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01. Mai 2003

Macht und Ohnmacht – aus europäischer Sicht

Eine Antwort auf die Thesen Robert Kagans

In Grunde stimmen die Thesen von Robert Kagan, schreibt der Direktor der Generaldirektion Auswärtige Beziehungen der EU. Das heißt aber nicht, dass Europa sich in sein Schicksal fügen muss. Die Europäische Union sollte mehr Verantwortung übernehmen, ihre militärischen Fähigkeiten interoperabel machen und zusammenlegen sowie eine eigene Sicherheitsstrategie entwickeln. Mit mehr Macht ausgestattet, könnte Europa dann seine Werte und Überzeugungen besser durchsetzen.

Einmal in zehn Jahren vielleicht schreibt jemand einen Artikel über grundlegende Wahrheiten des internationalen Systems. Francis Fukuyama hat dies 1989 getan, als er nach dem „Ende der Geschichte“1 gefragt hat. Und Robert Kagan hat es 2002 getan mit „Power and Weakness“ (Macht und Ohnmacht).2 Im Kern argumentiert Kagan, dass die Unterschiede zwischen Europa und Amerika von ihren militärischen Fähigkeiten bestimmt werden. Überspitzt ausgedrückt: Die Vereinigten Staaten verfolgen einen unilateralistischen Kurs, weil sie stark genug sind, allein zu handeln; Europas Beharren auf Verträgen, Multilateralismus und dem Völkerrecht beruht auf Schwäche und Wunschdenken. Regeln sind dazu da, die Schwachen zu schützen,  und deshalb werden sie von den Europäern so geschätzt.

Während des Kalten Krieges sind diese Unterschiede verdeckt worden. Europa war sowohl das Schlachtfeld als auch der Preis im Kalten Krieg. Deshalb reichte seine Bedeutung weit über seine militärische Stärke hinaus. Gleichzeitig war der Kalte Krieg ein Wettstreit zwischen Bündnissen und ein Kampf um Legitimität; dies verpflichtete die USA, im multilateralen Rahmen zu handeln. Während des Kalten Krieges wurde Europa das strategische Denken aufgezwungen, nach dem Kalten Krieg, so Kagan, hätten viele Europäer „Urlaub“ vom strategischen Denken genommen. Nach überstandener Krise hätten die europäischen Staaten ihre Verteidigungshaushalte gekürzt und es den USA überlassen, die Probleme der Welt zu lösen. Und als die USA auf dieses Angebot eingegangen seien, hätten sich die Europäer über den amerikanischen Unilateralismus beklagt. Weil sie jedoch weder nach Macht strebten noch den Wunsch hätten, zur Machtpolitik zurückzukehren, beschränkten sie ihre Interventionen auf Erklärungen, Verträge und ein gewisses Maß an Friedenssicherung, nachdem die USA militärische Macht eingesetzt hätten.

Dies ist zugegebenermaßen eine grobe und vereinfachende Beschreibung von Kagans Argumenten, denn es stimmt nicht, dass die Europäer über keine militärischen Fähigkeiten verfügen. Nach den USA und Russland gibt es nicht viele Staaten, die diesbezüglich auch nur auf gleicher Stufe mit einer gemeinsam agierenden Europäischen Union stehen. Es stimmt auch nicht, dass die Europäer den Einsatz von Gewalt grundsätzlich ablehnen. Schließlich war es die anglo-französische Artillerie, die in Bosnien von entscheidender Bedeutung war – nicht die Bombardements der Amerikaner. Es waren die Briten und die Franzosen, die bereit waren, Bodentruppen nach Kosovo zu schicken, als die Luftschläge zu keinem Erfolg zu führen schienen. Selbst Deutschland hat sich in Kosovo und Afghanistan engagiert, wie es noch vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten hätte.

