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01. Mai 2003

Königsmörder

Die SPD und ihre Kanzler

Wird es Gerhard Schröder ähnlich ergehen wie Willy Brandt und Helmut Schmidt? Warum zeigt die SPD eine fatale Neigung zum Sturz ihrer Kanzler? Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte analysiert und vergleicht die politischen Schicksale der drei sozialdemokratischen Regierungschefs, deren Ägide jeweils stark von ihrer Außenpolitik geprägt war.

Neigt die deutsche Sozialdemokratie zum Sturz ihrer Kanzler? Historisch betrachtet, neigt sie wohl eher zum Sturz ihrer Parteivorsitzenden. Nachdem Willy Brandt 23 Jahre die Partei führte, wechselten die Chefs abrupt. Hans-Jochen Vogel zerrieb sich am Machtkampf mit Oskar Lafontaine. Björn Engholm musste nach einer Falschaussage zurücktreten. Rudolf Scharping verlor in der Auseinandersetzung mit Gerhard Schröder den vermeintlichen Allianzpartner Lafontaine. Dieser putschte sich in den Parteivorsitz, bis ihn wiederum Schröders Netzwerker aus dem Ministeramt und dem Vorsitz der Partei in die – kurzzeitige – Resignation und zur Aufgabe trieben. Doch auch solche schnellen Abfolgen von Amtsinhabern sind nicht ungewöhnlich, wenn ein Monument wie Brandt nach sehr vielen Amtsjahren abtritt. Ein zu erwartendes Führungsvakuum macht sich dann breit. Auch die CDU hat nach dem 16-jährigen Regiment Helmut Kohls in rascher Abfolge bereits zwei Vorsitzende gewählt.

Sieht man genauer hin, dann waren die Gründe für das Scheitern von Willy Brandt und Helmut Schmidt sehr unterschiedlich, obwohl die Außenpolitik und die Partei beides Mal eine signifikante Rolle spielten. Diemachtpolitische Stärke Brandts hing mit seinem außenpolitischen Ideen-Management zusammen. Die Deutschland- und Ostpolitik waren der Treibstoff seines Charismas. In der Rolle des Entspannungspolitikers entwickelte er authentisch seine Mission. Als die Verträge geschlossen und die ersten Erfolge aufgebraucht waren, steckte er in der Erfolgsfalle. Zu einem vergleichbaren Neustart sah er sich kurze Zeit nach der Wahl von 1972 nicht in der Lage. Nicht die Partei trieb ihn aus dem Regierungsamt, sondern maßgeblich der Verschleiß des Themenhaushalts neben den Mühen der Alltagspolitik.

Kanzler Schmidt wurde hingegen durchaus von der Partei aus dem Kanzleramt getrieben. Das fiel der SPD auch einfacher, weil Schmidt kein Parteivorsitzender war. Erhobenen Hauptes, programmatisch mit sich selbst im Reinen und den entsprechenden Parteitagsbeschlüssen in der Tasche, verabschiedete sich die SPD 1982 distanziert vom Regierungshandeln und richtete sich in der Opposition ein. Schmidt hatte sich programmatisch und milieuspezifisch Ende der siebziger Jahre von seiner Partei entfernt. In der Finanz- und Wirtschaftspolitik gab er Führungsziele vor, der die Sozialdemokraten nicht folgen wollten. Der NATO-Doppelbeschluss, eine diplomatische Meisterleistung von Schmidt, fand nicht die Zustimmung einer Parteimehrheit, die sich reideologisiert hatte und strikt auf eine moralisch und wertorientiert ausgerichtete Außenpolitik setzte.

Ideologiefrei, pragmatisch, technokratisch wollte hingegen Schmidt weiter regieren. Doch seine Partei schwärmte in den frühen achtziger Jahren für einen radikalen Pazifismus und warb utopiegetrieben um die neuen sozialen Bewegungen. Die Trutzburg des Kanzleramts, als zentrale Machtressource Schmidts, half ihm am Ende wenig. Die Vorteile, die Schmidt aus der wahrgenommenen Parteidistanz auch wählerwirksam zog, hatten sich aufgebraucht. Die SPD wollte lieber in die Opposition als zum Kanzlerwahlverein degradiert werden.

Auch Kanzler Schröder ist Machtjongleur. Er muss die Quellen seiner Macht täglich am Sprudeln halten. Schröder griff nach der Partei als Machtressource, als sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Als Parteiführer neuen Typs führt er seine Partei weitgehend von außen mit telegenem Schwung und aus dem Kanzleramt heraus. Auch er musste jedoch erfahren, dass eine noch so effizient ausgerichtete Regierungszentrale den Führungsanspruch nicht sichern kann, den sich die Kanzler durch die parteipolitische Rückbindung permanent erarbeiten müssen. Spielerisch hat Schröder neben der Parteiendemokratie auch die Mediendemokratie als Machtquelle genutzt. Zusammen mit den Instrumenten einer durch Kommissionen und Räte geprägten Verhandlungsdemokratie verzahnt er die unterschiedlichen Machtquellen, die weitaus vielfältiger als bei Brandt und Schmidt angelegt sind, jedoch fließender und anfälliger bleiben.

