Zwischen Talibanisierung und Demokratie
Präsident Musharraf soll Stabilität garantieren und Terror bekämpfen
Die Geister, die er rief, wird er nun nicht mehr los … frei nach Goethes Zauberlehrling könnte man das Problem der Taliban beschreiben, die nicht nur von Pakistan aus in Afghanistan operieren, sondern auch die Entwicklung im Land beeinflussen. Die Erwartungen an Präsident Musharraf sind groß, aber kann er sie auch erfüllen?
Pakistan spielt eine wichtige Rolle für die Stabilität Süd- und auch Zentralasiens. Weder eine Lösung des Kaschmir-Konflikts noch eine dauerhafte Befriedung Afghanistans ist ohne eine aktive Rolle Pakistans möglich. Auch eine effektive Bekämpfung des internationalen Terrorismus erfordert die enge Kooperation Islamabads. Zugleich ist Pakistan das einzige islamische Land, das über die Atombombe nebst Trägertechnologie verfügt und selbst mit großen innenpolitischen Herausforderungen zu kämpfen hat. Auf der einen Seite droht eine weitere Islamisierung von Politik und Gesellschaft und auf der anderen Seite sieht sich Präsident Musharraf zunehmendem Druck von Kräften ausgesetzt, die eine Rückkehr zur Demokratie einfordern.
Als General Pervez Musharraf am 12. Oktober 1999 mit einem Staatsstreich die Macht an sich riss, setzte er die lange Tradition direkter Militärherrschaft in Pakistan fort. In den 60 Jahren seit der Staatsgründung hatte das Land nur 23 Jahre lang eine zivile Regierung. Das pakistanische Militär, das in der Bevölkerung einen relativ guten Ruf hat, beherrscht nicht nur die Politik, sondern auch weite Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Die Militärs und Teile der zivilen Elite halten die Armee für die einzige Institution, die in der Lage ist, das Land zu führen.
Die Armee verdankt ihre Bedeutung der schwierigen Gründungssituation 1947 und dem anhaltenden Konflikt mit Indien um Kaschmir. Selbst die vernichtende Niederlage 1971 gegen Indien, die zur Loslösung Ostpakistans als Bangladesch führte, konnte die Militärherrschaft nur für sechs Jahre unterbrechen. 1977 stürzte General Ziaul Haq Premierminister Sulfikar Ali Bhutto. Zwei Jahre später wurde Pakistan aufgrund des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan zu einem Frontstaat des Kalten Krieges. Das Land erhielt umfangreiche Militärhilfe der USA und bildete mit Hilfe seines Militärgeheimdiensts ISI (Inter-Service Intelligence) afghanische Mudschaheddin für den Kampf gegen die sowjetischen Invasoren in Afghanistan aus. Seitdem verfügt Islamabad über erheblichen Einfluss in seinem westlichen Nachbarland.
Schwieriger Nachbar Indien
Seit der Unabhängigkeit Pakistans und Indiens steht der Konflikt um Jammu und Kaschmir im Zentrum der politischen Spannungen in Südasien und hat bereits zu mehreren Kriegen zwischen den beiden Rivalen geführt.1 Dieser Streit ist deshalb so heftig, da dieses mehrheitlich muslimisch besiedelte Gebiet von hoher Symbolkraft für beide Seiten ist: Für Pakistanis geht es um die Identität des Staates als Land der Muslime und für Inder symbolisiert das Gebiet die säkulare Verfasstheit der Indischen Union.
Der pakistanisch-indische Konflikt war aber auch immer machtpolitischer Natur. Die Elite Pakistans mochte sich nie mit den indischen Hegemonialansprüchen über Südasien abfinden. Daher war Pakistan von Anfang an bestrebt, sich an auswärtige Mächte – zunächst an die USA und später auch an China – anzulehnen. Das deutlich kleinere, wirtschaftlich und politisch schwächere und militärisch klar unterlegene Pakistan entwickelte nach der vernichtenden Niederlage gegen Indien 1971 ein eigenes Nuklearprogramm. Als Indien am 11. und 13. Mai 1998 insgesamt fünf nukleare Sprengsätze zündete und sich zum Kernwaffenstaat erklärte, folgte Pakistan auf dem Fuß. Seitdem hat der pakistanisch-indische Konflikt eine nukleare Dimension.
