Das kosmopolitische Empire
Ein Plädoyer für ein Europa jenseits des Nationalstaats
Europa kann und wird weder Staat noch Nation werden. Darum kann es auch nicht mit nationalstaatlichen Begriffen gedacht werden. Der Weg zur Einigkeit Europas führt nicht über seine Einheitlichkeit, sondern über die Anerkennung seiner nationalen Partikularitäten. Gerade seine Vielfalt ist die Quelle, aus der Europa schöpfen kann. Und nur im europäischen Zusammenspiel liegt die Lösung nationaler Probleme.
Immanuel Kant schrieb vor mehr als 200 Jahren, dass wir Seite an Seite leben, „so daß Rechtsverletzungen an einem Ort der Erde an allen gefühlt“ werden. Und Nietzsche forderte bereits vor 150 Jahren, dass sich „Europa entschließen müßte (…) damit die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluß käme. Die Zeit für Kleine Politik ist vorbei. Schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Weltherrschaft, den Zwang zur Großen Politik.“
Karl Marx sagte voraus, dass es das sich globalisierende Kapital und nicht die Politik der Staaten sei, das die nationale Politikaxiomatik durchbreche und das Spiel der Großen Politik eröffne. „An die Stelle der alten globalen, nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen von einander. Und wie in der materiellen so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“
Max Weber schließlich zog die Konsequenzen für die historischen Wissenschaften: „Aber irgendwann wechselt die Farbe: Die Bedeutung der unreflektiert vertretenen Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weitergegangen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken.“
Was Kant, Nietzsche, Marx und Weber prophezeiten, ist unsere Gegenwart: Es liegt ein neuer Kosmopolitismus in der Luft.
Was ist Aufklärung am Beginn des 21. Jahrhunderts? Habe den Mut, dich deines „kosmopolitischen Blickes“ zu bedienen, das heißt, dich zu deinen vielfältigen Identitäten zu bekennen: die aus Sprache, Hautfarbe, Nationalität oder Religion erwachsenen Lebensformen mit dem Bewusstsein zu verbinden, dass in der radikalen Unsicherheit der Welt alle gleich sind und jeder anders ist.
Angewendet auf Europa erkennt der kosmopolitische Blick: Europa krankt noch immer nicht nur an seiner Vielwollerei, sondern mehr noch an seiner nationalen Ontologie von Politik und Gesellschaft, die seine Essenz und seine historische Einmaligkeit verkennt und zugleich politische Blockaden verursacht. Wer Europa als Großnation denkt – das ist die Paradoxie, die es zu begreifen gilt –, weckt die nationalen Urängste der Europäer: entweder Europa oder die europäischen Nationen – ein Drittes ist ausgeschlossen. Dieses nationale Selbstmissverständnis macht Europa und seine Mitgliedsländer letztlich zu Erzrivalen, die sich wechselseitig in ihrer Existenz bedrohen. Europäisierung wird, so missverstanden, zu einem teuflischen Nullsummenspiel, bei dem am Ende beide – Europa und seine Nationen – verlieren.
Die andere Seite der Paradoxie ist, dass man aus dem nationalen Begriffs-horizont von Gesellschaft und Politik aussteigen, also Europa kosmopolitisch neu denken muss, um den Mitgliedsländern die Ängste zu nehmen, dass sie mit ihrer Zustimmung zur Europäischen Verfassung kulturellen Selbstmord begehen. Ein kosmopolitisches Europa ist damit zuallererst das Europa der Differenz, der anerkannten nationalen Partikularitäten. Diese Vielfalt, sei es der Sprachen, der Wirtschaftsformen, der Politikkulturen und Demokratieformen, erscheint im kosmopolitischen Blick vor allem als eine unerschöpfliche Quelle, vielleicht als die Quelle des kosmopolitischen Selbstbewusstseins Europas – und nicht, wie im nationalen Blick, als Integrationshemmnis.