Dennoch: die europäischen Fähigkeiten, jenseits der eigenen Grenzen zu intervenieren, sind begrenzt. Allein die USA waren in der Lage, den Feldzug in Afghanistan zu führen (wenn auch mit einer geringen Truppenstärke) – ganz abgesehen vom Krieg gegen Irak. Und es stimmt auch, dass die Vereinigten Staaten, ebenso wie auf dem Balkan, in Afghanistan und auch in Irak allein Krieg führen könnten. Im Frieden aber sind sie auf die Hilfe anderer angewiesen.

Militärische Dominanz

Trotz all dieser Vorbehalte aber bleibt die These Kagans in ihrem Kern bestechend. Der markanteste Wesenszug des globalen Systems von heute ist die militärische Dominanz der Amerikaner. Und die Kluft zwischen den militärischen Fähigkeiten der USA und Europa wird immer größer. Es ist richtig, dass die meisten europäischen Staaten immer stärker auf professionellere, mobilere Streitkräfte setzen als auf eine Armee von Wehrpflichtigen. Die Früchte dieses Wandels aber müssen erst noch reifen. In der Zwischenzeit ändern die Vereinigten Staaten ihre militärischen Operationsformen mit noch größerer Geschwindigkeit; schon sehr bald werden wohl auch die fähigsten Europäer Schwierigkeiten haben, gemeinsam mit ihren amerikanischen Verbündeten zu operieren.

Nicht nur, dass die Vereinigten Staaten doppelt so viel für die Verteidigung ausgeben wie alle ihre europäischen Verbündeten zusammen – sie setzen ihre Mittel auch weitaus wirkungsvoller ein. Das Problem ist, dass die europäischen Verbündeten ihr Geld nicht gemeinsam ausgeben. Stattdessen erreichen sie das schlechteste aller Ergebnisse, da sie getrennt voneinander in eine Ausrüstung investieren, die zwar die Kapazitäten verdoppelt, aber nur selten interoperabel ist. Infolgedessen erreichen sie weder die gleiche Konzentration an militärischer Stärke noch die Einsparungen durch Massenproduktion wie die USA. Allein darum aber geht es bei der Verteidigungsfähigkeit: um Stärke und Konzentration. Die nachfolgende Tabelle  vermittelt einen Eindruck von der Größe der Lücke, die zwischen den Fähigkeiten beider Seiten klafft – und untertreibt sie vielleicht noch: Das Ergebnis der einzelnen nationalen Fähigkeiten ist nämlich sehr viel niedriger als die arithmetische Summe nahe legt. Zum Beispiel bilden zwölf unterschiedliche nationale Hubschrauber noch lange keine Hubschrauberstaffel, und verglichen mit den USA investieren die 15 EU-Staaten auf Grund ihrer jeweils eigenständigen Politik und Organisation sehr viel mehr in Verwaltung und Standorte und sehr viel weniger in Kampfkraft.

Militärausgaben für Forschung & Entwicklung sowie für Ausrüstung (Angaben in Millionen Dollar)*

Land

F & E

Ausrüstung

Insgesamt

Belgien

1

233

234

Dänemark

1

224

225

Deutschland

1286

3389

4677

Finnland

8

618

626

Frankreich

3145

5450

8595

Griechenland

26

1378

1404

Großbritannien

3986

8597

12 586

Irland

0

50

50

Italien

291

2291

2582

Niederlande

65

1341

1406

Österreich

10

323

333

Portugal

4

366

370

Schweden

103

2114

2217

Spanien

174

1062

1236

USA

39 340

59 878

99 218

*  Im Zeitalter der Technologie erlauben diese Parameter am ehesten eine exakte Einschätzung der Fähigkeiten einzelner Länder. Quelle: The Military Balance 2001–2002.

