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01. Okt. 2007

Politik ohne Leidenschaft

Werkstatt Deutschland

Im Bundestag herrschen Disziplin und Routine - und es fehlen die Visionen

Nun geht die Große Koalition in ihr drittes Jahr. Man hat schon Zeiten erlebt, in denen die Bürger der bundesdeutschen Republik verdrossener über ihre Regierung waren. Man erinnert sich jedoch auch an zurückliegende Jahre, in denen der Citoyen sich mit größerer Passion dem Politischen zugewandt hatte. Hin und wieder zwar inszenieren die Generalsekretäre und einige ihrer professionellen Wadenbeißer aus den beiden Volksparteien einen artifiziellen Streit. Aber da es sich nie um substanzielle Auseinandersetzungen handelt, schaut man eher gelangweilt, mitunter etwas entnervt, im Ganzen weitgehend uninteressiert zu.

Dabei kristallisieren sich in der Gesellschaft mittlerweile etliche Fragen heraus, die eine hohe Brisanz enthalten. Aber die Große Koalition stellt dergleichen Themen zurück oder verwaltet die Probleme bürokratisch klein. Kurz, der Berliner Politik fehlt vor allem eines: echte Leidenschaft. Und man erinnert sich bei diesem Befund dann doch ein wenig beklommen an den bekannten Satz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Nichts Großes ist, geschweige denn wäre, jemals ohne Leidenschaft entstanden.“

Nun kann man Leidenschaft nicht verordnen. Und ein Zuviel an stürmischer Unbedingtheit, emotionalem Feuer, erregtem Enthusiasmus kann gerade in der Politik auch schaden. Doch muss die deutsche Gesellschaft die Fieberhitze ideologisch aufgeladener Temperamente nicht fürchten, denn in der deutschen Politik ist der Typus der glaubens- oder überzeugungsstarken Kraftnaturen gänzlich verschwunden. In der Regierungspolitik dominiert so stark wie wohl nie zuvor in demokratischen Zeiten der Typus des politischen Administrators. Kurt Beck, Wolfgang Schäuble, Peter Struck, Volker Kauder, Franz Müntefering haben eines jedenfalls gemeinsam: Sie haben ihr Handwerk, den Stil und die Methode der Politik als Parlamentarische Geschäftführer gelernt.

Parlamentarische Geschäftsführer? Kaum jemand kennt sie. Im Sozialkundeunterricht hat man über sie wenig, vermutlich gar nichts erfahren. Dabei läuft in Fraktionen und Parlamenten nichts ohne ihr Tun. Parlamentarische Geschäftsführer sind die Maschinisten, Techniker, Heizer der Macht. Sie entscheiden über Chancen in der Fraktion, über Redneranteile, Ressourcen, Büros, Tagesordnungen, Antragsbehandlungen etc. Man kennt Parlamentarische Geschäftsführer zwar außerhalb des Berliner Regierungsviertels nicht; doch das stört sie nicht, denn sie verfügen über reale Macht. Sie sind die Strippenzieher im Hintergrund, nicht die Diven vor den Kameras.

Parlamentarische Geschäftsführer gelten als arbeitswütig. Sie gehen früh ins Büro und kehren spät wieder heim. Rund 15 Stunden kungeln sie hier, verhandeln dort, telefonieren und simsen unaufhörlich. Sie sind unerreichbare Experten der Tagesordnung. Niemand sortiert und mischt Rednerlisten geschickter als sie. Nur dazu kommen die meisten durch die Terminfülle der Geschäftsführung nicht: zum Grübeln, zur kontemplativen Reflexion, zur vertiefenden Lektüre. Doch entspricht die chronische Geschäftigkeit auch überwiegend ihrem Naturell. Die allermeisten Parlamentarischen Geschäftsführer haben für Menschen in der Politik, die von großen Ideen schwärmen, das Visionäre beschwören, an Sinndefiziten verzweifeln, nichts übrig. Bestenfalls Verachtung. Denn kluge Konzeptionalisten und donnernde Tribunen stören lediglich ihr Alltagsgeschäft.

Parlamentarische Geschäftsführer sind dafür da, in den eigenen Reihen Ruhe und Stabilität zu sichern. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Fraktion geschlossen auftritt, dass die Antragsmaschinerie reibungslos klappt, die Außendarstellung ohne Widersprüchlichkeiten funktioniert. Disziplin und Reibungslosigkeit – das sind die höchsten Ziele von Parlamentarischen Geschäftsführern. Zu welchem Zweck, mit welchem Ziel – das ist weniger bedeutsam. Parlamentarische Geschäftsführer sind in der Regel ideologisch gänzlich leidenschaftslos.

Natürlich, jede effiziente Politik ist auf diesen Typus angewiesen: auf seine Verlässlichkeit und Geräuschlosigkeit, auf seine Organisationsfertigkeit und nüchterne Erfahrung. Gerade moderne parlamentarische Demokratien in hochkomplexen Gesellschaften benötigen tüchtige Geschäftsführer des Alltagsbetriebs, um sich nicht hoffnungslos in sonst chaotischen Improvisationen zu verlieren. Parteien tun also gut daran, diese Frauen und Männer mit „Wirklichkeitssinn“ in den vordersten Reihen zu platzieren.

Doch bedenklich ist, wenn dieser Typus das politische Feld dominiert, wie derzeit ganz besonders bei den Sozialdemokraten. Denn auch die drei, die sich für die Ära nach Müntefering, Struck und vielleicht gar Beck bereits als neue Repräsentanten einer modernen „sozialen Demokratie“ „auf der Höhe der Zeit“ ins Rampenlicht der Öffentlichkeit schieben, sind von ihrer entscheidenden Prägung her Büroleiter (Steinbrück und Steinmeier) oder ebenfalls Parlamentarische Geschäftsführer (Platzeck in der Fraktionsgemeinschaft Bündnis 90/Grüne). Da ist dann kaum noch jemand, der in weiten Perspektiven zu denken wagt, der über oratorisches Feuer und darstellerisches Temperament verfügt, der die Phantasien und Hoffnungen des lethargischen Fußvolks der früheren Volksparteien bewegen könnte. Ganz Großes kann da, um mit Hegel zu folgern, in mittlerer Frist politisch nicht entstehen.

Prof. Dr. FRANZ WALTER, geb. 1956, lehrt an der Universität Göttingen Parteienforschung. Zuletzt erschien von ihm „Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 70 - 71.

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