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01. Juli 2003

Kosmopolitische Globalisierung

Die schöpferische Selbstzerstörung der Weltordnung

Vor unseren Augen, so der in München lehrende Soziologe Ulrich Beck, vollzieht sich derzeit eine der wichtigsten Veränderungen in der Geschichte der Macht: Weltwirtschaftliche Akteure und die Gegenmacht der globalen Zivilgesellschaft unterhöhlen die bisher von Nationalstaaten dominierte „legitime“ Weltordnung. In dieser Epoche des Umbruchs könnte die „weiche und vage“ Idee des Kosmopolitismus zur Nachfolgerin der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts werden.

Gegenwärtig vollzieht sich – so die These dieses Beitrags – eine schöpferische Selbstzerstörung der von Nationalstaaten dominierten „legitimen“ Weltordnung.1 Weltpolitik ist Weltinnenpolitik geworden, die der nationalen Politik die Grenzen und Grundlagen raubt. Weltwirtschaftliche Akteure sind nicht prinzipiell mächtiger als Staaten, aber sie sind früher ausgebrochen aus den Bornierungen der nationalen Orthodoxie: Das ist das Neue.

Wir sind Augenzeugen einer der wichtigsten Veränderungen in der Geschichte der Macht. Wer der Frage nachgeht, woraus die globalen Kapitalstrategien ihre Metamacht schöpfen, trifft auf einen merkwürdigen Umstand. Der Grundgedanke kam in der Überschrift einer osteuropäischen Zeitung zum Ausdruck, die beim Besuch des deutschen Bundeskanzlers im Jahre 1999 titelte: „Wir vergeben den Kreuzrittern und erwarten die Investoren“. Das Zwangsmittel ist nicht der drohende Einmarsch, sondern der drohende Nichteinmarsch der Investoren oder ihr drohender Abmarsch. Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als von Multis überrollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden.

Diese Form der Herrschaft ist nicht länger an die Ausführung von Befehlen gebunden, sondern an die Möglichkeit, anderweitig – in anderen Ländern – günstiger zu investieren, und der dadurch eröffneten Drohkulisse, etwas nicht zu tun, nämlich nicht in diesem Land zu investieren. Die neue Macht der Konzerne gründet in diesem Sinne nicht auf Gewalt als Ultima Ratio, um den eigenen Willen anderen aufzuzwingen, und sie ist deswegen viel beweglicher, da ortsunabhängig und in Folge dessen „global einsetzbar“. Das Erpressungspotenzial dieser Herrschaft perfektioniert die Logik ökonomischen Handelns und ökonomischer Macht: Immer und überall etwas nicht zu tun, nicht zu investieren, ohne öffentlich begründungspflichtig zu werden – das ist der zentrale Machthebel weltwirtschaftlicher Akteure.

Im Unterschied dazu beruht die Gegenmacht der globalen Zivilgesellschaft auf der Figur des politischen Konsumenten. Seine Gegenmacht resultiert daraus, dass er immer und überall den Kauf verweigern kann. Die „Waffe des Nichtkaufens“ ist weder örtlich noch zeitlich noch sachlich einzuschränken. Sie ist auf einige Bedingungen angewiesen, beispielsweise darauf, dass man überhaupt über Geld verfügt, oder auch darauf, dass es ein Überangebot von Produkten und Dienstleistungen gibt, zwischen denen der Konsument wählen kann. Genau mit diesen Bedingungen, also mit der Pluralität der Kauf- und Konsummöglichkeiten, schwinden die subjektiven Kosten, dieses Produkt dieses Konzerns durch organisierten Nichtkauf zu bestrafen.

