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01. Sep 2008

Krieg statt Frieden

Der Kaukasus-Konflikt zeigt: Wir müssen nicht über, sondern mit Russland reden

Der Fünftagekrieg am Kaukasus hat das Zeug zur historischen Zäsur. Das Verhältnis des Westens zu Moskau wird sich ändern – ob zum Besseren oder Schlechteren, steht noch dahin. Über Fakten lässt sich schwer streiten: Russische Truppen stoppten die georgische Invasion der von Tiflis abgefallenen Provinz Südossetien und eroberten die eingenommene Hauptstadt Zchinwali zurück. Auch militärische Ziele im Kernland Georgiens blieben nicht verschont. Die Russische Föderation setzte Waffengewalt jenseits des eigenen Territoriums ein – zum ersten Mal seit ihrer Gründung als souveräner Staat. Wie hätte die NATO reagiert, wären serbische Streitkräfte im Kosovo eingefallen, um sich wieder zum Herrn über Pristina aufzuschwingen? Dennoch dominiert im Westen eine monochrome Deutung des Geschehens: Russland ist der Aggressor, der einmal mehr seinen neoimperialen Ehrgeiz unter Beweis stellt.

Wo immer seit Ende des Ost-West-Konflikts in Europa Krieg geführt wurde, standen Nationalismus, Separatismus und territorialer Revisionismus unter den Ursachen an vorderster Stelle. Nicht zufällig lag das Gros einschlägiger Krisenherde östlich der Systemgrenze, die bis 1989/90 den Kontinent spaltete. Diesen Teil Europas kennzeichnet, dass seine Geschichte den Typus des homogenen Nationalstaats nicht ausgebildet hat; er lässt sich auch nachträglich nicht schaffen, ohne dass ganze Bevölkerungsgruppen aus ihren Lebensgebieten verwiesen werden müssten. Erzwungene Grenzänderungen pflegen nur andere Konglomerate mit anders gemischten Ethnien hervorzubringen, aber kaum überzeugendere Lösungen an sich.

Das Land mit der jüngsten und reichsten Erfahrung eines sich auflösenden Vielvölkergebildes ist Russland. Als der Moskauer Staat 1991 von der Sowjetunion zur Russischen Föderation schrumpfte, blieb ein Sechstel der russischen Bevölkerung außerhalb der neuen Landesgrenzen, rund 25 Millionen Menschen. Eine annähernd gleich große Zahl russischer Staatsbürger waren Nichtrussen. Dennoch vollzog sich der Zerfallsprozess unter weit weniger brachialen Begleitumständen als in Jugoslawien – mit Ausnahme Tschetscheniens. Aber er hinterließ die „eingefrorenen“ Sezessionskonflikte südlich des Kaukasus. Keiner davon ist lösbar ohne, geschweige denn gegen Russland.

Über den politischen Wandel im postsowjetischen Russland bestehen weithin noch unklare Vorstellungen. In der zweiten Amtszeit Boris Jelzins war Russland überschuldet, zeitweise zahlungsunfähig. In den Augen der meisten Russen hat Putin das abgewirtschaftete Haus wieder in Ordnung gebracht. Als er aus dem Präsidentenamt ausschied, war das Land schuldenfrei. Es verfügt über stattliche Devisenreserven und Energievorräte, um die sich die Welt reißt.

Neuer Schauplatz in Europa?

Kann es verwundern, wenn die Konsolidierung im Inneren auch außenpolitische Wirkungen zeitigt? Nicht, dass frühere Moskauer Machthaber westliche Affronts klaglos schluckten. Die nach Osten expandierende NATO, so hatte schon ein aufgebrachter Jelzin gepoltert, werde in Europa die Flamme des Krieges entfachen. Niemand nahm ihn ernst, wozu auch: Wer die Hand aufhalten muss, kann schlecht die Faust ballen. Seinem Nachfolger gelang es, die Rolle des ohnmächtigen Bittstellers abzustreifen, er verstieg sich gleichwohl nicht zu einer maßlosen Sprache. Wer die viel diskutierte Münchner Rede Putins vom 10. Februar 2007 liest, findet begründete Beschwerden und erfüllbare Erwartungen; sie überschreiten nicht den Rahmen legitimer Sicherheitsbelange, die alle Länder, zumal die westlichen, wie selbstverständlich für sich beanspruchen.

Sollten diejenigen Recht behalten, die in der Ossetien-Krise nur den Vorboten eines neuen Kalten Krieges wähnen, fehlt es in Europa nicht an möglichen Schauplätzen. Außer Georgien hat der Bukarester Gipfel auch der Ukraine die NATO-Aufnahme zugesagt. Nicht weniger als 75 Prozent ihrer Bevölkerung stehen dieser Aussicht Ministerpräsidentin Timoschenko zufolge ausgesprochen feindselig gegenüber. Die Krim-Halbinsel, mehrheitlich von Russen bewohnt, bietet besondere Voraussetzungen für ein direktes Aufeinandertreffen. Hier nutzt Moskau noch bis 2017 Sewastopol als Heimathafen seiner Schwarzmeer-Flotte, unweit davon veranstalten ukrainische und amerikanische Marineverbände allsommerlich gemeinsame Seemanöver.

Den einheitlichen Sicherheitsraum Europa – ohne Trennlinien und Einflusssphären – versprach die NATO Russland in der Grundlagenakte vom 27. Mai 1997. Was ist davon übrig nach zwei Erweiterungsrunden um zehn neue Mitglieder, nach dem amerikanischen Entschluss, in Rumänien und Bulgarien Militärstützpunkte zu errichten und nach der Entscheidung für ein Raketenabfangsystem vor Russlands Haustür? Putins Nachfolger Medwedjew beklagte bei seinem Antrittsbesuch in Berlin, dass sich die NATO fortlaufend neue Zuständigkeiten aneigne und Organisationen wie die UN und die OSZE, denen auch Russland angehört, immer weiter marginalisiere. Er plädierte für eine Reform der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur. Der Vorschlag blieb gänzlich unbeachtet. Vielleicht könnte man seinen Urheber einmal fragen, was er sich darunter vorstellt?

Dr. REINHARD MUTZ ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.