Europa jedoch wird immer noch national als „unvollendete Nation“, als „unvollendeter Bundesstaat“ gedacht und so behandelt, als ob es beides – Nation und Staat – werden müsste. Es ist nicht zuletzt dieses Unvermögen, die historisch neuartige Realität der Europäisierung zu begreifen und zu verstehen, die die eigentliche Misere Europas ausmacht. Und hier liegt auch ein wesentlicher Grund, warum die EU-Institutionen den Bürgern, denen sie dienen soll, unnahbar, unwirklich und oft sogar bedrohlich erscheinen.
Selbst die avancierte Europa-Forschung hat es bisher kaum gewagt, über die herkömmlichen Grundmuster nationalstaatlichen Denkens hinaus zu gehen. Auch die Europäische Union wird nach dem nationalstaatlichen Muster von Territorialität, Souveränität, Kompetenzverteilung und Abgrenzung betrachtet. Selbst wo sie mit höherer Komplexität von „Governance“ oder „Mehrebenensystem“ spricht, bleibt die politikwissenschaftlich und juristisch geprägte Europa-Forschung doch in Ordnungssystemen befangen, die darauf zielen, die EU nach den Mustern des Nationalstaats zu begreifen und zu gestalten.
Besonders auffällig ist das Versagen der Soziologie gegenüber Europa. Sie hat ihr Instrumentarium im ausgehenden 19. Jahrhundert aus der Analyse nationaler Gesellschaften gewonnen, und da es zur Analyse der europäischen Gesellschaft wenig geeignet ist, zieht sie den Schluss, dass es offenbar überhaupt keine europäische Gesellschaft gibt, die der Rede wert ist. Warum das so ist, dafür gibt es viele Ursachen, aber einen besonders kritikwürdigen Grund: Der Gesellschaftsbegriff ist der Kristallisationspunkt des methodologischen Nationalismus der Soziologie. Danach muss Europa im Plural der Gesellschaften, also additiv oder bestenfalls komparativ begriffen werden. Anders gesagt: Die Gesellschaft Europas fällt zusammen mit den nationalen Gesellschaften Europas. Dieser methodologische Nationalismus der Sozialwissenschaft wird historisch falsch, weil er die komplexen Wirklichkeiten und Interaktionsräume Europas ausblendet. Mit einem Wort: Er ist und macht europablind.
Einem ähnlichen Denkmuster entspringt die Formel „Es gibt keinen europäischen Demos.“ Welcher Demos ist damit gemeint, der der griechischen Polis, der Schweizer Kantone oder der Nationalstaaten? Aber wie steht es mit den realen Gesellschaften unserer miteinander verflochtenen Länder? Verfügen die Nationalstaaten selbst überhaupt noch über einen homogenen Demos der Staatsbürger?
Überall (unausgesprochen) die nationalstaatliche Begriffsmesslatte, an der die Realitäten der Europäisierung defizitär erscheinen: kein Demos, kein Volk, kein Staat, keine Demokratie, keine Öffentlichkeit. Dabei gibt es neben Desinteresse und blankem Unverständnis für die Debatten anderer Mitgliedsstaaten auch eine ständig steigende Menge transnationaler Kommunikationsprozesse über gleiche Herausforderungen, wie zuletzt die Reaktionen auf den Irak-Krieg, auf die demokratische Revolte in der Ukraine oder den europäischen Antisemitismus. Statt also stereotyp zu behaupten, es gäbe keine europäische Öffentlichkeit, sollte man das nationalstaatlich fixierte Verständnis von Öffentlichkeit kosmopolitisch öffnen, um die realen Dynamiken in den Blick nehmen zu können, aus denen sich grenzübergreifende Formen europäischer Öffentlichkeit entwickeln.