Fatal für die Interessen des Kapitals ist, dass es gegen die wachsende Gegenmacht der Konsumenten keine Gegenstrategie gibt: Selbst allmächtig erscheinende Weltkonzerne können ihre Konsumenten nicht entlassen. Konsumenten sind – anders als Arbeiter – weder Mitglieder, noch wollen sie es werden. Auch das Erpressungsmittel, in anderen Ländern zu produzieren, wo die Konsumenten noch brav sind und alles schlucken, was ihnen vorgesetzt wird, ist ein gänzlich untaugliches Instrument. Erstens ist der Konsument globalisiert und als solcher für die Konzerne sehr erwünscht. Zweitens kann man Konsumentenprotesten in einem Land nicht durch Abwanderung in andere Länder begegnen, ohne sich selbst zu verstümmeln. Auch gelingt es nicht, die nationale Solidarität der Konsumenten gegeneinander auszuspielen; Konsumentenproteste sind als solche transnational. Die Konsumgesellschaft ist die real existierende Weltgesellschaft. Konsum kennt keine Grenzen – weder die der Herstellung noch die des Verbrauchs. Die Konsumenten sind alles das nicht, was die Arbeiter sind. Das macht ihre bislang kaum entfaltete Gegenmacht so gefährlich für die Macht des Kapitals.

Während die Gegenmacht der Arbeiter – gemäß der Herr-Knecht-Dialektik – an direkte raum-zeitliche Interaktions- und Vertragsbeziehungen gebunden ist, ist der Konsument frei von diesen territorialen, lokalen und vertraglichen Bindungen. Gut vernetzt und gezielt mobilisiert kann der entbundene, der freie Konsument, transnational organisiert, zu einer scharfen Waffe geformt werden.

Die Macht der globalen Zivilgesellschaft

Die Metamacht der globalen Zivilgesellschaft beruht auch darauf, den Menschenrechten Geltung zu verschaffen entgegen der nationalstaatlichen Scheinselbstverständlichkeit, wonach Staaten in ihrem Herrschaftsraum tun und lassen können, was sie wollen. Auch die Menschenrechtspolitik eröffnet ein Arsenal von Strategien der stillen Revolutionierung des internationalen Systems. Wird im Bezugsrahmen der Weltwirtschaft die Grundlage der Souveränität völkerrechtlich anerkannter Staaten wesentlich durch die Entzugsmacht des „Nein“ relativiert oder konterkariert, so wird hier durch den normativen, rechtlichen und politischen Vorgriff auf einen „weltbürgerlichen“ Zustand diese Unabhängigkeit des Nationalstaats zur Disposition gestellt. Die Einforderung von Menschenrechten erlaubt es nicht nur Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sondern auch einer Gruppe weltbürgerlich engagierter Staaten, über die Grenzen hinweg auf die Beziehungen von Autorität und Legitimation innerhalb anderer Staaten Einfluss auszuüben. Mit anderen Worten: Der Einflussraum kooperativer kosmopolitischer Staaten wächst enorm. Das Menschenrechtsregime verwandelt nämlich den nationalstaatlich fragmentierten in einen grenzenlosen Machtraum der „Weltinnenpolitik“(Carl-Friedrich von Weizsäcker), in dem „fremde“ Staaten, aber auch NGOs, sich in die „Innenpolitik“ anderer Länder einmischen und deren Herrschaftsstrukturen und Legitimationsgrundlagen verändern können. Dies gelingt insbesondere dann, wenn durch das Menschenrechtsregime und entsprechende regionale Konventionen interne, weltbürgerlich orientierte Widerstandsgruppen ermutigt und ermächtigt werden, oder wenn Menschenrechtspolitik mit wirtschaftlichen oder militärischen Sanktionen verbunden wird.

Machtressource Menschenrechte

In diesem Sinne eröffnet die Sprache der Menschenrechte einen in höchstem Maße legitimen, autoritativen Machtdiskurs, der es einerseits unterdrückten und gefährdeten Gruppen erlaubt, ihre Rechte zu legitimieren und in internen Kämpfen mit externer, weltöffentlicher Unterstützung (möglicherweise) durchzusetzen; andererseits wird aber auch Regierungen und NGOs ein dauerhaftes und prinzipielles Mitsprache- und Mitwirkungsrecht überall auf der Welt eingeräumt.