Es geht auch nicht nur um das Schrumpfen der Verteidigungshaushalte im vergangenen Jahrzehnt. In Europa gibt es einen allgemeinen Unwillen, die Welt in machtpolitischen Dimensionen zu sehen. In Deutschland, Italien, Griechenland und Spanien ist der Einsatz militärischer Macht aus guten historischen Gründen nur schwach legitimiert. Und aus ebenso guten historischen Gründen würden die meisten Europäer lieber in einer Welt des Rechtes leben als in einer Welt der Macht. Während des Kalten Krieges waren diese Unterschiede zuweilen in den europäischen Appellen zu Dialogbereitschaft und Einbindung angesichts einer ausgeprägteren Konfrontationsbereitschaft der USA deutlich geworden. Laut Kagan waren dies zu Zeiten des Kalten Krieges taktische Differenzen. In der Zeit nach dem Kalten Krieg aber, und wenn es um Länder wie Irak geht, werden sie zu strategischen Differenzen.

Erwiesenermaßen haben jene, die im Kalten Krieg für eine Politik des Dialogs argumentierten, Recht behalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Ansatz ein universal anwendbares Rezept ist.

Würde Europa anders handeln, wenn es mehr militärische Macht hätte? Wahrscheinlich ja. Auf wirtschaftlichem Gebiet, wo Europa mehr oder weniger als Einheit handelt und ein Gewicht ähnlich dem der Vereinigten Staaten hat, geht es sehr viel rauer und härter vor. Zugegeben, Europa handelt innerhalb eines rechtlichen Rahmens (das aber gehört zum Wesen von Handel, der von der Durchsetzbarkeit von Verträgen abhängt), und es ist ein Rahmen, an dessen Bildung Europa beteiligt war. Aus der Sicht weniger entwickelter Staaten aber müssen die europäischen Agrarbestimmungen doch sehr stark nach einem einseitigen Aufzwingen aussehen.

Vielleicht ließe sich deshalb argumentieren, es sei nur gut, dass Europa nicht über wirkliche militärische Schlagkraft verfügt, das Vorhandensein nur einer Supermacht sei ausreichend. Möglicherweise wäre eine unipolare Welt in der Tat stabiler (der Kalte Krieg war nämlich gar nicht so stabil, wie manche im nostalgischen Rückblick vielleicht denken mögen, denn es gab eine ganze Reihe von Krisen – Berlin, Kuba, Ungarn, Vietnam, Afghanistan und Nicaragua, um nur einige zu nennen). Ein alleiniger Hegemon, vergleichbar einem Römischen Reich unserer Zeit, könnte ein für Frieden, Stabilität und Wohlstand günstiges Umfeld schaffen.

Und doch ist die Vorstellung von einem einzelnen Land mit unbegrenzter und unbegrenzbarer Macht nicht sehr verlockend. Wie bewundernswert die Vereinigten Staaten auch sein mögen (und für viele sind sie die Verkörperung von Freiheit und Demokratie) – würden diese Qualitäten einen langen Zeitraum unilateraler Hegemonie überleben? Da sich kein Land und kein Zusammenschluss von Ländern auf einen konventionellen Krieg mit den Vereinigten Staaten einlassen würde, könnte es eine wachsende Zahl von Ländern geben, die die USA mit unkonventionellen Mitteln angreifen wollen; die Bilder des 11. Septembers 2001 haben in den Köpfen der Unzufriedenen einen prägenden Eindruck hinterlassen. In welcher Art von Welt würden wir uns befinden, wenn die USA sowohl absolute Macht hätten als auch absolut verwundbar wären, ausgestattet mit einem enormen militärischen Leistungsvermögen, immer wieder aber auch Ziel terroristischer Angriffe? Wie lange würden die Werte, die Europa und den Vereinigten Staaten gemein sind, überleben? Schon jetzt hören wir angesehene Personen über die Legalisierung von Folter sprechen; wo würde dies in einer langen Ära unkontrollierter Macht enden?

