Klima-Weltmacht Europa
Brüssel diktiert Staaten und Industriesektoren energiepolitische Regeln
Die EU ist abhängig von Öl- und Gasimporten – und macht aus der Not eine Tugend: Sie dominiert die Entwicklung neuer Energietechnologien und strebt bei Emissionshandel und Schadstoffreduktion eine Vormachtstellung an. Es gilt die Maxime: Wer mitmacht, wird belohnt. Und sollte Kyoto II scheitern, geht die Union auch ohne die USA voran.
Eine Weltmacht charakterisiert sich durch Dreierlei. Erstens: Sie expandiert, auf welchem Terrain auch immer. Zweitens: Die supranationale Ebene konsolidiert ihre Macht gegenüber den Föderalstaaten, denen sie entwachsen ist. Und drittens: Sie ist kein Regelnehmer, sondern setzt Regeln im internationalen Wettbewerb. Europas aktueller Klimapolitik sind alle drei Charakteristika eigen. Sie befindet sich im „Aufgalopp“ zur zweiten Runde – den vergleichbaren Ansatz im Vorfeld von 1992, dem Erdgipfel in Rio, hatten die Europäer grandios „versiebt“. Der neue Versuch ist, anders als damals, spieltheoretisch bestens kalkuliert. Das ist das politisch Zentrale, was die Hegemonialkonkurrenten USA und China seit etwa zwei Jahren wahrnehmen. Europa seinerseits meint die Konkurrenz um Hegemonie ernst.
Die europäische Führung glaubt, dass es, wie zu Beginn des jetzigen Industriezeitalters vor 200 Jahren, der industriepolitische Erfolg sein wird, der über die Konstellation der Mächte entscheidet. Deswegen wählt sie die Klima- und Energie(sicherheits)politik als zentrales Austragungsfeld, wie das weitreichende Maßnahmenpaket der Europäischen Kommission vom 23. Januar 2008 zeigt. In diesem Paket gestaltet die EU (a) ihren Emissionshandel nach Ablauf der Kyoto-Periode 2012; (b) ihre Politik zur Durchsetzung eines stetig steigenden Anteils erneuerbarer Energien an ihrem Verbrauch; und (c) die Aufteilung des „Restbetrags“ auf die 27 EU-Mitgliedsstaaten, der aus der Verpflichtung hervorgeht, Treibhausgasemissionen zu mindern, und jenseits desjenigen Teiles der Wirtschaft liegt, der dem Emissionshandel unterstellt wurde.
Aus der Perspektive der Außenwirtschaftpolitik ist zu erkennen, dass die EU eine Politik zur Wahrung präzise kalkulierter Interessen verfolgt. Für die gibt es drei Grunddaten. Erstens: Europas Anlagenbau ist nicht nur auf dem Weltmarkt von Energietechnologien führend, sondern auch von energieintensiven Anlagen zur Herstellung von Grundstoffen wie Stahl, Zement, NE-Metallen, Papier und Zellstoff sowie Basischemikalien. Europas Wirtschaft steht zweitens hinsichtlich des Exportanteils solcher Produkte an der inländischen Wertschöpfung an der Spitze. Und drittens gilt: Nach 200 Jahren Vorreiterrolle auf dem Weg hinein ins Industriezeitalter ist Europa fast völlig entleert von Vorkommen fossiler Energieträger auf eigenem Territorium. Die EU wird, anders als die USA und China, im Jahr 2030 bei Öl und Gas zu fast 100 Prozent importabhängig sein und weitgehend bei Kohle. Die Vorreiterrolle auf dem Weg hinaus aus dem Industriezeitalter ergibt sich aus dieser Interessenkonstellation. Dazu passen der Verbund der Klimapolitik mit der Energie(sicherheits)politik und die Politik zur Förderung des Wettbewerbs nach innen und der Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraums nach außen (Lissabon-Strategie).
