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01. Nov. 2006

Kontinuität im Wechsel

Nach den Wahlen: Das alternde Land steht vor ähnlichen Problemen wie Deutschland

Mit dem reibungslosen Machtwechsel von Koizumi zu Abe ist Japan – nach seiner „verlorenen Dekade“ – ökonomisch gut aufgestellt. Doch der neue Ministerpräsident muss den Reformkurs seines Vorgängers vor allem innenpolitisch energisch fortsetzen; das alternde, postindustrielle Japan hat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie Deutschland.

Im September 2006 legte Junichiro Koizumi seine Ämter als Premierminister Japans und Vorsitzender der LDP nieder und übergab beide Positionen an den von ihm für die Nachfolge vorgesehenen Shinzo Abe, nachdem dieser sich in einer parteiinternen Wahl souverän durchgesetzt hatte.

Mit Koizumi ist der ungewöhnlichste LDP- und Regierungschef von der politischen Bühne abgetreten; in seiner Amtszeit – der drittlängsten  der japanischen Nachkriegsgeschichte – hat er sein Land nachhaltig verändert. Er hat den Stab an einen Nachfolger aus einer alten Politikerdynastie übergeben, dessen Vater Shintaro Abe Außenminister und dessen Großvater Nobusuke Kishi ebenfalls Premierminister war.

Junichiro Koizumi hätte keinen besseren Zeitpunkt für seinen Rücktritt wählen können. Er führte seine Partei in den Unterhauswahlen vom September 2005 zu einem überwältigenden Wahlsieg, der schwer zu wiederholen sein dürfte. Koizumi errang diesen Sieg zudem gegen das Establishment und die Maschinerie der eigenen Partei, das Fundament der jahrzehntelangen Dominanz der Liberaldemokraten. Dadurch hat er zwar seine Reformagenda befördert, aber möglicherweise auch die Zukunftschancen der LDP untergraben. Er hat seinem Nachfolger Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen überlassen, die unumgänglich sein werden, um die überbordende Staatsverschuldung abzubauen. Shinzo Abe muss sich zudem mit den Einzelheiten der von Koizumi angestoßenen Privatisierung der Post, einer Jahrhundertreform, auseinandersetzen. Durch seine wiederholten Besuche des Tokioter Yasukuni-Schreins, in dem auch verurteilter Kriegsverbrecher gedacht wird, wurde Koizumi zu einer solch ernsthaften Belastung für das japanisch-chinesische Verhältnis, dass Regierungsvertreter beider Seiten in der Einschätzung übereinstimmten, eine Verbesserung der Beziehungen werde erst unter seinem Nachfolger möglich sein.

Politische Reformen

Koizumi war in erster Linie ein politischer Reformer und erst in zweiter ein Reformer der Wirtschaft und Außenpolitik, für die er im Ausland bekannt wurde. Um seine Reformziele durchzusetzen, setzte er vor allem bei seiner eigenen Partei an. Er identifizierte die verkrusteten Strukturen und intransparenten Selbstbehauptungsmechanismen der strukturkonservativen Klientelpartei, die das Land seit den fünfziger Jahren dominierte, als Haupthindernis für den Wandel. Dank seiner persönlichen Popularität konnte er gegen mächtige Teile des Parteiestablishments die Führung übernehmen. Da es ihm auch als Ministerpräsident gelang, diese Popularität zu erhalten, beherrschte er die Partei wie kaum einer seiner Vorgänger und konnte seine politische Unabhängigkeit bewahren.

Die japanische Parteienlandschaft befindet sich seit 1993 in einem Umbruch, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Dieser ist geprägt durch eine große Volatilität im Wählerverhalten, die in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat; das hat den großen Wahlsieg der LDP, den sie vor allem der Popularität Koizumis, dem wirtschaftlichen Aufschwung und nicht zuletzt der Schwäche der Opposition verdankte, zu einer Momentaufnahme gemacht. Ob es Koizumi gelungen ist, aus einer Partei des Status quo eine Partei der Reform zu machen, bleibt abzuwarten.1