Checks and Balances

Alle unsere innenpolitischen Systeme sind darauf ausgerichtet, Macht zu begrenzen. Es ist nur vernünftig, das gleiche Ziel auf internationaler Ebene anzustreben. Die Begrenzung amerikanischer Macht durch die Existenz einer gleichwertigen und feindlichen Macht steht außer Frage und ist ohnehin nicht das, was wir wollen. Was hätte es ansonsten genutzt, den Kalten Krieg zu gewinnen? Das Beharren der europäischen Länder auf Multilateralismus mag das letzte Mittel der Schwachen sein oder eine nostalgische Sehnsucht nach den Tagen des Kalten Krieges, als Europa sich im Zentrum einer globalen Auseinandersetzung befand, in einer Welt, in der es noch so etwas wie ein militärisches Gleichgewicht gab. Es ist jedoch mehr als das, denn Multilateralismus und Völkerrecht sind Werte an sich. Wir schätzen Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit auf der innenpolitischen Ebene; für demokratische Gesellschaften – auch für die USA – ist es schwer, die Vorstellung aufzugeben, dass sie auch auf internationaler Ebene wünschenswert sind. Meinungsumfragen belegen, dass dies sowohl für die Vereinigten Staaten von Amerika als auch für Europa gilt.

In Europa, so Robert Kagan, fallen diese Ideale auf besonders fruchtbaren Boden. Nach einem Jahrhundert, in dem das europäische Staatensystem Konflikte katastrophalen Ausmaßes mit 30 Millionen toten Soldaten und noch mehr toten Zivilisten hervorgebracht hat, ist es nicht verwunderlich, dass europäische Länder ein Umfeld schätzen, in dem Staaten völkerrechtlich eingebunden sind und Konflikte friedlich geregelt werden. Der Wunsch, dies auf den Rest der Welt auszudehnen, ist nur natürlich und richtig. Die Abwendung von Machtpolitik hat Europa große Vorteile gebracht, unglücklicherweise aber auch Illusionen genährt. Einige von diesen sind in den ersten Tagen des Balkan-Konflikts offenkundig geworden, als einige Europäer zu glauben schienen, Frieden und Gerechtigkeit könnten schlicht durch die Bitte,  vernünftig zu handeln, erreicht werden. Heute scheinen Rechtsstaatlichkeit und friedliche Streitbeilegung auch auf dem Balkan angekommen zu sein. Allerdings wurde dies nur möglich, weil militärische Macht den Weg dafür freigemacht hat.

Mythos „Zivilmacht“

Gleichermaßen Illusionen geben sich jene hin, die von Deutschland oder Europa als einer „zivilen Macht“ sprechen. Es stimmt, dass das friedliche Nachkriegsdeutschland ein Modell für andere Länder gewesen ist; sein Wandel hatte weit reichende und positive Auswirkungen auf den Kontinent als Ganzes. Es stimmt auch, dass Europa, das sich vornehmlich auf wirtschaftliche Instrumente konzentriert und sich militärisch nur sehr vorsichtig an Friedensmissionen beteiligt hat, ein Modell für eine nichtmilitärische Macht zu sein scheint. Hinter jedem Gesetz jedoch steht bekanntlich ein Polizist, der bereit ist, dieses durchzusetzen, und hinter jeder Verfassung steht eine Armee, die bereit ist, diese zu schützen. Und hinter der friedlichen Entwicklung Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen das Nordatlantische Bündnis und die militärische Macht Amerikas.

Das Bündnis und vor allem die amerikanische Bereitschaft, Nuklearwaffen zu seinem Schutz einzusetzen, schufen eine Zone des Friedens in Westeuropa, in der die Europäer in der Lage waren, sich den neuen Regeln entsprechend zu verhalten. Sie begrenzten die Verteidigungsausgaben, schufen Transparenz und schrittweise ein System von Verträgen und Institutionen, die die Beziehungen untereinander regelten. Im Licht der europäischen Geschichte ist dies nicht weniger als ein politisches Wunder. Der NATO kam bei diesem Wunder eine wichtige Rolle zu, da sie den Europäern half, jenes Misstrauen und jene Rivalität hinter sich zu lassen, die für ihre Geschichte prägend waren. Die äußeren Grenzen dieses Systems sind in der Vergangenheit durch militärische Stärke geschützt worden und sie werden es noch immer. Hinter der Verfassung für Europa, die der Europäische Konvent und sein Präsident Valéry Giscard d’Estaing entwerfen, steht eine Armee. Wohlgemerkt eine amerikanische Armee, keine europäische.