Anders als 1992 hat die EU den selbst gesetzten Zwang zum Konsens mit den USA diesmal beiseite geräumt. Doch diese abgeworfene Nibelungentreue führt nicht dazu, dass die EU sich anschickt, als selbstbezogene Weltmacht zu agieren. Ihr Ziel ist es lediglich, erneut industriepolitisch Vorreiter zu sein – und zwar im Wortsinne. Sie will nicht nur vorneweg sein, sondern auch erreichen, dass die anderen ebenfalls reiten, und zwar in dieselbe Richtung. Die Formel für die Wahl ihrer Maßnahmen lautet „gegenseitig unterstützend“. Das Prinzip ist, außenstehenden Wirtschaftsräumen Vorteile in Aussicht zu stellen, wenn sie mitmachen, in der Regel in Form von Investitionen auf ihrem Staatsgebiet. Das kann die Staaten veranlassen, die von der EU angestrebte multilaterale Architektur zu unterstützen.
Handelspolitische Regeln
Die EU hat sich bei ihrem diesmaligen Neuanlauf für eine konfliktbereite Gestaltung der außenwirtschaftspolitischen Flanke ihrer Klimapolitik entschieden. Sie gibt gleichsam eine WTO-rechtliche Grundsatzentscheidung auf, nämlich die Fairness des Warenaustauschs allein an den Eigenschaften der gehandelten Produkte zu bemessen, die Art und Weise dagegen, wie diese im Herstellungsland produziert wurden, rechtlich nicht als gültiges Argument für eine etwaige Beschränkung des Handels zuzulassen.
Bei „freiem Wettbewerb“ auslagerungsträchtige emissionsintensive Industrieanlagen sollen als Schutz Rechte kostenlos erhalten – das aber nicht auf ewig, sondern nur solange, bis faire Wettbewerbsbedingungen eingeführt sind. Konkret: bis „globale Sektorabkommen … für energieintensive Industrien“ geschlossen sind. Damit gibt die EU zu erkennen, was sie strukturell für das Abkommen der Kyoto II-Periode anders möchte als für das Abkommen zuvor. Da gab es Minderungsverpflichtungen nur für einen Typ von Subjekt, nämlich Staaten. Ab 2013 will die EU auch ganze Industrien als globale Subjekte für Verpflichtungen konstituiert sehen, in Form so genannter Sektorabkommen.
Die EU expandiert von einer mitgliedsstaatlich gezählten EU-27 zu einer klimapolitischen EU-29. Die beiden Neuankömmlinge im Einflussbereich der Brüsseler „Sonne“ sind keine Territorialstaaten, sondern Wirtschaftsbereiche: der internationale Luftverkehr sowie die energieintensive Industrie, einschließlich der Kraftwerkswirtschaft. Aber auch, das ist neu, einschließlich emissionsintensiver Industrien, die nicht verbrennungsbedingt Kohlendioxid ausstoßen, sondern andere Treibhausgase, wie die Schmelzflusselektrolyse der Aluminiumindustrie und Anlagen zur Herstellung von Adipinsäure in der Chemischen Industrie.
Beide Wirtschaftsbereiche zusammen stehen für gut 40 Prozent der Emissionen von Treibhausgasen in der EU – im industrielastigen Deutschland sind es 50 Prozent. Nur diese beiden Bereiche werden dem Emissionshandel unterworfen, und dafür geht die Kompetenz auf EU-Ebene. Brüssel wird in Zukunft die Emissionsrechte vergeben, nach dem Grundsatz: nur gegen Geld. Es wird auch, in Übereinstimmung mit seiner außenhandelspolitischen Kompetenz, darüber befinden, welcher Wirtschaftszweig zum Schutz nach außen bei den Rechten eine Sonderbehandlung erfährt. Die Erlöse in Höhe von jährlich etwa 50 bis 70 Milliarden Euro fließen allerdings nicht direkt in die Brüsseler Kasse, sondern stehen den Mitgliedsstaaten zu.
Der Restsektor umfasst die Kleinemittenten – das sind Kraftfahrzeuge, Gebäude, Dienstleister, kleineres Gewerbe, Landwirtschaft und Abfallanlagen. Sein Umfang ist größer, er beträgt 60 Prozent, aber er ist außenwirtschaftlich unproblematisch. Deren Emissionen im Zaume zu halten, ist Sache der Mitgliedsstaaten.