Wiederbelebung der Wirtschaft

Als Koizumi im April 2001 zum neuen LDP-Vorsitzenden gewählt wurde und damit auch das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, hatte Japan bereits das zehnte Jahr der längsten Krisen-periode der Nachkriegszeit hinter sich. Von 1992 an hinkte Japan als lahmender Wirtschaftsriese dem weltwirtschaftlichen Wachstum hinterher. Es nagte zudem am nationalen Selbstbewusstsein, dass alle Welt sich fasziniert dem rasanten Aufstieg des großen Nachbarn China zuwandte. Die Versuche der Politik, mit einer Abfolge immer größerer Konjunkturpakete die Krise zu beenden, entfachten nur konjunkturelle Strohfeuer, während sie das Land gleichzeitig an die Spitze der am höchsten verschuldeten Industrieländer führte. Erst mit den heftigen Turbulenzen auf den Finanzmärkten der Region während der so genannten Asien-Krise (1997/98) gewann die strukturpolitische Reformdebatte in Japan an Fahrt. In der Folge wurden per Gesetz die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt und weitere Reformen (Bankenreform, Bürokratieabbau) in die Wege geleitet, an die Koizumi anknüpfen konnte. Er selbst ging vor allem daran, die das politische Handeln bestimmenden Strukturen aufzubrechen, in erster Linie die unheilige Allianz zwischen führenden LDP-Kreisen, der Ministerialbürokratie und der Wirtschaft (die so genannte „Japan AG“).

Nach der „verlorenen Dekade“ hat Japans Wirtschaft inzwischen wieder Tritt gefasst. Mit dem dritten Wachstumsjahr in Folge hat die Wirtschaft 2005 kräftig zugelegt, und 2006 wird ein viertes folgen. Die zuversichtliche Stimmung wird gespeist von den stark gestiegenen Unternehmensgewinnen in der Industrie, der regen Investitionstätigkeit, dem wiedergewonnenen Vertrauen der ausländischen Anleger in die Zukunft des Wirtschafts- und Technologiestandorts Japan und nicht zuletzt von dem allmählichen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Bereits im Januar 2005 hatte die OECD in ihrem Japan-Bericht2 der japanischen Volkswirtschaft bescheinigt, sich „in der besten Verfassung seit einem Jahrzehnt“ zu befinden.

Rivalität mit China

Mit dem Zweieinhalbfachen des chinesischen Bruttoinlandsprodukts, einem um das 25-Fache höheren BIP pro Kopf und dank seiner überlegenen technologischen Leistungsfähigkeit ist Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt China als viertgrößter noch  weit voraus. Doch China holt auf breiter Front auf, auch wenn es noch einen weiten Weg vor sich hat, bis sich die Zukunftsprognose des bekannten japanischen Wirtschaftsautors Kenichi Ohmae erfüllen könnte: „In Zukunft wird Japan die Rolle für China spielen, die Kanada für die USA, Österreich für Deutschland, Irland für Großbritannien hat.“3 Die bereits eingetretenen Gewichtsverschiebungen, vor allem in der Region, sind unübersehbar.

China hat Japan längst als die Volkswirtschaft abgelöst, auf die ganz Ostasien inzwischen ausgerichtet ist. Dieses trifft in besonderer Weise auf Südkorea zu, für das China inzwischen vor den USA und Japan der größte Exportmarkt und das wichtigste Zielland seiner Auslandsdirektinvestitionen ist. China ist inzwischen auch das wichtigste Herkunftsland japanischer Importe. Und rund ein Viertel der gesamten japanischen Produktionskapazität im Ausland steht in China.

Mit seinen Reformen zielte Ministerpräsident Junichiro Koizumi auch darauf, Japan angesichts des Aufstiegs von China wieder wettbewerbsfähig und damit zukunftsfähig zu machen. Man fürchtet in Tokio, dass die Volksrepublik China schon bald beginnen könnte, ihre Wirtschaftsmacht auch in politische und militärische Macht umzumünzen.

China und Nordkorea

Das außenpolitische Erbe Koizumis ist schwierig. Zwar hat das Zerrbild eines militanten japanischen Neonationalismus, das die chinesische Propaganda pflegt, nichts mit der Realität zu tun. Dennoch hat Koizumi durch seinen doppelbödigen Umgang mit der japanischen Vergangenheit dazu beigetragen, den politischen Konflikt mit Peking – im Widerspruch zu den eigenen Interessen – zu schüren und Japan in der Region zu isolieren. Vor allem zwischen Tokio und Peking hatte sich das Verhältnis in der Ära Koizumi trotz boomender Wirt-schaftsbeziehungen erheblich abgekühlt. Zwar hatten sich die obersten politischen Vertreter beider Länder am Rande internationaler Gipfeltreffen verschiedentlich getroffen, doch hatte China seit fünf Jahren keinen japanischen Ministerpräsidenten mehr zu einem offiziellen bilateralen Gipfeltreffen empfangen.

