Buchkritik

27. Juni 2022

Machtkampf und Gestaltungsmacht

„Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“? Nein. Noch steht die Politik in der Pflicht. Doch um den Planeten zu retten, muss sie diese Verantwortung künftig anders und umfassender wahrnehmen.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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„Mein langer Lauf zu mir selbst“ (1999), „Die Rückkehr der Geschichte“ (2005), „Scheitert Europa?“ (2014), „Der Abstieg des Westens“ (2018), „Europas Aufbruch und die deutsche Verantwortung“ (2020). Und nun: „Zeitenbruch. Klimawandel und die Neuausrichtung der Weltpolitik“.

An Buchtiteln von Joschka Fischer kann man ablesen, wie es im Lauf der Jahre um ihn, um Deutschland, Europa, den Westen und zuletzt um die Welt stand. Heute sagt der Außenminister der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene mit dem Erreichen und Überschreiten entscheidender Kipppunkte für das Weltklima eine grundlegende Transformation in der Beziehung der Staaten zueinander voraus: „Je spürbarer die Auswirkungen der Erderwärmung werden, desto mehr wird das gesamte globale politische System unter Trans­formationsdruck geraten.“



Für Fischer war die Politik der Staaten und Imperien bisher vor allem Machtpolitik; es sei um die Mehrung der eigenen Macht gegangen, um sie in der kriegerischen Auseinandersetzung oder in friedlicher Konkurrenz mit anderen Staaten einzusetzen – auf „kaltem“ Wege, als Instrument der Abschreckung, oder auch im Ernstfall eines heißen Krieges. Im Erhalt des Planeten aber erkennt Fischer kein „fungibles Element“ staatlicher Machtpolitik, sondern die „allen gemeinsame Überlebensbedingung“.



Doch der Ex-Außenminister gibt sich nicht naiv: Die traditionelle Machtpolitik werde nicht verschwinden. Für das 21. Jahrhundert prophezeit er eine „doppelte, sich quasi überlappende Realität“, deren beiden Pole einer „höchst unterschiedlichen, ja oftmals krass widersprüchlichen Logik“ von traditioneller, auf dem „Staaten­egoismus“ gründender Machtpolitik einerseits und der immer stärker in den Vordergrund tretenden neuen „planetaren Verantwortung“ andererseits folgen werden. Daher ist es für Fischer die entscheidende Frage für das globale politische System, welche Realität die internationale Politik in Zukunft dominieren wird – traditionelle Machtpolitik oder planetare Verantwortung. Beides werde auf Dauer nicht zusammengehen.



Derzeit herrscht zweifellos traditionelle Machtpolitik vor – ob im neuen heißen und kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen in der Ukraine oder im neuen „Great Game“ zwischen China und den Vereinigten Staaten um die Vorherrschaft in Asien und damit auch um die globale Vormacht. Hinzu kommen Schauplätze, die bislang eher im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit lagen, wie der Nordpol oder Westafrika.



Arktisches Paradox

Wie stark gerade in der Arktis der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte zwei Pole bilden, die sich gegenseitig beeinflussen, wird bei Michael Paul deutlich. Der Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin beschreibt den Klimawandel nicht nur als maßgeblichen Treiber der Veränderungen in der Arktis, sondern auch als verantwortlich für das „arktische Paradox“: Die Erwärmung und das Abschmelzen des Eises zu Land und zur See würden es erlauben, Seewege und Ressourcen besser zu nutzen, was wiederum auf das Klima zurückwirke.



In der Folge ist nach Pauls Analyse ein Sicherheitsdilemma in der Region entstanden: Aufgrund des Klimawandels sei die Arktis zum Austragungsort der Konkurrenz großer Mächte geworden. Hinzu kämen russische Militäraktivitäten, die europäische NATO-Staaten im Norden verunsicherten und eine höhere Präsenz von amerikanischen Streitkräften bewirkten, was wiederum Russland in seiner Bedrohungswahrnehmung bestärke.



Tausende Kilometer weiter südlich zeigt Olaf Bernau auf, wie der Klimawandel als Teilursache für eine, wie er es nennt, „Vielfachkrise“ wirkt. Der Soziologe und Menschenrechtsaktivist ist der Auffassung, dass die Vertreter der milliardenschweren Programme zur Fluchtursachenbekämpfung das tatsächliche Ausmaß der Vielfachkrise in der Region unterschätzten: Sklaverei und Kolonialismus hätten ökonomische und politische Tiefenstrukturen hervorgebracht, die bis heute eine eigenständige Entwicklung der westafrikanischen Länder massiv erschwerten. Als weitere Fluchtursachen nennt Bernau einen „ungerechten“ Welthandel, Verschuldungspolitik, schlechte Regierungsführung, Vernachlässigung der Landbevölkerung, den Klimawandel und die Gewalteskalation im Sahel.