„Europäisch“ sind in diesem Sinne ko-nationale Identitäts-, Lebens-, Produktions- und Verkehrsformen, die gleichsam durch die Mauern der Staaten hindurchgreifen. Es handelt sich um Formen und Bewegungen unentwegter Grenzüberschreitung. Im Zuge horizontaler Europäisierung entstehen neue Schattenrealitäten, die gleichsam im toten Winkel der Ausländerbehörden gelebt werden und sich ausweiten und der nachwachsenden Generation selbstverständlich werden: Mehrsprachigkeit, multinationale Netzwerke, binationale Ehen, „Ortspolygamie“, Bildungsmobilität, transnationale Karrieren, Wissenschafts- und Wirtschaftsverflechtungen. Dazu drei Thesen:
Erste These: Europäisierung eröffnet ein historisch neues Positivsummenspiel: Gemeinsame Lösungen dienen dem nationalen Interesse.
Europas Krise ist eine Kopfkrise: Nationale Regierungen kämpfen im nationalen Rahmen mit scheinbar nationalen Problemen und versuchen diese im nationalen Alleingang zu lösen – und scheitern. Man kann es am Beispiel des Exports von Arbeitsplätzen demonstrieren, ebenso an der Kontrolle der Besteuerung von Unternehmensgewinnen: Mobile und weltweit vernetzt agierende Wirtschaftsunternehmen sind in der Lage, einzelne Staaten gegeneinander auszuspielen und damit zu schwächen. Der Ausbau ihrer Macht gelingt um so besser, je mehr im Denken und Handeln von Menschen und Regierungen der nationale Blick vorherrscht. Das ist die Paradoxie, die es zu begreifen gilt: Die nationale Optik verletzt nationale Interessen, weil nationale Interessen im europäischen Zusammenspiel besser verwirklicht werden können!
Wohin man schaut, dieselbe Situation überall in Europa. Die Überalterung droht, Rentensysteme funktionieren nicht mehr, aber die notwendigen Reformen werden durch den organisierten Widerstand der betroffenen Gruppen blockiert. Ein wichtiger Schritt vorwärts aus dieser Falle könnte darin liegen, den Zusammenhang von Bevölkerungsrückgang, überalterten Gesellschaften, notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme und einer gezielten Migrationspolitik, aber auch den Export von Arbeitsplätzen, nicht zuletzt die Besteuerung von Unternehmensgewinnen als ein europäisches Problem zu definieren und kooperativ zu bearbeiten. Alle Regierungen, die sich in der nationalen Sackgasse mit Scheinlösungen begnügen, müssen und können davon profitieren.
Allerdings hat sich die rot-grüne Bundesregierung soeben wieder auf den „deutschen Weg“ in die Sackgasse begeben. SPD-Chef Franz Müntefering will „keine osteuropäischen Billigarbeiter mehr auf deutschen Schlachthöfen“. Also beschließt die Regierung die Ausweitung des Mindestlohns. Die Botschaft – Europa schaffe das böse Neoliberale, Berlin sorge für das gute Soziale – ist fatal und verlogen. Zehntausende deutscher Arbeitsplätze bestehen allein dadurch, weil die neuen Ost-EU-Länder viel mehr Waren aus Deutschland einführen, als sie hierher exportieren. Der nationale Blick – sei es ein rechter, kapitalismusfreundlicher oder ein linker, kapitalismuskritischer – ist immer blind für die Wohlstandsgewinne im Inland und die Wohlfahrtsverluste im ärmeren Ausland.
Vielleicht schlimmer noch ist, dass die deutschen Arbeitsplatzschützer das nationale Interesse verletzen und den Sinn der EU-Verfassung torpedieren. Bringt diese doch die neue Logik des kosmopolitischen Realismus zur Geltung: Gemeinsame Lösungen bringen mehr als nationale Alleingänge! Gerade die dringenden nationalen Probleme bedürfen zu ihrer Lösung der grenzen-übergreifenden Kooperation. Das nationale Problem von Deutschen – z.B. Lohndumping – kann nur auf einem europäischen Weg, durch europäische Mindestlöhne gelöst werden. Dauerhafte Kooperation zwischen Staaten verhindert nicht, sondern erhöht deren Handlungsfähigkeit. Paradox formuliert: Souveränitätsverzicht erweitert Souveränität. Genau das ist das Erfolgsgeheimnis der Europäischen Union.