Das nukleare Gleichgewicht führte aber zu keiner wirklichen Abschreckung, da der Einsatz nichtstaatlicher Akteure weiterhin kriegerische Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten ermöglichte, wie sich in der Kargil-Krise von 1999 zeigte, als pakistanische Kämpfer in den indischen Teil Kaschmirs einsickerten und von der indischen Armee blutig zurückgeschlagen wurden. Nachdem im Dezember 2001 Terroristen mit Verbindungen nach Pakistan versuchten, das indische Parlament in Delhi zu stürmen, kam es im Sommer 2002 erneut zu einer pakistanisch-indischen Krise mit der Gefahr einer möglichen nuklearen Eskalation, die erst durch massive diplomatische Interventionen der USA und Großbritanniens entschärft werden konnte.
In jüngster Zeit allerdings hat sich das Verhältnis zwischen Pakistan und Indien deutlich entspannt. Präsident Musharraf nahm das Angebot des indischen Premierministers Vajpayee vom April 2003 an, die Beziehungen zu verbessern. Im Herbst 2003 verständigten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand und begannen im Februar 2004 einen umfassenden Dialog. Seither verhandeln beide Seiten über vertrauensbildende Maßnahmen im Bereich der konventionellen und nuklearen Rüstung, über Wirtschaftskooperation sowie eine Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus und des Drogenhandels. Von großer symbolischer Bedeutung ist die Wieder- bzw. Neueröffnung von Bahn- und Busverbindungen, vor allem die zwischen den beiden Teilen Kaschmirs. Beide Seiten haben sich weit von den alten Positionen wegbewegt. Im April 2005 erklärten Präsident Musharraf und der neue indische Premierminister Manmohan Singh den Friedensprozess für unumkehrbar. Dieser Prozess konnte bisher auch durch Anschläge in Kaschmir und auf den so genannten „Freundschaftszug“, der zwischen den beiden Staaten verkehrt, nicht gestoppt werden.
Afghanistan und Terrorbekämpfung
Nach dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan fürchtete Pakistan in Kabul eine nationalistische Regierung der Paschtunen, die ihre Ansprüche auf die Siedlungsgebiete der paschtunischen Brüder in Pakistan erneuern und zu diesem Zweck die traditionell guten Beziehungen zu Indien wieder aufnehmen könnte.2 Um der Gefahr einer solchen Einkreisung zu begegnen, verfolgte das pakistanische Militär das Ziel, in Kabul eine Pakistan-freundliche Regierung zu installieren – auch um für den Fall eines erneuten militärischen Konflikts mit Indien an strategischer Tiefe zu gewinnen. Zu diesem Zweck schuf und unterstützte Pakistan seit Anfang der neunziger Jahre die islamistischen Taliban mit dem Ziel, dem paschtunischen Nationalismus eine religiös-fundamentalistische Ideologie entgegenzusetzen. Als die Taliban 1996 in Kabul die Macht übernahmen, war Pakistan eines der wenigen Länder, das die neue afghanische Regierung anerkannte.
Nach den in Afghanistan geplanten Anschlägen vom 11. September 2001 sah sich Islamabad allerdings gezwungen, seine ehemaligen Schützlinge in Afghanistan aufzugeben und sich an der Seite der USA an der Bekämpfung des transnationalen Terrorismus zu beteiligen. Aus geostrategischer Sicht bleibt die Präsenz der USA und der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan für Islamabad von großer Bedeutung. Bei einem Abzug befürchten Pakistans Strategen einen neuen Schulterschluss zwischen Kabul und Delhi und die Einkreisung. Daher verfolgt man in Islamabad mit größtem Misstrauen, dass Indien in Afghanistan eine große Zahl von Konsulaten insbesondere in der Nähe der pakistanischen Grenze errichtet hat. Aufgrund derartiger Ängste erscheinen Vorwürfe an die Adresse Islamabads plausibel, dass man dort nicht bereit sei, die Taliban-Karte vollständig aus der Hand zu geben.
Die Beziehungen zwischen Islamabad und Kabul sind aktuell insbesondere auf afghanischer Seite von tiefem Misstrauen geprägt. Die Regierung Karzai wirft Pakistan vor, die Neugruppierung der Taliban nach ihrer Niederlage und Flucht auf pakistanischem Territorium zugelassen zu haben und ihre Infiltration nach Afghanistan nicht zu unterbinden. Die Rückzugs- und Nachschubgebiete der neuen in Afghanistan operierenden Taliban liegen vor allem in den selbstverwalteten Stammesgebieten (FATA) entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze. Auf internationalem Druck führten die pakistanischen Streitkräfte im Frühjahr 2004 unter hohen eigenen Opfern umfangreiche militärische Aktionen gegen die militanten Gruppen in den FATAs durch. Dort hatten sich die traditionellen Stammesstrukturen durch den jahrzehntelangen Einfluss religiöser Extremisten zunehmend radikalisiert. Islamistische Gruppen betrieben in den Stammesgebieten von Nord- und Südwaziristan und den angrenzenden Gebieten der nordwestlichen Grenzregion eine Politik der Talibanisierung, die von einigen inzwischen als Bedrohung für Pakistan selbst gesehen wird.
Gewaltbereiter Islamismus
Im Grenzgebiet zu Afghanistan hat ein expansiver, in hohem Maße gewaltbereiter Islamismus Fuß gefasst, der sich am Vorbild der afghanischen Taliban orientiert. Diese Talibanisierung hat über die zahlreichen religiösen Schulen (Madrassas) inzwischen auch auf die Großstädte Pakistans übergegriffen, wie die monatelange Auseinandersetzung um die Rote Moschee im Zentrum Islamabads im vergangenen Sommer gezeigt hat. Der blutigen Erstürmung der Moschee folgten viele Anschläge gegen die pakistanischen Sicherheitskräfte im ganzen Land. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen islamistischen und säkular-liberalen Kräften in den kommenden Jahren noch weiter zuspitzen werden.
Hier geht die Saat auf, die vom Generalspräsidenten Zia-ul Haq und mehreren seiner Nachfolger einschließlich Musharrafs gesät wurde, als sie auf eine Islamisierung des Landes setzten, um die Legitimität des eigenen Regimes zu erhöhen und um den Nationalismus der Paschtunen, der den Zusammenhalt des Landes gefährdete, mit Hilfe der Religion zu entschärfen. Musharraf hat sich wiederholt erst durch internationalen Druck zu einem rigideren Vorgehen gegen radikalislamistische Organisationen bereitgefunden – z.B. nach den blutigen Anschlägen in London vom 7. Juli 2005, als die Spuren der Attentäter nach Pakistan führten, und bei den jüngst in Deutschland vereitelten Anschlägen. Sein Dekret, die 50 000 bis 80 000 Madrassas in Pakistan den gleichen Kontrollen wie staatliche Bildungseinrichtungen zu unterwerfen, wurde auch nur halbherzig durchgesetzt.
Die Gefahr einer Talibanisierung ganz Pakistans, die oft beschworen wird, ist allerdings nicht sehr hoch, weil insbesondere in den beiden -wichtigsten Provinzen des Landes – Punjab und Sindh – die säkularen Gegenkräfte stark genug sind, um die Islamisierung nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Die gemäßigten, politisch aktiven Islamisten haben dem Dschihad als Mittel der Außenpolitik inzwischen abgeschworen und versuchen ihre Ziele innerhalb des bestehenden Gesetzesrahmens zu erreichen.
Allerdings ist es wichtig, die weitere Talibanisierung der paschtunischen Randgebiete zu stoppen und möglichst rückgängig zu machen, um die von dort ausgehende Destabilisierungsgefahr für Pakistan und Afghanistan zu beseitigen. Der Schlüssel zur Befriedung der grenznahen Stammesgebiete liegt in deren wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Integration. Dieses ist von der pakistanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, die inzwischen erhebliche Mittel dafür bereitgestellt hat, erkannt worden. Doch wie auf der anderen Seite der Grenze im Süden und Osten Afghanistans werden auch hier die entsprechenden Entwicklungsprojekte durch die schlechte Sicherheitslage beeinträchtigt. Re-Demokratisierung
Hatte Präsident Musharraf die politische Bühne Pakistans seit seinem Putsch 1999 klar dominiert, steht er im Herbst 2007 erstmals vor einer ernsthaften Herausforderung durch eine heterogene Opposition. Seine Entscheidung vom März 2007, den politisch unbequemen Richter des Obersten Gerichtshofs Iftikhar Muhammad Chaudhry von seinem Amt zu suspendieren, hat eine unerwartete Massenbewegung für die Unabhängigkeit der Justiz ausgelöst, die mit der dadurch erzwungenen Wiedereinsetzung Chaudrys zu einer schweren Niederlage Musharrafs geführt hat. Deren Folgen sind noch nicht abzusehen. Vieles deutet darauf hin, dass er in den kommenden Monaten die Macht mit der Opposition teilen muss.
Seine politischen Manöver der letzten Monate zielten darauf, so viel Macht wie möglich in seinen Händen zu behalten. Da seine Amtszeit am 15. November 2007 endet, hat er sich – trotz Protesten der Opposition – am 6. Oktober von beiden Kammern des nationalen Parlaments und den Regionalversammlungen von Punjab, Sindh, Nord-West-Grenzprovinz und Balutschistan für eine weitere Amtsperiode von fünf Jahren wählen lassen. In allen Versammlungen – außer der in der halbautonomen Nord-West-Grenzprovinz – verfügt die Musharraf-Partei „Pakistan Muslim League“ über komfortable Mehrheiten. Allerdings konnte die Opposition, die es für verfassungswidrig hält, dass sich Musharraf als aktiver Oberbefehlshaber der Streitkräfte zur Präsidentenwahl stellte, einen juristischen Teilsieg erringen. Der Oberste Gerichtshof Pakistans wies zwar die Forderung der Opposi-tion nach einer Verschiebung der Präsidentenwahl zurück, will aber nach der Abstimmung Beschwerden gegen die Kandidatur prüfen. So könnte Musharraf nach seinem Wahlsieg noch disqualifiziert werden. Da im Januar 2008 Parlamentswahlen stattfinden sollen, wäre eine Wahl des Präsidenten durch das neue Parlament ohnehin glaubwürdiger – aber ein Risiko, das Musharraf nicht eingehen wollte.
Daher versuchte er der Opposition mit dem Angebot entgegenzukommen, im Falle seiner Wiederwahl den Posten des Oberbefehlshabers der Streitkräfte vor der für den 15. November vorgesehenen Vereidigung zum Präsidenten abzugeben. Mit der Ernennung des ehemaligen Chefs des Militär-Geheimdiensts ISI, Ashfaq Parvez Kayani, zum stellvertretenden Oberbefehlshaber hat er bereits einen Vertrauten als potenziellen Nachfolger positioniert. Zudem einigte er sich am Tag vor der Präsidentenwahl mit der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto über ihre zukünftige Beteiligung an der Macht. Damit bindet er die ehemalige Regierungschefin, die am 18. Oktober nach Pakistan zurückgekehrt ist, in seine Machtpläne ein.
Eine solche Lösung käme wohl auch den Interessen der USA entgegen. Washington sieht in Musharraf den Garanten für die Stabilität in Pakistan und einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den islamistischen transnationalen Terrorismus. Benazir Bhutto, die sich in den vergangenen Monaten häufig in den USA aufgehalten hat, wird von Washington aufgrund ihrer erklärten Ablehnung eines militanten Islamismus als natürlicher demokratischer Partner Musharrafs betrachtet. Mit einer größeren demokratischen Legitimation und der Armee im Rücken hoffen nicht nur die USA, dass Musharraf die Stabilität Pakistans mit seiner wichtigen geostrategischen Lage in Süd- und Zentralasien erfolgreich gegen Angriffe der Islamisten verteidigt, dass er dafür sorgt, dass die pakistanischen Atomwaffen nebst Raketen nicht in die Hände von Terroristen gelangen, und dass Islamabad auch seiner Schlüsselrolle für die dauerhafte Befriedung Afghanistans gerecht wird.
Dr. HEINRICH KREFT, M.A., B.A. (USA), geb. 1958, ist außenpolitischer Berater der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Zuvor war er stellvertretender Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt. Er gibt hier seine persönliche Auffassung wieder.
- 1Heinrich Kreft: Die USA zwischen Indien und Pakistan: Der Versuch der gleichzeitigen Einbindung der verfeindeten Brüder, in: Werner Draguhn (Hrsg.): Indien 2003. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Hamburg 2003, S. 239–257,S. 244 f. Als neueste Literatur siehe die Aufsätze von Andreas Rieck, Christian Wagner und Joachim Betz in Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 39/2007, den CRS Report for Congress „Pakistan-U.S.Relations“ vom 24.8.2007, Husain Haqqani: Pakistan and the Islamists, Current History, April 2007, S. 147–152; Seth G. Jones: Pakistan’s Dangerous Game, Survival, Frühjahr 2007, S. 15–31, Frédéric Grare: Rethinking Western Strategies Toward Pakistan, Carnegie Endowment for International Peace, Washington 2007.
- 2Seit seiner Unabhängigkeit war Pakistan mit Gebietsansprüchen Afghanistans auf Teile der Nord-West-Grenzprovinz konfrontiert, deren Anschluss an Pakistan durch ein Referendum vom Juli 1947 von Kabul nie akzeptiert wurde. Darüber hinaus erkannte das mehrheitlich von Paschtunen besiedelte Afghanistan die von den Briten gezogene Durand-Linie nicht als Grenze zu Pakistan an, da sie das Siedlungsgebiet der Paschtunen durchtrennte.
Internationale Politik 11, November 2007, S. 82 - 87.