Grund für die Gesprächsverweigerung waren vor allem Koizumis Besuche im Yasukuni-Schrein. „Hot economics, cold politics“, lautete die übereinstimmende Diagnose in Peking und Tokio. Aus gleichem Grund herrschte auch zwischen Tokio und Seoul politische Eiszeit.

Koizumi setzte einseitig auf die enge Partnerschaft mit den USA, die er unter den misstrauischen Augen Pekings weiter ausbaute. Für Tokio ist die Sicherheitspartnerschaft mit den USA sowohl eine Rückversicherung gegenüber den neuen Bedrohungen in Ostasien als auch das Vehikel für eine eigenständige politische Rolle in Asien als aktiver Verbündeter der USA. Ohne Rücksicht auf  regionale Sensibilitäten hat Koizumi die japanischen Selbstverteidigungskräfte an der „Operation Enduring Freedom“ in Afghanistan beteiligt und sogar Soldaten als Aufbauhelfer in den Irak geschickt. Früher hatte sich Tokio regelmäßig geziert, amerikanischen Forderungen nach einer größeren sicherheitspolitischen Rolle in der Region nachzukommen. Trotz dieses engeren Schulterschlusses steht die Sicherheitspartnerschaft mit den USA nicht mehr im Zentrum der politischen Debatte in Japan. Bei den Wahlen von 2005 und der innerparteilichen Wahlentscheidung um die Nachfolge Koizumis in diesem Jahr waren nur die Beziehungen zu China und die Bedrohung durch Nordkorea zentrale außenpolitische Themen.

Diese Themenverschiebung ist vor allem auf die Änderungen in Tokios geopolitischem Umfeld zurückzuführen: Sie hängt zusammen mit dem raschen Aufstieg Chinas und seinem wachsenden, vor allem gegen Japan gerichteten Nationalismus. Die größte konkrete Bedrohung Japans geht aber von Nordkorea aus. Der so genannte Taepodong-Schock, als Nordkorea im September 1998 eine mehrstufige Rakete über Japan testete, hat eine sicherheitspolitische Debatte ausgelöst, die sich durch einen weiteren Test im  Sommer 2006 und vor allem durch den Atomtest vom 9. Oktober weiter verschärft hat. So hat Japan bereits mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems begonnen.

Nordkoreas Entwicklung von und Drohung mit Massenvernichtungswaffen hat in Tokio die Frage aufgeworfen, ob Japan nicht eine eigenständige Erstschlagskapazität gegen einen zunehmend bedrohlicheren Nachbarn entwickeln sollte, der nicht einmal mehr von China im Zaum zu halten sei. Shinzo Abe, der einen Großteil seiner Popularität im Land seinem Engagement für nach Nordkorea entführte japanische Staatsbürger verdankt, hat im vergangenen Sommer genau diese Frage angeschnitten, als er laut über das Recht Japans sinnierte, präemptive Schläge gegen die Bedrohung aus Nordkorea zu führen. So ist es kaum verwunderlich, dass seine Regierung nach dem jüngsten Atomtest noch weitaus schärfere Sanktionen gegen Pjöngjang forderte als die Bush-Regierung. Auch die größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei Japans, die seit einigen Monaten von dem Politveteranen und LDP-Renegaten Ichiro Ozawa geführt wird, stimmt trotz der eigenen pazifistischen Wurzeln in diesen Chor mit ein.

Mit seiner Entscheidung, statt nach Washington (wie alle seine Vorgänger) zunächst nach Peking und Seoul zu reisen, hat Abe allerdings bereits einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Beziehungen Japans mit seinen ostasiatischen Nachbarn unternommen. Die unmittelbare Bedrohung durch Nordkorea und die latent vorhandene Rivalität mit China  werden die wichtigsten außenpolitischen Themen unter Abe bleiben, der bereits angekündigt hat, die schon von Koizumi angestrebte Verfassungsänderung voranzutreiben; damit soll die Rolle der bisher von der japanischen Verfassung nicht vorgesehenen Selbstverteidigungskräfte offizialisiert werden. Darüber hinaus sollen dadurch die bisher verbotene kollektive Selbstverteidigung und die Beteiligung an UN-Friedensmissionen ermöglicht werden, womit Japan erstmals wirklich bündnisfähig würde.