Wer dagegen alles durch die nationale Brille sieht, gefährdet die nationale Prosperität und die demokratische Freiheit. Das Blühen der Nation und der Wirtschaft, die Bewältigung der Arbeitslosigkeit und die Lebendigkeit der Demokratie setzen den kosmopolitischen Blick, setzen Weltoffenheit voraus. Jenseits von Nation und Post-Nation gilt: Das kosmopolitische Europa gefährdet nicht, sondern genau im Gegenteil: begründet, ermöglicht, erneuert, verwandelt, öffnet den Nationalstaat für das globale Zeitalter.
Zweite These: Europäisierung setzt eine grenzenübergreifende Erinnerungskultur voraus.
„Ach, Europa“, schrieb Thomas Mann unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und meinte damit: unheilvolles Abendland. Zweieinhalbtausend Jahre zerkriegt, verblutet. In jedem beliebigen Dorf in Europas findet man in der Mitte große Gedenksteine, in denen die Namen der Gefallenen eingemeißelt sind – 1915, 1917. Nicht weit entfernt, an der Kirchewand, findet man dann auf der Steintafel mit den Toten des Zweiten Weltkriegs noch einmal drei aus derselben Familie, von denen es heißt: gefallen 1942, gefallen 1944, vermisst 1945. Das war Europa.
Wie lange ist das her? Gar nicht lange, bis Ende der achtziger Jahre des vergangenen 20. Jahrhunderts stand man sich in diesem kriegerischen Europa im atomaren Patt gegenüber. Die Politik der Annäherung zwischen Ost und West schien nur durch die Anerkennung der scheinbar ewigen Spaltung Europas möglich. Und heute? Es ist ein europäisches Wunder geschehen: aus Feinden wurden Nachbarn! Das ist historisch einmalig, mehr noch: eigentlich undenkbar. Ausgerechnet im zügellosesten Moment der Geschichte der Staatenwelt ist eine politische Erfindung gelungen, die das fast Denkunmögliche möglich macht: dass Staaten selbst ihr Gewaltmonopol in ein Gewalttabu verwandeln. Die Androhung von Gewalt als politische Option – sei es zwischen den Mitgliedsstaaten, sei es gegenüber den supranationalen Institutionen – ist ein für alle Mal aus dem Horizont des Möglichen in Europa verbannt worden.
Das wurde möglich, weil im historischen Raum Europas etwas qualitativ Neues entstanden ist: Der nationale Horror der Ermordung der europäischen Juden, die nationalen Kriege und Vertreibungen werden nicht länger nur im nationalen Zirkel erinnert. Vielmehr muss sich der nationale dem europäischen Erinnerungsraum öffnen. Das heißt, es findet (wenigstens in Ansätzen) eine Europäisierung der Perspektiven statt.
Ein solcher Kosmopolitismus der kommunikativen Öffnung, des Annehmens von Interdependenzen in einer sich an den gemeinsamen Interessen orientierenden Einbeziehung des Fremden und des historischen Austauschs der Perspektiven von Tätern und Opfern im postkriegerischen Europa ist etwas anderes als Multikulturalismus oder postmoderne Unverbindlichkeit. Obwohl sich dieser Kosmopolitismus auf ein Gerüst von verbindenden und für alle verbindlichen Normen stützen soll, mit deren Hilfe ein Abgleiten in einen postmodernen Partikularismus verhindert werden kann, ist er doch nicht einfach universalistisch. Für ein Gebilde wie Eu-ropa ist ein aktiver Umgang mit der Vielfalt der Kulturen, Traditionen und Interessen in der Verflechtung der Nationalgesellschaften lebenswichtig. Erst die so unendlich schwierige Vergebung durch Erinnerung schafft das nötige Vertrauen im Verhältnis zwischen den Staaten und Nationen und macht diese handlungsfähig, wie Hannah Arendt argumentiert hat.