In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen echtem und unechtem Kosmopolitismus zentral. Die Möglichkeit der unechten Kosmopolitisierung, d.h. Instrumentalisierung der globalen Durchsetzung der Menschenrechte im Sinne der nationalen Mission, die sich der einen verbliebenen Weltmacht, nämlich den Vereinigten Staaten bietet, liegt auf der Hand. Die meisten Regierungen der Europäischen Union betreiben hingegen eher eine echte Kosmopolitisierung, d.h. eine Politik der Menschenrechte im Sinne einer allgemein verbindlichen Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die die Parameter der nationalen Machtpolitik sukzessive im Sinne eines kosmopolitischen Regimes der „weltbürgerlichen Innenpolitik“ verändert.

Heute verfügen die weltbürgerlich orientierten Staaten des Westens über alle Trümpfe und ein freies Feld, um die neue Machtressource Menschenrechte voll auszuspielen: Die Themen der globalen Zivilgesellschaft versorgen die global agierende westliche Staatengemeinschaft mit dem ideologischen Rüstzeug für weltwirtschaftliche und militärische Kreuzzüge. Diese neue Mischform von humanitärer Selbstlosigkeit und imperialer Machtlogik zeigt sich insbesondere an den „humanitären Interventionen“, die einem äußerst ambivalenten „militärischen Humanismus“ (einschließlich der entsprechenden Rüstung und Umorientierung der damit beauftragten und dafür ausgerüsteten national-transnationalen Streitkräfte) zum Durchbruch verholfen hat.

Globalisierungsbefürwortungsgegner

Worauf gründet sich die Vermutung, dass ausgerechnet diese weiche und vage Idee des Kosmopolitismus die Nachfolge der großen Ideen des 20. Jahrhunderts antreten könnte? Der Widerstand gegen die neoliberale Agenda der Globalisierung forciert eine weltbürgerliche Agenda der Globalisierung. Alle Krisen, alle Zusammenbrüche, die durch Globalisierung erzeugt werden, haben ein und denselben Effekt: Sie verstärken den Ruf nach einem kosmopolitischen Regime, öffnen (gewollt oder ungewollt) den Raum für eine globale Macht- und Rechtsordnung. Konflikte und Globalisierung globalisieren den kosmopolitischen Denk- und Erwartungshorizont.

Weil die Globalisierungsgegner ihre Gipfelproteste transnational organisieren, müssen die Gegenaktionen der Polizei ihrerseits transnationalisiert werden. Die nationalen Polizeien müssen über ihre nationalen Schatten springen und sich selbst denationalisieren, transnationalisieren. Also: der supranationale Protest erfordert supranationale Polizei, ein entsprechendes supranationales Informationssystem, supranationale Rechtsordnung usw.

Dieser eigentümliche Zwang, den Widerstand gegen Globalisierung nur unter der Zielsetzung einer anderen, nämlich der guten, wahren Globalisierung praktizieren und rechtfertigen zu können, zeigt sich in vielen Formen. Wer gegen Globalisierung auf den Straßen protestiert, ist kein „Globalisierungsgegner“ – welch ein Wortschwindel! Es sind Globalisierungsbefürwortungsgegner, die gegen andere Globalisierungsbefürwortungsgegner im globalen Machtraum andere globale Normen durchsetzen wollen. Die Befürwortungsgegner überholen sich wechselseitig mit globalen Zielsetzungen und treiben den Globalisierungsprozess auf diese Weise mit der Peitsche des Widerstands und Widerspruchs immer weiter und schneller voran.