Kontinuität unter Abe

Abe ist mit 51 Jahren der jüngste Premierminister Japans. Er hat kein leichtes Erbe angetreten und braucht für die Fortsetzung der Reformpolitik auch weiterhin die breite Unterstützung in Partei und Öffentlichkeit, die ihn ins Amt getragen hat. Er ist ein Patriot, dessen konservativ-nationale Gesinnung sich außenpolitisch in einer konsequenten Nordkorea-Politik und einem selbstbewussten Auftreten gegenüber den anderen Nachbarn, insbesondere China und Südkorea, ausdrücken dürfte. Er sieht Japan in einer Wertegemeinschaft mit den USA und den anderen großen Demokratien. Die tragende Säule der japanischen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt das Bündnis mit Amerika, das Abe noch weiter vertiefen möchte.

Innenpolitisch ergeben sich die größten Herausforderungen für den neuen Premierminister  aus der gewaltigen Staatsverschuldung und der demographischen Entwicklung (die japanische Gesellschaft altert noch schneller als die deutsche), mit der ein enormer Kosten-Tsunami auf das Gesundheits- und Rentensystem zukommt. Zudem führt die fortschreitende Deregulierung des Arbeitsmarkts und die sich öffnende Schere zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung zu einer Gefährdung des für die japanische Gesellschaft so charakteristischen sozialen Zusammenhalts, dem Abe mit seinem Programm der „Zweiten Chance“ begegnen will. Der erste Test für seine Regierung steht im Frühjahr 2007 mit den Kommunal- und Gouverneurswahlen an; anschließend wird im Sommer 2007 das Oberhaus gewählt, wo die Hälfte der Amtsinhaber sich zur Wiederwahl stellt.

Deutsch-japanische Interessenidentität

Japan steht als postindustrielle Gesellschaft und aufgrund seiner Demographie vor ganz ähnlichen Problemen wie Deutschland und andere europäische Staaten. Auch die Herausforderungen durch die vor allem von den asiatischen Schwellenländern vorangetriebene Globalisierung ist durchaus vergleichbar. Das gilt ebenfalls für die außenpolitische Agenda, auf der nicht nur die Reform der Vereinten Nationen und die Fortsetzung der Zusammenarbeit im G-4-Rahmen stehen, sondern mit Blick auf Nordkorea und Iran vor allem auch Fragen der Nonproliferation, der Energiesicherheit, der Menschenrechtspolitik und Fragen der regionalen Kooperation im ARF- und ASEM-Rahmen, mit China, Russland und Zentralasien. Diebevorstehende deutsche Doppelpräsidentschaft in EU und G-8 wird eine gute Gelegenheit bieten, die deutsch-japanischen Beziehungen weiter auszubauen, denn eines sollte nicht aus den Augen verloren werden: Asien ist nicht nur China. Ökonomisch ist Asien immer noch vor allem auch Japan – eine Demokratie, die genauso alt ist wie unsere!

SHINZO ABE, geb. 1954, ist seit dem 26. September 2006 Japans Premierminister. Zuvor wurde er mit deutlicher Mehrheit zum Parteichef der LDP gewählt. Abe, der u.a. an der University of California Politik studierte und für Kobe Steel arbeitete, will in der Außenpolitik einen eigenständigeren Kurs verfolgen.

Dr. HEINRICH KREFT, M.A., B.A. (USA), geb. 1958, ist außenpolitischer Berater der CDU/CSUBundestagsfraktion. Zuvor war er stellvertretender Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt. Von 1991–1994 war er stellvertretender Leiter der Wirtschaftsabteilung an der deutschen Botschaft in Tokio. Er vertritt hier ausschließlich seine persönliche Meinung.

  • 1Zu Koizumis Reformpolitik siehe u.a. Jürgen Kahl: Japan zwischen Aufschwung und Verunsicherung: Wie weit trägt die Reformpolitik nach Koizumi, Internationale Politik und Gesellschaft 2/2006, S. 58–84; Heinrich Kreft: Japan und die USA: Sicherheitsallianz auf dem Weg zur strategischen Partnerschaft mit globaler Reichweite?, KAS-Auslandsinformationen 1/2003, S. 4–13; Malcom Cook: Koizumi’s Legacy: Japan’s New Politics, Lowy Institute, Sydney, August 2006.
  • 2OECD: Japan-Report, Paris 2005.
  • 3Kenichi Ohmae: China Impact, Tokio 2002.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2006, S.116‑121

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