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01. Dez. 2006

Bedingungslose Kapitulation

Wider die jüngsten Versuche, Europas Armen ihre Erwerbslosigkeit zu versüßen

Als ich die neueste frohe Botschaft des Soziologen Ulrich Beck las – „Freiheit statt Vollbeschäftigung“(NZZ, 4.11.) – fiel mir der alte Laotse-Spruch wieder ein: Wenn die Wörter nicht stimmen, dann stimmen auch die Gedanken nicht, und deshalb nicht die Taten, und deshalb ist Unordnung in der Gesellschaft so groß. Beck begründet seine Verheißung mit der „bitteren Einsicht“, dass die neue Armut in Europa „ausweglos“ sei. Grund: Sie sei „die Konsequenz aller Versuche, sie zu überwinden“, die Arbeitslosigkeit unvermeidbare Kehrseite der „gewaltigen Produktivitätsfortschritte“. Millionen von Menschen würden „ausgesondert“, weil sie „in der kapitalistischen, auf Arbeit fixierten Kultur nicht mehr ‚gebraucht‘ werden“. Mit einem Heer von Armen aber könne es keine Demokratie geben, sondern werde es „demnächst so richtig knallen“.

Schnell gelesen, klingt das plausibel. Richtig ist, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit immer weiter sinkt. Aber weder ist Armut die „Konsequenz der Versuche, sie zu überwinden“, noch falsifizieren „gewaltige Produktivitätsfortschritte“ die „Vollbeschäftigungsphilosophie“. Und schon gar nicht ist die „kapitalistische Kultur auf Arbeit fixiert“, sondern auf die Maximierung des Gewinns – weswegen Arbeit ihr nicht als „Band zur Realität“ gilt (Freud), sondern als flüssiger Produktionsfaktor, dessen Wert der Weltmarkt bestimmt.

Nun hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Demokratie und Kapital – der Zahl der vielen und der Geldmacht der wenigen – mit dem Washington-Konsens radikal verschoben. Das haben unsere Parlamentarier (im WTO-Vertrag) ratifiziert; es führt dazu, dass die Ungleichheiten zwischen kapitalintensiven Zonen und uninteressanten Kontinenten, zwischen Arm und Reich ins Extreme steigen. Das ist inzwischen Common Sense, von Soros bis zur Linkspartei, und ebenso das Postulat, die Politik müsse ihre Autonomie zurückgewinnen, wenn es nicht „richtig knallen“ soll. Die Forderung nach einer globalen „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ aber ist seit 15 Jahren wenig mehr als ein Mantra; wahrscheinlicher scheint, dass die „Satansmühle“ (Max Weber) des Kapitals nicht mehr zu bremsen ist. Deshalb, so Becks Freiheitsparole, gehöre in Europa die Frage auf die Tagesordnung, wie man ein „sinnvolles Leben“ ohne Erwerbsarbeit führen könne. Seine Anwort: „bedingungsloses Bürgereinkommen, etwa in Höhe von 700 Euro“. Oder eben: „Freiheit statt Vollbeschäftigung“.

Bei näherem Hinsehen geht es bei dieser Fanfare um nichts weniger als eine – wirtschaftlich und politisch – kostengünstigere Alimentierung der Überflüssigen durch die Beschleunigten. Das „bedingungslose Grundeinkommen“ , das derzeit in grünen, schwarzen und gelben Varianten kursiert, läuft auf eine Stilllegungsprämie unterhalb der Pfändungsgrenze hinaus. „Nie wieder Vollbeschäftigung – wir haben Besseres zu tun“, jubeln die Mittelschichtsdenker und rufen zur Schaffung eines dauerhaften Lumpenproletariats auf, dem ein Leben neben der Gesellschaft „geschenkt“ wird. Das wäre die große Lösung – die Endlösung der Arbeits-losenfrage durch ihre politische Umdefinition. Ein bizarres „Reich der Freiheit“ und der „Sicherheit“: für Brauereiunternehmer, Spielkonsolenhersteller und ein Millionenheer von Grundschulabsolventen, die sicher wären, ihr bürgerliches Anerkennungsbegehren mit Verzehr im Gegenwert von 700 Euro (minus Miete und Krankenkasse) ersäufen zu können.

Das Proletariat hat nichts zu verlieren außer seinen Ketten – das ist lange vorbei; „intellectuals have nothing to lose but their brains“ (Arthur Koestler) gilt leider noch immer, und mit Wehmut erinnert man sich an die letzten Heroen einer Wirtschaftswissenschaft, die sich seit Adam Smith als „moral science“ verstand. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit gemeinschaftlich so rationell wie möglich zu leisten, damit wir Zeit für das „Eigentliche“ gewinnen: die volle Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte – das war, von Campanella bis zum Berliner Programm der SPD von 1989, die bürgerliche Idee des Fortschritts. John Maynard Keynes hat sie 1929 rührend pathetisch formuliert: Die Arbeitslosigkeit sei kein Endzustand, sondern ein „Wachstumsschmerz“. Der Produktivismus schaffe den Boden für die Kulturgesellschaft, aber, damit sie wirklich wird, brauche es eine kulturelle Revolution: Der Trieb der Akkumulation werde als das erkannt werden müssen, was er ist: „ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halbkriminellen, halbpathologischen Neigungen, die man mit Schaudern an einen Spezialisten für Geisteskrankheiten verweist“; und, zweitens, eine Synchronisierung von Produktivitätsgewinn und Arbeitszeitverkürzung: „Wir werden uns bemühen, die Butter dünn auf dem Brot zu verstreichen, die übrig gebliebene notwendige Arbeit so weit wie möglich auf alle Schultern zu verteilen.“ Das werde nicht leicht, denn der „alte Adam wird noch lange Zeit in uns mächtig sein“, bevor wir den Sinn der Produktivität darin sehen, wieder „Singen zu lernen“, sprich unsere „Lebenskunst zu höherer Vollkommenheit zu entwickeln“.

„Wie kann man ein sinnvolles Leben führen, auch wenn man keinen Arbeitsplatz findet? Wie werden Demokratie und Freiheit jenseits der Vollbeschäftigung möglich? Wie wird der Mensch selbstbewusster Bürger – ohne Lohnarbeit“, fragt Ulrich Beck. So – „wie“ statt „ob“ – kann man nur fragen, wenn die Substantive nicht mehr das bedeuten, wofür sie einmal standen. Fragen nach der Kapitulation.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2006, S. 94‑95

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