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01. Nov. 2010

Kleine Insel, großes Spiel

Umworben von EU, China, Russland: Island

Seit Juli verhandelt Brüssel mit Reykjavik über den EU-Beitritt. Doch es geht nicht nur um Fischgründe und das Recht zum Walfang: Im Hintergrund geht es auch um Geopolitik. Die Union will einen Brückenkopf in der Arktis, wo schon jetzt um die künftige Ausbeutung von Rohstoffen und die Kontrolle neuer Handelswege gerungen wird.

Die Chinesen sind schon da. An die 60 Personen sitzen im rustikalen Gasthof, freier Blick auf den Strokkur. Alle fünf bis acht Minuten schießt der Geysir vor dem Panoramafenster in die Höhe. Es gibt Räucherlachs vom Buffet, Lammbraten und sehr süße Kuchenstücke. Die Gäste aus dem Fernen Osten sind bester Stimmung, einer setzt sich sogar ans Klavier. Liu Qi, der Delegationsleiter, applaudiert, die Sicherheitsbeamten wagen sich erleichtert zum Buffet. Es ist ein wichtiger Mann, auf den sie an diesem Tag aufpassen müssen. Liu Qi gehört dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas an und ist deren Parteisekretär in Peking. Vor zwei Jahren hat er die Olympischen Spiele in der Hauptstadt organisiert. Nun ist Liu zu Besuch in Island.

Was um alles in der Welt macht dieser Mann aus der 15-Millionen-Stadt Peking hier, auf der Insel mit 320 000 Einwohnern? Audunn Atlason, der Sprecher des isländischen Außenministeriums, windet sich; die Frage ist ihm unangenehm. „Er interessiert sich für unsere geothermischen Kraftwerke, trifft Politiker, knüpft Kontakte“, sagt der Diplomat schließlich. Mehr will er nicht preisgeben. „Low profile“ heißt die Devise. Im Wochentakt rauschen chinesische Delegationen durch Reykjavik, der isländische Präsident Olafur Ragnar Grimsson war im September acht Tage auf Staatsbesuch im Reich der Mitte. Im Juni verständigten sich beide Länder auf einen Währungstausch im Umfang von 500 Millionen Dollar: Peking tauscht seinen Renminbi gegen die isländische Krone, eine Währung, die im Außenhandel sonst nicht verwendet wird – so kurbelt man Beziehungen an. Der isländische Finanzminister Steingrimur Sigfusson, zugleich Parteichef der mitregierenden Grünen, spielt den Tausch herunter: „Das hat keine politische Bedeutung. Es gibt keine Verschiebung unserer Position auf der West-Ost-Achse. Die Chinesen lieben es einfach, Abmachungen zu unterzeichnen.“

Das mag sein, aber für Reykjavik interessieren sie sich erst seit ein paar Jahren. Und heute unterhält China die größte Botschaft auf der Insel. Auch Russland, Indien und Japan sind neben den USA und wenigen EU-Staaten diplomatisch vertreten. Zufall ist das nicht: Island ist zwar als Insel klein und wirtschaftlich ein Zwerg, erst recht nach dem Zusammenbruch seiner Banken in der Finanzkrise. Doch strategisch kommt ihm eine immer größere Rolle zu. Der Vulkanstaat am nördlichen Polarkreis ist das Tor zur Arktis, jener Region, in der Fachleute ein Drittel aller weltweit unentdeckten Gasvorkommen, vier Prozent der Ölreserven und wertvolle Mineralien wie Gold, Titan und Diamanten vermuten. Wenn das Eis schmilzt – und dies geschieht in atemberaubendem Tempo –, können nicht nur die Ressourcen aus dem Meeresboden gefördert werden, es eröffnen sich auch neue Handelswege.

Island liegt an der Ausfahrt der Nordostpassage von Asien nach Europa. Staatspräsident Grimsson lässt keine Gelegenheit aus, davon zu sprechen. „Diese neuen Seewege können für den globalen Handel im 21. Jahrhundert so wichtig werden wie der Suez- und der Panama-Kanal in ihrer Zeit – und diese Kanäle trugen zu ernsten Spannungen und militärischen Konflikten bei“, sagte er in einer Rede im Juni dieses Jahres und fuhr fort: „Es ist klar, dass die Kontrolle über die neuen Seewege, die sich durch den Klimawandel in der Arktis öffnen, den Staaten enorme Macht und Wohlstand bringt, die sich in geografischen Schlüssellagen befinden.“

Nicht nur in Peking und Delhi, sondern auch in Brüssel und Berlin haben Strategen verstanden, dass Island ein solcher Staat ist. Die Insel „könnte ein strategischer Brückenkopf in den für die EU zunehmend wichtigeren arktischen Raum werden“, schreibt etwa Carsten Schymik in einer Studie für die Stiftung Wissenschaft und Politik. Es gibt zwar kein Kapitel Geopolitik in den EU-Beitrittsverhandlungen mit Reykjavik, die seit Ende Juli laufen. Trotzdem spielt diese Dimension im Hintergrund eine kaum zu unterschätzende Rolle. Brüssel will einen Fuß in die Polarregion setzen und zum Mitspieler werden im arktischen Great Game um Öl, Gas und Handelswege.

Dass die EU bislang nur externer Akteur ist, liegt an geografischen und politischen Besonderheiten. Zum einen riegelt die gesamte norwegische Küstenlinie die anderen nordischen Staaten, die EU-Mitglieder sind, von der Region oberhalb des Polarkreises (66,55 Grad) ab. Zum anderen liegt dort mit Grönland zwar ein Territorium, das zum Mitgliedstaat Dänemark gehört, doch gilt für das autonome Gebiet ein Sonderstatus: Europäische Gesetze und Verordnungen dürfen nicht angewendet werden.

Wichtige Dinge regeln die „Arctic Five“ unter sich. So kamen im Mai 2008 die USA, Kanada, Russland, Norwegen und Grönland zu einer Konferenz in Illulisat zusammen. In der Abschlusserklärung bekräftigten sie ihre souveränen Rechte, die Geltung der UN-Seerechtskonvention und den Willen, überlappende Gebietsansprüche auf dieser Basis zu klären. Außen vor blieben Schweden, Finnland und Island, obwohl diese Staaten zum Arktischen Rat gehören. Dieses Gremium würde gestärkt, falls auch Island der Europäischen Union beiträte.

Mehrere Konferenzen, Papiere und Mitteilungen aus den vergangenen zwei Jahren zeigen, dass Brüssel durchaus einen Gestaltungsanspruch in der arktischen Region erhebt. