Lafontaines „Appel au peuple“
Es hilft wenig, sich über populistische Parteien zu beklagen; man wird schon nach den Ursachen ihrer Resonanz fragen müssen
Sie scheinen die Gewinner der kanzlerverordneten Bundestagsauflösung zu sein: die Herren Lafontaine und Gysi mit ihrer neuen Linkspartei. Gleichsam aus dem Abseits, im Westen gar aus dem Nichts überschritt die rötliche Protestpartei in atemberaubendem Tempo die Zehn-Prozent-Grenze und ließ die altetablierte FDP und, zunächst zumindest, auch die ja keineswegs unerfolgreiche grüne Regierungspartei souverän hinter sich. Dabei war sie von Beginn an auf den heftigen Gegenwind in den Kommentaren der professionellen Deuter des Politischen gestoßen. Lafontaine und Gysi wurden weithin als politisch verantwortungsscheue Egozentriker geziehen, ihre Argumentation als vorgestrig gegeißelt und ihr agitatorischer Stil als verwerflicher Populismus verdammt.
Mit dem Etikett des Populismus war die neue Linkspartei von Anfang an unmissverständlich belegt. Und natürlich verstand alle Welt den attestierten populistischen Charakter negativ. Populisten sind schließlich Demagogen, Schwarz-Weiß-Maler, Simplifizierer; sie operieren mit undifferenzierten Feindbildern, politisch: ohne kohärentes Programm. Das mag so sein. Aber eine solche Beschreibung ist denkbar trivial. Vor allem: Sie erklärt wenig. Denn die bösen populistischen Buben kommen schließlich nicht, gleichsam wie Phönix aus der Asche, in einer rundum guten Demokratie nach oben. Populisten haben vielmehr dann Erfolg, wenn in einer Gesellschaft etwas nicht stimmt, präziser: wenn die Institutionen an Legitimation verloren haben, wenn die Eliten nicht mehr überzeugen, wenn ganze Gruppen von den entscheidenden politischen Arrangements ausgeschlossen sind, wenn sie sich sozial verloren, kulturell verwaist, ökonomisch betrogen fühlen. Es hilft wenig, sich über Populisten zu beklagen; man wird schon nach den Ursachen ihrer Resonanz fragen müssen.
Gerade die etablierten Parteien sollten eigentlich über den engen Zusammenhang von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und populistischem Protest intim Bescheid wissen. Denn diesem Nexus haben sie allesamt ihre Entstehung zu verdanken. Zu Beginn waren sämtliche Parteien populistisch; am Anfang stand immer der „Appel au peuple“, wie es der Historiker Thomas Nipperdey einmal treffend formulierte. Der frühe Liberalismus war in seiner Verschmelzung mit der Nationalbewegung natürlich originär populistisch. Das katholische Milieu agierte einige Jahrzehnte später mit genuin populistischen Techniken gegen das protestantisch-liberale Establishment. Für den ebenso naiven wie hybriden Volksstaatssozialismus von Lassalle und Bebel galt das gleiche. Auch die basisdemokratische, zunächst antiparlamentarische Erweckungsapodiktik der Grünen war durch und durch populistisch. Und in allen diesen historischen Fällen nährte sich der Populismus in seiner ursprünglich parteibildenden Sattelzeit aus rückwärts gewandten Motiven, aus lang überlieferten Glücksversprechen, die durch eine raue Gegenwart jäh frustriert wurden. Über eine realistische, zukunftsadäquate Programmatik verfügte keine der in ihrer Entstehungszeit populistischen, im Jahr 2005 aber längst solide etablierten Parteien. Und natürlich zog der frühe Populismus Sektierer, Utopisten, Dogmatiker regelmäßig an – eine ganz gewöhnliche Kinderkrankheit in Parteibildungsprozessen. Kurzum: Man sollte sich vielleicht doch angewöhnen, den populistischen Protest nicht pawlowhaft als heimtückischen Anschlag auf Demokratie und Zivilisation zu brandmarken. Populismen sind vielmehr ein elementarer Seismograph für Fehlentwicklung in Demokratien, bieten somit zugleich auch die Chance zur Selbstkorrektur eines offenen Systems.
