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01. Febr. 2007

Koalition der Willigen

Werkstatt Deutschland

Warum die Bundesregierung ihr Potenzial nicht ausschöpft

Die Alltäglichkeit der Großen Koalition hat uns längst eingeholt. Doch das Politikmanagement dieser ungewöhnlichen Allianz ist unvergleichbar. Erkennbar bleibt, dass derzeit im Berliner Politikbetrieb die Gestaltungsspielräume nur unzureichend genutzt werden. Dissens-Management bestimmt notgedrungen die Tagesagenda der Bundeskanzlerin. Viele neue informelle Abstimmungsmechanismen kennzeichnen das Politikmanagement der Bundesregierung. Spezielle Formate wie die sonntägliche Elefantenrunde wurden zugunsten effizienterer kleinerer Kreise wieder abgeschafft. In dem Maße, wie sich Vertrauen zwischen den Wettbewerbern herausbildete, personalisierten und informalisierten sich die notwendigen Koordinationsmechanismen.

Die Gestaltungsmacht der CDU-Vorsitzenden ist in einer Großen Koalition auf gleicher Augenhöhe begrenzter als in einer kleinen. Sicher kann Merkel die ihr als Kanzlerin qua Verfassung zustehende Richtlinienkompetenz weniger kraftvoll ausfüllen. So wandelt sich das Kanzleramt von der Regierungszentrale zur geschäftsmäßigen Koordinationseinheit – eher geräuschloses Sekretariat als kraftvolles Zentrum. Das Kabinett ist zeitgleich ein Ort kollektiver Willensbildung geworden, keineswegs mehr Notariat der Bundesregierung. Das Ressortprinzip ist in einer Großen Koalition stärker ausgeprägt als in einer kleinen. Führungspotenziale ergeben sich für die Kanzlerin in dem Maße, wie sie sich mit den SPD-Bundesministern einig weiß bzw. Win-win-Situationen für ein Ressort der SPD und eines der Union herstellt. Was die Kanzlerin notgedrungen an Kanzlermacht abgegeben hat, könnte sie über die doppelte Mehrheit, die im Bundestag und die im Bundesrat, kompensieren. Diese ist mittlerweile, historisch einmalig, zur verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit angewachsen. Hier stecken noch sehr viele ungenutzte Potenziale. Nur über das Parteipräsidium der CDU kann Angela Merkel ihre Ministerpräsidenten zu disziplinieren versuchen. Der Dresdner Parteitag hat ihr hierfür ein breites Mandat gegeben. Den Abstand zwischen den Merkelianern und den potenziellen Widersachern haben die Delegierten mit übergroßer Mehrheit absichtsvoll vergrößert.

Völlig ungenutzte Spielräume, um Mehrheiten für unpopuläre Maßnahmen zu organisieren, schlummern derzeit im Deutschen Bundestag. Das Politikmanagement der Bundesregierung unterscheidet sich deutlich von dem aller Vorgänger. Und so agiert der Bundestag mit traditionellen Ritualen, ganz so, als ob die Große Koalition der Normalfall des Parlaments wäre. Doch Große Koalitionen sind Reservemaßnahmen des Parlamentarismus in schwierigen Zeiten. Sie lähmen den Parteienwettbewerb. Sie sind eine Zeitoase. Sie entziehen sich dem Wunsch der Wähler, abgewählt zu werden. Eine Große Koalition ist rechnerisch eine Koalition des Zufalls, keine Formation, die für ihre Neuauflage im Wahlkampf wirbt. Große Koalitionen können nur abtreten, sich verabredungsgemäß auflösen, zerfallen. Nur Große Koalitionen haben die Chance, sich über mehrere Jahre folgenlos öffentlich unbeliebt zu machen. Denn übergroße Mehrheiten sichern die Gesetzgebung. Landtagswahlen spielen sich im Schatten der Großen Koalition ab, wobei sich Frust und Euphorie im Parteienwettbewerb beim Wähler neutralisieren. So wirken Große Koalitionen wie Versuche der Parteien, sich dem Wähler zu entziehen.

Doch bislang reagieren die Mehrheitsfraktionen im Bundestag keineswegs angemessen auf diese neue Konstellation. Sie könnten den inhaltlichen Frontenverlauf von Positionen, der quer durch die eigenen Reihen verläuft, als Chance der Wettbewerbsdemokratie nutzen. Denn die parlamentarische Opposition ist systemisch paralysiert. Die Mehrheitsfraktionen könnten einen Funktionswandel im Parlament herbeiführen, indem sie die Regierung ideenreich vor sich her treiben. Nie waren Abgeordnete so mächtig und so unabhängig wie in Zeiten von Großen Koalitionen, da abweichende Stimmen praktisch nie zum Verlust der Mehrheit führen. Doch im Bundestag herrscht nach wie vor der Geschlossenheitswahn. Flexible Mehrheiten könnten hingegen der Bundeskanzlerin in Abstimmung mit den Fraktionsvorsitzenden einen ganz neuen Spielraum verschaffen, um Modernisierungspolitik mit notwendigen Zumutungen für die Bevölkerung durchzusetzen. Mehr Gewaltenteilung als Gewaltenverschränkung wäre die zeitgemäße Antwort des Bundestags bei wichtigen parlamentarischen Mitsteuerungsprozessen in Zeiten von Großen Koalitionen. Doch davon ist derzeit nichts zu erkennen.

Zum Politikmanagement der Großen Koalition gehört ebenso zentral die politische Kommunikation in der mediendemokratischen Arena. Bescheiden im Stil protestantischer Armutsästhetik präsentiert sich die Kanzlerin, was zum Zeitgeist der neuen Sachlichkeit passt. Aufmerksamkeitsmanagement ist in Großen Koalitionen viel schwerer als in kleinen. Wenn Große Koalitionen erfolgreich sind, müssen sie heldenlos und bildarm agieren. Sie sind strukturell TV-untauglich. Um so mehr kommt es auf das einzelne Bild an: Evidenz auf einen Blick mit der Aura des Repräsentativen. Außer den anfänglichen Honeymoon-Bildern von Merkel und Müntefering gibt es bislang kein Foto, in dem sich das Programm der Bundesregierung positiv und authentisch ausdrückt. Noch ist Zeit genug, um die spezifischen Gestaltungsspielräume einer Großen Koalition zu nutzen.

Prof. Dr. KARL-RUDOLF KORTE,  geb. 1958, lehrt Politikwissenschaft  an der Universität Duisburg-Essen und leitet die Forschungsgruppe Regieren. Jüngste Veröffentlichung: „Regieren  in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen seit 1990“ (mit M. Florack und T. Grunden), Wiesbaden 2006.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2007, S. 90 - 91.

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