiker für ihre Begrüßungsreden „einholte“ – in einem symbolischen Fußweg über den Platz vor dem Haus. Der Staat mag uns unterhalten, war die Botschaft, regieren kann er uns nicht.

Recht so! Die erweiterten Abstände zwischen Sphären, die historisch einmal enger zusammengehörten, spiegeln nur eine unumkehrbare Entwicklung: Staat und Politik auf der einen, Wissenschaften und Künste auf der anderen Seite haben sich voneinander entfernt, „ausdifferenziert“, und die Freiheitsräume sind gewachsen, auch einer Funktionslogik moderner Gesellschaften folgend. Aber darf nicht auch der demokratische Staat von solchen Institutionen, die seine Bürger sehr viel Geld kosten, etwas erwarten? Wenigstens Rat, Kritik, Zuspruch, überlegenes Sachwissen? Das ist die Frage, die Christina Weiss in ihrer Rede vor dem Pour le mérite aufwarf.

Und viele werden sie berechtigt finden. Die Deutschen sind verliebt in „Sachlichkeit“, ins Überparteiliche, in Institutionen und Personen wie den Bundespräsidenten, das Bundesverfassungsgericht, den Expertenrat der Wirtschaftsweisen, und inzwischen ist es zu einer konsensbildenden Methode geworden, das Allerumstrittenste wie die bio-ethischen Fragen oder jüngst die Rechtschreibung an breit besetzte „Räte“ von Fachleuten und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen zu delegieren. Wäre hier nicht der Ort für jene Akademien, von denen kaum einer weiß, wofür sie noch gut sein sollen? Gerade in Berlin, wo seit 1933 zum ersten Mal wieder ein demokratischer Staat seine repräsentative Form zu finden beginnt, stellt sich diese Frage. Ist der Präsident der Akademie der Künste nicht allein schon durch die wiedergewonnene Adresse am Pariser Platz unversehens unter die ersten Redner dieses Staates aufgerückt, bald nach Bundespräsident und Bundestagspräsident?

Wenn er sein Amt mit Klugheit und Zurückhaltung ausübt, ohne Zweifel. Wobei die Zurückhaltung nicht die Entschiedenheit der Äußerungen meinen kann, sondern nur die Wahl der Gelegenheiten. Wenn die öffentliche Hand den Ertrag ihrer Investitionen im Kleingeld regelmäßiger und pflichtschuldiger Meinungsproduktion haben will, dann wird sie diese kostbaren Institutionen schnell verschleißen. Akademien zählen zu den moralischen und geistigen Reserven eines Landes, deren Zweck sich ebenso sehr im Sein wie im Meinen erfüllt. Der politische Dilettantismus des konventionellen Schriftstellermoralismus hat hier nichts zu suchen. 1933 mag ein Vorbild sein, aber 1933 ist Gott sei Dank nicht alle Tage. Akademien leben ihr eigenes Leben und sprechen selten nach außen. Wenn sie es tun, muss es ein Ereignis sein.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2005, S. 110 - 111

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