Besonders erhellend sind Bernaus prinzipielle Schlüsse aus der gegenwärtigen Lage. West­afrika sieht er weiterhin in die Position des bloßen Rohstofflieferanten gedrängt, bei gleichzeitiger Nichtentwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Die vorkolonialen politischen Systeme in der Region seien buchstäblich zerschlagen worden – samt der im vorkolonialen Westafrika weit verbreiteten Mechanismen von „Checks and Balances“.

Damit sei eine bis heute klaffende Lücke geschaffen worden. Denn zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit hätten nur noch die Strukturen des despotischen und überwiegend zentralistischen Kolonialstaats zur Verfügung gestanden. Vor allem die Frage der Dezentralisierung politischer Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse ist nach Bernaus Beobachtung bis heute ungelöst.



Geoökologische Entgleisung

Um eine andere Form der Ausbeutung geht es Pierre Charbonnier. Der französische Philosoph wirft die Frage auf, warum die bislang nach jedem Klimagipfel vereinbarten politischen Regelungen nicht genügten, um die formulierten Ziele zu erreichen. Seine Antwort: Weil die Erde seit dem 17. Jahrhundert als unerschöpfliche Quelle von Wohlstand und Wachstum gesehen werde. Nach Charbonniers Lesart beruhen alle seither entwickelten politischen Ideen darauf – auch und gerade die zentralen Begriffe von Freiheit und Gleichheit, von Autonomie, von Wachstum und Überfluss.

Um dies zu belegen, unternimmt der Autor eine ideengeschichtliche Reise von Hugo Grotius, John Locke und Adam Smith bis zu Henri de Saint-Simon, Karl Marx und Herbert Marcuse, vom Club of Rome bis zu Extinction Rebellion und Greta Thunberg. Was folgt daraus für Charbonnier, der in Frankreich als der neue philosophische Kopf einer politischen Ökologie gilt?



Charbonnier macht eine Kluft aus zwischen dem gewöhnlichen Horizont politischen Handelns und dem Ausmaß der Veränderungen, von denen Wissenschaftler berichten. Die Klimakrise und die Störungen, die sie begleiten, erschienen aufgrund ihres gigantischen Ausmaßes als zu massiv und bedrohlich, als dass man auf sie „angemessen“ – an ihre materiellen Merkmale angepasst – reagieren könne. Und auch wenn man das Bündel von Ursachen, das die derzeitige „geoökologische Entgleisung“ ausgelöst habe, nun recht gut kenne, erfordere eine Kehrtwende eine Anstrengung, die „aufgrund der unmittelbaren Interessen, der festgefahrenen Gewohnheiten und der Trägheit der technischen Dispositive schwer vorstellbar ist“.



Darin erkennt Charbonnier auch das „ganze Paradoxon“, das im vielzitierten Konzept des Anthr­opozäns zum Ausdruck kommt: Die Menschheit habe sich selbst eine solche Macht verliehen, dass sie zu einem geologischen Akteur geworden sei. Gleichzeitig habe sie ein „Monster“ geschaffen, ein Objekt, das weit außerhalb der Reichweite ihrer Kontrollfähigkeit liege. Die Politik des Anthropozäns entlarve so nur die eklatante Diskrepanz zwischen der Höhe der Anforderungen, die der Menschheit durch die Klimaprüfung aufgebürdet würden, und der Reichweite ihrer Regulierungsdispositive.



Freude am Gestalten

Wie mit all diesen Dilemmata und Paradoxien umgehen? Das fragt man sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Katrin Suder und Jan F. Kallmorgen haben ein Buch geschrieben, das die Wechselwirkungen zwischen Sicherheits-, Wirtschafts-, Technologie- und Klimaschutzpolitik für Unternehmen beleuchtet.



Suder und Kallmorgen können für ihr Buch auf langjährige Erfahrung in Politik und Wirtschaft zurückgreifen. Die Physikerin Suder gilt in Deutschland als eine der renommiertesten Strategie- und ­Technologieexpertinnen; Kallmorgen ist seit 15 Jahren für internationale Investoren und Unternehmen an der Schnittstelle von Geopolitik, Kapitalmarkt und Wirtschaft tätig.