Europas Antwort

Europa sollte auf die Thesen Kagans nicht antworten, er läge damit falsch (denn er liegt damit nicht falsch), sondern es sollte die eigene Position überdenken. Es kann nicht zufrieden stellend sein, dass 400 Millionen Europäer sich bei ihrer Verteidigung so sehr auf 250 Millionen Amerikaner verlassen.

1.So etwas wie eine Verteidigung zum Nulltarif gibt es nicht. Wir wissen nicht, wie oder wann – irgendwann aber werden die Europäer für diese Vereinbarung bezahlen müssen.

2.Es gibt auch keine Garantie dafür, dass die amerikanischen und europäischen Interessen immer übereinstimmen werden. Es war leicht, einen kontinuierlichen Konsens zu wahren (erst im Rückblick wird klar, dass es doch nicht ganz so leicht war), als es eine gemeinsame, sichtbare Bedrohung gab, die sich gegen europäisches Territorium richtete. Es wird sehr viel schwieriger sein, diese Übereinstimmung der Interessen in einer Welt zu bewahren, in der die Bedrohungen verschleierter und entfernter sind. Wenn die Europäer mit der Strategie der nationalen Sicherheit der USA nicht einverstanden sind, sollten sie sich nicht darüber beklagen, sondern eine eigene Strategie entwickeln. Besser noch: Sie sollten gemeinsam mit den Vereinigten Staaten eine Strategie entwickeln. Allerdings nützt es nichts, über eine Strategie, nicht aber über die Streitkräfte zu ihrer Umsetzung zu verfügen. Und die USA werden nur dann an einer gemeinsamen Strategie interessiert sein, wenn die Europäer einen echten Beitrag dazu leisten.

3.Die Europäer mögen zwar zu einer territorialen Verteidigung in der Lage sein, doch ist dies in der heutigen Zeit immer weniger von Bedeutung. Die Verteidigung der Heimat beginnt jenseits ihrer Grenzen – in Gebieten wie Afghanistan und Irak. Dies hat ganz spezifische Implikationen für die Entwicklung militärischer Fähigkeiten. Auf mittlere Sicht etwa sollte der Aufbau einer Raketenabwehr nicht ausgeschlossen werden. So lange Europa der zentrale Kriegsschauplatz war, ging Territorium auch mit einem gewissen Einfluss einher. Dies gilt nicht, wenn Bedrohungen aus anderen Teilen der Welt kommen. Wollen die Europäer Einfluss auf die Vereinigten Staaten nehmen, dann müssen sie mehr als nur guten Rat anbieten, nämlich  auch militärische Fähigkeiten.

4.Es wäre für die Welt und auch für die Vereinigten Staaten selbst ungesund, wenn diese als Supermacht völlig auf sich allein gestellt wären. Sogar Supermächte brauchen jemanden, mit dem sie reden können. Ein dominantes, aber isoliertes Amerika läge in niemandes Interesse.