Die EU als Keimzelle
Die Maxime „gegenseitiger Unterstützung“ kommt am klarsten darin zum Ausdruck, wie die Aufnahme des „internationalen Flugverkehrs“ in den Emissionshandel der EU gestaltet wird. Da kann es nicht um einen rein EU-internen Vorgang gehen. Die EU will die ein- und ausgehenden Flüge zunächst einmal sämtlich der Zertifikateabgabepflicht unterstellen – das kostet die Fluggäste der Herkunftsländer Geld. Zugleich aber bietet sie an, diese Pflicht auf die von ihrem, der EU, Boden ausgehenden Flüge zu beschränken, sofern der Zielstaat „Maßnahmen ergriffen hat, die dem Vorgehen der EU entsprechen“. In aller Regel wird das bedeuten, dass der Drittstaat dem EU-Emissionshandelssystem für den Luftverkehr beitritt – denn so ist die „Äquivalenz“ definitorisch sichergestellt. Das EU-System vermag sich so aus einer Keimzelle alsbald zu einem den Globus umspannenden System zu mausern.
Die EU-Kommission hat zugleich Quantitatives dekretiert: Der Industriesektor hat mit seinen Emissionen einen steilen Abstiegspfad einzuschlagen, mit einem solchen Gefälle, dass der Sektor bis 2020 (relativ zu 2005) bei minus 21 Prozent (inkl. Flugverkehr: um 18 Prozent) landet. Für die Kleinemittenten ist das EU-durchschnittliche Minderungsziel auf moderate minus zehn Prozent gesetzt worden. Basis beider Entscheidungen ist der „Doppelbeschluss“ des Europäischen Rates vom März 2007.
Sie stellen nur die Mindestanforderung dar. Diese gilt für den Fall, dass die multilateralen Verhandlungen scheitern und es nicht zu einem Kyoto II-Abkommen kommt. Für diesen Fall will die EU mit einer Minderung um 20 Prozent (relativ zu 1990) unilateral und unkonditioniert vorangehen. Realistisch ist die anspruchsvollere Forderung des „Doppelbeschlusses“, Emissionen um minus 30 Prozent, oder gar, gemäß dem Beschluss von Bali im Dezember 2007, um 40 Prozent zu mindern. Dieses realistische Ziel steht aber unter dem Vorbehalt, dass andere Partner mitmachen, und zwar in einem Ausmaß, welches die EU zufriedenstellt. Wozu diese Partner sich verpflichten werden, wird sich erst mit dem Ende der Klimakonferenz in Kopenhagen am 11. Dezember 2009 erweisen; und ob das die EU zufriedenstellt, wird die EU erst auf ihrem Frühjahrsgipfel 2010 unter spanischer Präsidentschaft entscheiden. All das braucht Zeit, die eigentlich nicht zur Verfügung steht. Brüssel hat am 23. Januar auch entschieden, wie die „gemeinsame Anstrengung“, die Emissionen der Kleinemittenten auf einen Abstiegspfad zu bringen, auf die 27 EU-Staaten verteilt werden soll – wieder für den „Non Kyoto II“-Fall. Auch da sind die Vorgaben parametrisiert, nun in nicht-proportionaler Weise sogar: Fallen Europas Minderungsverpflichtungen stärker aus, dann darf die Hälfte dessen, was zusätzlich gemindert werden muss, durch Investitionen im Ausland erfüllt werden. Das hat zwei Vorteile. Erstens bleiben so auch anspruchsvolle Verpflichtungen „machbar“; zweitens haben Staaten, denen somit überproportional wachsende Investitionen in Aussicht stehen, ein Interesse an hohen Abschlüssen – die sie aber, dank der Konditionalitätsformel im Verhandlungsmandat der EU, nur bekommen, wenn sie selbst ebenfalls in höhere Verpflichtungen einwilligen: positive Rückkopplung, nun nicht im Klimasystem, sondern im Klimapolitiksystem.
JOCHEN LUHMANN, geb. 1946, ist Projektleiter Grundsatzfragen am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.
Internationale Politik 4, April 2008, S. 68 - 71