Versiegen die Quellen, naht das Ende der Kanzlerschaft. Das parteipolitische Mandat des Kanzlers zählt zu den wichtigsten Machtressourcen. Kanzlermacht ist immer Parteimacht, das zeigt sich besonders deutlich an Sonderparteitagen. Die SPD-Parteipolitik soll über Parteitagsbeschlüsse zur Regierungspolitik werden.

Droht nach der Parteirebellion und dem aufgezwungenen Parteitag deshalb Schröder ein ähnliches Schicksal wie dem damaligen Kanzler Schmidt? Macht nutzt sich ab, verbraucht sich, sie kann altern, verfallen, gar verschwinden. Die Gründe für den Countdown des Machtverlusts sind vielfältig. Häufig markiert der Verschleiß den Anfang vom Ende einer Regierungszeit. Zeit- und personalaufwändige Frühwarnsysteme funktionieren dann nicht mehr wie gewohnt. Der Parteivorsitzende verliert die Fähigkeit zur Integration der verschiedenen Lager, weil sein Bild von der Stimmungslage der Partei nicht mit der Realität übereinstimmt. Das kann man als arrogante Abgehobenheit interpretieren. Aber ebenso kann es eine bewusste Führungsleistung sein, anders als die Partei es wünscht, zu entscheiden.

Gerhard Schröder ist heute in einer viel komfortableren Position als sein sozialdemokratischer Vorgänger Helmut Schmidt, obwohl auch Schröder Pragmatismus statt Programmtreue favorisiert. Kanzlermacht ohne Parteivorsitz, wie bei Schmidt, ist von Beginn an brüchiger gewesen. Schmidt war in eine kollektive Führung eingewoben: mit Herbert Wehner als dem Zuchtmeister der Fraktion, mit Brandt als dem charismatischen Parteivorsitzenden mit dem ausgeprägten Gespür für neue Strömungen. Schröder ist in keine kollektive Führung eingebunden – er entscheidet. Er hat, seinem Selbstbewusstsein entsprechend, die Wahl gewonnen, nicht die Partei. Er entmachtete durch die Schaffung des Generalsekretärs die Stellvertreter in der ersten Legislaturperiode und belohnte den ersten Generalsekretär mit dem Vorsitz der Bundestagsfraktion in der zweiten Legislaturperiode.

Schröders „Agenda 2010“ schmerzt heute in ähnlicher Weise sozialdemokratische Herzen, wie die Kernenergie- und Raketenpolitik von Schmidt. Damals wie heute richten die Kanzler ihren Blick auf die potenziellen Wähler, weniger auf Parteitagsbeschlüsse. Mehrheiten sind aus Schröders Sicht immer noch in der so genannten „neuen Mitte“ zu finden, weniger im Traditionsmilieu der sozialen Gerechtigkeit. Historische Analogien zeigen sich eher in der Wahl der Machtinstrumente. Leidenschaftliche Meinungsbildung in einer Volkspartei soll erneut mit der Vertrauensfrage, „Basta“-Ausrufen und Drohbriefen eingeschränkt werden. Das Frühwarnsystem im Machtdreieck Kanzleramt, Fraktions- und Parteiführung hat versagt, wenn sich der Aufstand mit dem legitimen Mittel einer Mitgliederbefragung bereits organisiert. Damals drohte Schmidt zudem auch der Koalitionsbruch mit der FDP. Heute unterstützt der grüne Koalitionspartner den zaghaften Reformkurs. Mit der innenpolitischen „Agenda 2010“ fordert Schröder schließlich innerparteilich seinen Preis ein, den er mit seinem friedensbewegten Irak-Kurs in die Höhe getrieben hat. Dieser Pazifismus festigte die Koalition und mobilisierte den Gemeinschaftsgeist. Jetzt fordert der Kanzler dafür Reform-Gefolgschaft ein. Ein solches integrierendes Thema als Vehikel der Konfliktschlichtung fehlte damals dem Kanzler Schmidt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich eine messbare Neigung zum Kanzlersturz innerhalb der SPD historisch nicht ermitteln lässt. Die Ursachen des jeweiligen Machtabstiegs waren sehr unterschiedlich. Doch die Anfälligkeit sozialdemokratischer Kanzler, über ihre eigene Partei zu stürzen, ist größer als bei konservativen Kanzlern, wenngleich bei nur sieben Kanzlern die empirische Datenbasis relativ schmal ist.

Als traditionelle Programmpartei, die wie ein Verein durch gemeinsame Interessen zweckgerichtet zusammengehalten wird, engt die SPD den Handlungsspielraum ihrer Kanzler mehr ein als die Unionsparteien. Sie ähneln eher einer pragmatisch geprägten, durchaus heterogenen Familie, bei der die inhaltliche Übereinstimmung eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Das eröffnet breite Spielräume für Pragmatiker des Augenbl

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2003, S. 65 - 68

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