Vor diesem Hintergrund haben Suder und Kallmorgen ein feines Gespür für Trends, die nun für Unternehmen sicht- und spürbar werden: der Übergang von alten zu neuen Abhängigkeiten von Energie und Rohstoffen, von alten zu neuen Lieferketten, von alten zu neuen Märkten, von alten zu neuen Technologien, vom alten Kalten Krieg zum neuen. Doch das Buch bietet mehr als Analyse und Prognose. Es ist zugleich eine Mahnung an Unternehmen – ob Mittelstand oder Konzern: Sie sollen „politischer“ werden, ein tieferes Verständnis von Politik entwickeln. Das sei eine zentrale Voraussetzung für geschäftlichen Erfolg in der neuen geopolitischen Welt.



Daher haben Suder und Kallmorgen insbesondere die Public-Affairs-Abteilungen von Firmen im Blick. Deren Aufgabe sei weit mehr als „nur“ klassische Lobbyarbeit, um eine Unternehmensstrategie politisch durchzusetzen. Weniger darauf sollte daher in Zukunft der Fokus liegen, sondern darauf, welche politischen Dynamiken es im Rahmen der Unternehmensstrategie zu berücksichtigen oder im Voraus zu beeinflussen gelte: „Eine Reihe weitreichender Entscheidungen, beispielsweise eine Standortwahl, setzt heute ein Verständnis von Politik voraus, das weit über die einstige Vorstellung des Lobbying hinausgeht.“ Zukünftig werde es für Unternehmen vornehmlich darum gehen, das Umfeld ihres Handelns besser auszuleuchten.



Doch haben die Unternehmen dafür das richtige Personal? Wie steht es um die Generation der jetzt 40-Jährigen, die bereits das Ruder in der Hand hat oder es bald haben wird? Die Schriftstellerin und Essayistin Nora Bossong zählt selbst zu dieser Generation, die geprägt ist vom vermeintlichen „Ende der Geschichte“: Nach dem Fall der Mauer und dem Ende des alten Kalten Krieges dachte man, die großen existentiellen Fragen seien entschieden. Dann kam der 11. September 2001, und spätestens ab 2008 wuchs die Zahl der nun wahrgenommenen globalen Probleme: Finanz- und Wirtschaftskrise, zunehmende Ungleichheit, Fluchtbewegungen, Demokratiefeindlichkeit, Klimawandel.



Bossong beschreibt ihre Generation als eine, die darauf abonniert scheint, Katastrophen erst zu erkennen, nachdem sie eingetreten sind: „Auf Twitter pustet man sich dann die eigene Pseudobetroffenheit zu, den kalten Rauch unserer Zeit.“ Bossong zitiert aus der Bundestagsrede von Annalena Baerbock zu Beginn der Corona-Pandemie: „Wir, insbesondere meine Generation, Jüngere, wir lebten bisher ziemlich behütet.“ Ergänzend dazu Christian Lindner aus einem Interview mit Bossong: „Unsere Generation ist weltläufiger als die Generationen vor uns. Wir sind besser ausgebildet, global vernetzter, und viele haben einen höheren moralischen Anspruch an sich selbst und an ihre Mitmenschen. Was manchen neben all dem möglicherweise fehlt, das ist die charakterliche Härte, wie sie die Generation der Kriegsteilnehmer besaß. Die Härte, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Das war bei den früheren Generationen eher klar.“



Was sagt dazu das Management in Deutschland? Bei der ehemaligen Siemensianerin Rosa Riera, Jahrgang 1975, klingt das so: „Wir leben von den Ideen und dem Mut anderer Generationen. Wir greifen nicht mehr nach den Sternen. Um aus dem dunklen Tunnel rauszufinden, in den wir uns mit Krisen wie dem Klimawandel hineinmanövriert haben, müssen wir irgendwo ein Licht sehen.“ Wie ein solches aussehen könnte? „Uns auf die Gestaltungsmöglichkeiten freuen, das würde uns voranbringen.“ Doch bis dahin scheint Bossongs Generation noch einen langen Lauf zu sich selbst vor sich zu haben. Fischers Generation hat ihn bereits hinter sich – zumindest formal.

 

Joschka Fischer: Zeitenbruch. Klimawandel und die Neuausrichtung der Weltpolitik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022. 144 Seiten, 16,00 Euro

Michael Paul: Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte. Freiburg im Breisgau: Herder 2022. 288 Seiten, 18,00 Euro



Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte. München: C.H. Beck 2022. 317 Seiten, 18,00 Euro

Pierre Charbonnier: Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Frankfurt am Main: S. Fischer 2022. 512 Seiten, 36,00 Euro

Katrin Suder, Jan F. Kallmorgen: Das geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus 2022. 232 Seiten, 28,00 Euro



Nora Bossong: Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens. Berlin: Ullstein 2022. 240 Seiten, 19,99 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 124-127

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Dr. Thomas Speckmann ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.

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