Alle „Globalisierungsgegner“ teilen mit ihren „Gegnern“ die globalen Kommunikationsmedien (deren Anwendungsmöglichkeiten für die Zwecke transnationaler Protestbewegungen und ihrer Organisierbarkeit sie damit erweitern). Die globalisierte Ökonomie lässt sich nur global in geregelte Bahnen lenken – nur wer global dafür kämpft, hat überhaupt eine Chance auf Erfolg.

Doch das Gesetz, das hier aufscheint, ist äußerst merkwürdig und bedarf der genaueren Analyse: Macht und Gegenmacht sind Momente, man könnte fast sagen Komplizen bei der Verwirklichung des kosmopolitischen Regimes. Das heißt aber nicht, dass Kosmopolitismus überall Zustimmung findet oder nicht bekämpft wird. Es heißt vielmehr: die absolutistische Definitionsmacht des kosmopolitischen Regimes kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass es zentrale Unterscheidungen aufhebt, unterläuft, mischt, neu kombiniert. Alle sind „Befürwortungsgegner“, und alle sind Sowohl-als-Auch. Personifiziert kommt dieses Sowohl-als-Auch in der Figur des Berufsspekulanten George Soros zum Ausdruck, der in seiner Person sowohl das wildgewordene Kapital als auch die radikale Gegenbewegung verkörpert. Er ist sowohl Spitzenspekulant als auch dessen Radikalkritiker.

Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis Regierende sich aus dem Traum ihrer nationalen und neoliberalen Selbstfesselung befreien und im Schulterschluss mit den NGOs ihre ureigensten Interessen umsetzen. Wer sich die weltpolitischen Folgeereignisse auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 vor Augen hält, der muss zu der Einsicht kommen: Man darf die Idee des Kosmopolitismus dem Staat nicht leichtfertig anvertrauen, denn dieser nutzt die ihm zufallenden kosmopolitischen Handlungschancen zur Stärkung seiner Hegemonie und zum transnationalen Ausbau von Überwachungsstaaten. Das Gefährdungsargument eröffnet einem weltpolitischen Fundamentalismus der Gefahrenprävention Tor und Tür. Kosmopolitischer Despotismus bedeutet: Die weltpolitische Instrumentalisierung kosmopolitischer Gefahren droht, hinter die Moderne zurückzufallen, indem das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, d.h. mit der Basisinstitution der Ersten Moderne, der nationalstaatlichen Demokratie, wird das Basisprinzip der Moderne ganz allgemein, die Zentralität der Demokratie, aufgehoben. Make law, not war!

Globale Handlungschancen

Globale Gefahren stellen das Überleben der Menschheit in Frage und eröffnen dadurch globale Handlungschancen. Die Prognose liegt nahe: Das Jahrhundert der Selbstgefährdung des Globus wird wie nie zuvor das Jahrhundert der „Einen Welt“ sein. Das Wissen, dass die Tragödien unserer Zeit in Herkunft und Reichweite alle global sind, lässt einen kosmopolitischen Erfahrungs- und Erwartungshorizont entstehen. Die Einsicht wächst: Wir leben in einem globalen Verantwortungszusammen- hang, aus dem niemand sich herausstehlen kann. In diesem Sinne hat der 11. September 2001 öffentlich sichtbar gemacht (und zwar zum ersten Mal in den letzten fünfzig Jahren), dass Frieden und Sicherheit des Westens nicht länger vereinbar sind mit der Existenz von Konfliktherden in anderen Gebieten der Welt.

Die angemessene Antwort auf die terroristische Bedrohung ist demnach der Kosmopolitismus – zu sagen, dass jeder von uns, wer immer und wo immer wir sind, das Recht hat zu leben, zu lieben, zu träumen und eine Welt herbeizusehnen, in der ein Jeder diese Rechte besitzt. Das Perfide liegt allerdings darin, dass diese schöne Idee bestens verwendet und gewendet werden kann, um das exakte Gegenteil in die Tat umzusetzen.

Anmerkung

1  Diese These wird entfaltet in Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt/Main 2002.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2003, S. 9 - 14

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