Drittens und zum Abschluss eine Frage: Wie wird ein europäisches Empire des Rechts und des Konsenses möglich?
Ein so verstandener Begriff des Kosmopolitismus ist schließlich auch der Schlüssel zum Verständnis und zur Gestaltung neuer Formen der politischen Herrschaft jenseits des Nationalstaats, wie sie sich in Europa herausgebildet haben. An den Beispielen der Globalisierung, insbesondere an den Problemen globaler Finanzströme und -krisen sowie der vernachlässigten europäischen Dimension der sozialpolitischen Krise, bricht allerdings zunächst das Gegenteil hervor: Es gibt keinen nationalstaatlich begrenzten Arbeitsmarkt mehr. Auch wenn wir die Gewehrmündungen auf Fremde richten, können ausgebildete Inder oder Chinesen ihre Dienstleistung per Mouse-Klick in Deutschland und Europa anbieten.
Die Realität wird kosmopolitisch, der unausgrenzbare Andere überall gegenwärtig – aber auf eine Art, die kein kosmopolitischer Philosoph vorgedacht, niemand gewollt hat: ohne Öffentlichkeit, ohne Absicht, ohne politische Entscheidung und Programmatik. Die reale Kosmopolitisierung der Welt vollzieht sich durch die Hintertür der Nebenfolge, unerwünscht, ungesehen, meist erzwungen.
Wie lässt sich derartigen Deformationen begegnen? Durch Macht? Durch die Gestaltungskraft auf Europa übertragener Souveränität? Erlauben es Integrationsschritte wie die Euro-Währungsunion, den erratischen Bewegungen internationaler Wechselkursschwankungen und Spekulationswellen zu begegnen? Wer hat in Europa welche Gestaltungsmacht? Und vorgängig noch: Welcher Begriff politischer Herrschaft ist dafür angemessen?
Edgar Grande und ich haben dafür eine neue Definition des Begriffs „Empire“ vorgeschlagen. Spricht man ihn Französisch aus, klingen andere, napoleonische und koloniale Konnotationen an als in der englischen Version; das britische Empire war wieder etwas anderes als es heute das imperiale Amerika sein will. Der Begriff des „europäischen Empire“ versucht Europa auf gleiche Augenhöhe mit dem andersartigen US-amerikanischen Empire zu setzen. Zugleich ist – bei allen Ähnlichkeiten mit dem komplexen, aus dem Mittelalter hervorgegangenen Bund oder Reich – das europäische Empire am Beginn des 21. Jahrhunderts auf den bestehenden Nationalstaaten aufgebaut. Insofern trägt die Analogie zum Mittelalter nicht. Das kosmopolitische Empire Europa zeichnet sich durch seinen offenen und kooperativen Charakter nach innen und außen aus und steht insofern im deutlichen Gegensatz zur imperialen Vorherrschaft der USA. Europas durchaus reale Macht ist wieder nicht nach dem nationalstaatlichen Modell zu entschlüsseln, sondern liegt eher in dem Vorbildcharakter, wie es in Europa gelang, eine kriegerische Vergangenheit in eine kooperative Zukunft zu verwandeln, wie also das europäische Wunder möglich wurde, dass aus Feinden Nachbarn gemacht werden. Es ist gerade diese besondere Form einer sanften Weltmacht, die eine besondere Ausstrahlung und Attraktivität entfaltet, die im nationalstaatlich geprägten Europa-Denken ebenso oft unterschätzt wird wie in den Machtprojektionen amerikanischer Neokonservativer.