Europa sollte nicht versuchen, mit den USA gleich zu ziehen, was militärische Macht angeht. Dies wäre ein völlig unrealistisches Unterfangen. Europa kann jedoch sehr viel mehr tun, als es momentan tut, und dies sogar ohne eine umfangreiche Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben. Angenommen, alle europäischen Armeen setzten den gleichen Hubschraubertyp ein, wobei es egal wäre, ob dies ein deutsch-französischer oder britisch-italienischer, ja sogar, ob es ein amerikanischer Helikopter wäre. Die Kaufkraft der vereinten europäischen Verteidigungsapparate würde sicherstellen, dass die Hubschrauber sehr viel billiger wären; die Zusammenlegung eingesparter Gelder und gemeinsame Übungen könnten zusätzlich enorme Summen einsparen und vor allem die Möglichkeiten erhöhen, gemeinsam zu operieren. Eigenständige Verteidigungseinrichtungen würden zwar an Kontrolle über die Wahl ihrer Ausrüstung verlieren, der Zugewinn an Geldmitteln und Effizienz würde dies jedoch ausgleichen. Nicht nur hätten alle den gleichen Hubschraubertyp, auch könnten die Einsparungen dazu genutzt werden, mehr Hubschrauber anzuschaffen. Dieses Beispiel könnte für alle Waffengattungen und Einsatzbereiche gelten.

Mehr Verantwortung

Wenn ein Mehr an Integration der europäischen Streitkräfte ein höheres Maß sowohl an Interoperabilität als auch an Einsatzfähigkeit bringen würde, dann hätte Europa zumindest eine Teilantwort auf Kagan gegeben. Die Möglichkeit, europäische Streitkräfte einzusetzen, hätte nicht nur Auswirkungen auf die Beziehungen zu den USA, sie würde auch einen Unterschied für die europäische Außenpolitik bedeuten. Wenn nämlich keine Möglichkeit besteht, Worten auch Taten folgen zu lassen, dann sind Worte bedeutungs-, manchmal sogar verantwortungslos. Militärische Fähigkeiten würden der europäischen Außenpolitik mehr Ernsthaftigkeit  verleihen. Es ist genau so, wie Robert Kagan sagt: Macht bringt Verantwortung mit sich. Sein Potenzial in einer komplexen und gefährlichen Welt nicht voll und ganz einzubringen, kommt Verantwortungslosigkeit gleich.

Auch die NATO würde von einem solchen Wandel profitieren, und das Gleichgewicht zwischen Europa und den USA würde ein wenig verschoben. Wichtiger noch: die NATO würde wirkungsvoller und deshalb auch bedeutender.

Es liegt in der Logik der europäischen Integration, dass Europa früher oder später eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt. Die Welt aber schreitet nicht logisch voran, sondern auf Grund politischer Entscheidungen. Nichts von all dem wird geschehen, wenn die europäischen Führungspolitiker dies nicht wollen und nicht beschließen, es geschehen zu lassen. (Meinungsumfragen legen übrigens nahe, dass die europäische Bevölkerung dies bereits möchte.)  Der amerikanische Präsident George W. Bush hat in knappen Worten dargelegt, warum wir Europäer dies wollen sollten. Vor dem American Enterprise Institute sagte er: „Wir kommen hier zu einer entscheidenden Zeit in der Geschichte  … der zivilisierten Welt zusammen. Ein Teil dieser Geschichte ist von anderen geschrieben worden, der Rest wird von uns geschrieben werden“.3 Wenn dieses „uns“ auch die Europäer einschließen soll, müssen wir mehr Einfluss auf die Vereinigten Staaten ausüben. Und das bedeutet, wir brauchen mehr Macht – auch mehr militärische Macht. Dies wird Zeit brauchen, kann aber wahr werden.

Anmerkungen

1  Vgl. Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest, Nr. 16, Sommer 1989,  S. 3–18.

2  Vgl. Robert Kagan, Power and Weakness, in: Policy Review, Nr. 113, Juni/Juli 2002, S. 1 ff. <http://www.policyreview.org/JUN02/kagan.html&gt;; auf Deutsch als Buch erschienen unter dem Titel: Macht und Ohnmacht.  Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003.

3  Vgl. die Rede von Bush auf dem Jahrestreffen des American Enterprise Institute in Washington, 26.2.2003, gekürzt abgedruckt in: Internationale Politik, 3/2003, S. 128 ff.