Populistische Parteien kommen nur dann mit Erfolg auf, wenn sich ganze gesellschaftliche Gruppen im parlamentarischen System nicht mehr vertreten fühlen. Wenn die Eliten zu sehr zusammenrücken, sich sozial einseitig rekrutieren, in ihrer Kommunikation nach unten abschotten, miteinander eine nahezu identische politische Philosophie teilen, dann, ja dann schlägt die Stunde des populistischen, regelmäßig antielitären Protests, und natürlich: Dann steht auch das berühmte „window of opportunity“ des populistischen Demagogen, jenes ganz oft seelisch zutiefst verletzten, übersteigert selbstverliebten, maßlos ehrgeizigen, aber durchaus sprachmächtigen Narzissten sperrangelweit offen. Gerade der Erfolg der charismatischen Außenseiter weist auf Defizite der herrschenden Eliten hin, auf den Niedergang der Kunst der öffentlich-parlamentarischen Rede, auf die Erfahrungsverdünnung in der politischen Klasse. Der populistische Agitator reüssiert, wenn die Sprache des Establishments zum Expertenjargon verdorrt – abgehoben, technokratisch, herrisch. Das Regierungsvokabular von „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ gehört dazu, aber auch die großspurigen, leeren Modernisierungsphrasen – „Synergieeffekte“, „Exzellenzprogramme“, „Clustergespräche“ – unternehmensberatender JungBWLer. Etliche Menschen diesseits der Diskurs- und Entscheidungseliten fühlen sich von dieser dröhnenden Modernisierungssemantik bedroht. Zirkulieren in den Vorstandsetagen Konzepte zur „Prozessevaluation“ und „Leistungsoptimierung“, dann wittern die Arbeitnehmer mit einigem Recht, dass Arbeitsplätze abgebaut, Einkommen reduziert, Konkurrenzdruck verschärft wird. Unter Rot-Grün hat der Kotau vor dem Entscheidungsimperativ vorgeblich ökonomischer Sachzwänge und vor den technologischen Sozialplanungen abgeschotteter Fachgremien einen neuen Höhepunkt erreicht.
Und das war gewissermaßen der Humus der neuen Linkspartei. Sie hat den stärksten Zulauf nicht in den verwahrlosten Trabantenvierteln der deutschen Großstädte, nicht unter den resignierten Marginalisierten der postindustriellen Gesellschaft zu verzeichnen. Der Linkspopulismus ist ein Populismus der sozialstaatlich geprägten, durchaus auch akademischen, partizipationsbereiten, aber partizipationsbehinderten Mitte der Republik. Die Enttäuschung über den technokratischen Elitismus von Rot-Grün hat dem Sozialstaatspopulismus mittelqualifizierter Männer in mittleren Lebensjahren zunächst Auftrieb, dann Fundament gegeben. Überraschend war diese Entwicklung im Grunde nicht. Dergleichen hatte man in etlichen Ländern Mittel- und Westeuropas längst beobachten können, vor allem in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten. Die Gesellschaften dort haben schon seit drei bis vier Jahrzehnten mit linkssozialistischen Sozialstaatsparteien einer vor allem öffentlich bediensteten Mitte zu tun. Dramatische Abgrenzungsappelle löst der Linkssozialismus dort längst nicht mehr aus. Die sozialdemokratischen Parteien gehen mit ihm kühl und berechnend Tolerierungs-, zuweilen auch Koalitionsbündnisse ein. Nicht anders wird es wohl auch in Deutschland nach dem Abgang von Lafontaine und Schröder kommen.
Internationale Politik 9, September 2005, S. 62 - 63