Welche Folgen aber hat das für den Schlüsselbegriff „europäische Integration“? Diese erfolgte lange Zeit primär durch die Aufhebung von Differenz, das heißt von nationalen und lokalen Unterschieden. Diese „Harmonisierungspolitik“ verwechselt Einigkeit mit Einheitlichkeit oder geht davon aus, dass Einheitlichkeit die notwendige Voraussetzung ist, um Einigkeit zu erzielen. In diesem Sinne wurde Einheit zum obersten regulativen Prinzip des modernen Europas – in Übertragung der Prinzipien der klassischen Staatsrechtslehre auf die europäischen Institutionen. Je erfolgreicher die EU-Politik unter diesem Primat der Einheitlichkeit agierte, desto mehr wuchsen die Widerstände dagegen und desto deutlicher traten die kontraproduktiven Effekte hervor.
Kosmopolitische Integration dagegen beruht auf einem Paradigmenwechsel, der besagt: Vielfalt ist kein Problem, sondern die Lösung. Danach darf sich die weitere Integration Europas nicht an den überkommenen Einheitlichkeitsvorstellungen eines europäischen „Bundesstaats“ orientieren, sondern muss die unabänderliche Vielfalt Europas zum Ausgangspunkt nehmen. Nur auf diese Weise wird es möglich, in der Europäisierung zwei auf den ersten Blick sich ausschließende Anforderungen zu verbinden: die Anerkennung von Differenz einerseits und die Integration der Verschiedenen andererseits.
Europäisierung verstanden als historisch erprobtes Politikmodell eines postimperialen Empires des Konsenses und des Rechts – „Der europäische Traum“ (Jeremy Rifkin) von einer sanften Weltmacht – fasziniert als Alternative zum American Way nicht zuletzt amerikakritische Amerikaner. In diesem Sinne geht es letztlich um etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit, nämlich um die Zukunftsvision eines Staatengebildes, das nach innen und nach außen die Anerkennung des kulturell Anderen zu seiner Grundlage macht.
Was also ist meine kosmopolitische Vision von Europa? Wir Europäer sind kumme Hölzer (Kant) und ziemlich provinziell. Das hat auch Liebenswertes. Einzelne Bevölkerungen, etwa die Briten und die Franzosen, haben den Ruf, weltoffen zu sein, aber eben als Franzosen oder Briten, weniger als Europäer. Die Erweiterung kann entweder zu einer Einigelung oder zu einer Weltöffnung der EU führen und damit zu mehr Verantwortungsbewusstsein in der Welt.
Die nationale Idee ist untauglich, Europa zu einen. Ein großeuropäischer Superstaat macht den Menschen Angst. Ich glaube nicht, dass Europa auf den Trümmern der Nationalstaaten entstehen kann. Wenn es eine Idee gibt, die die Europäer heute einen könnte, dann ist es die des kosmopolitischen Europas, weil diese den Europäern die Angst des Identitätsverlusts nimmt, die konstitutionelle Toleranz im Umgang der vielen europäischen Nationen miteinander zum Ziel erhebt und zugleich neue politische Handlungsräume in einer globalisierten Welt eröffnet. Je sicherer und in ihrer nationalen Würde anerkannter sich die Europäer fühlen, umso weniger werden sie sich im Nationalstaat einigeln, und umso entschiedener werden sie offen für europäische Werte in der Welt eintreten und sich das Los der Anderen zu Eigen machen. In einem in diesem Sinne „kosmopolitischen“ Europa, in dem die Menschen Wurzeln und Flügel haben, würde ich gerne leben.
Für ein solches weltoffenes Deutschland zu streiten, ist gerade heute notwendig, wo wieder einmal – wie Heinrich Heine spottete – vielen die „Hühneraugen jücken“:
„Deine langen Fortschrittsbeine, Hebt sie auf zu neuem Lauf – Jener aber seufzt und seine Hände ringend er versetzt: Meine langen Fortschrittsbeine sind europamüde jetzt. Meine Hühneraugen jücken. Habe deutsche enge Schuh, und wo mich die Schuhe drücken, weiß ich wohl – laß mich in Ruh!“
Internationale Politik 7, Juli 2005, 6 - 12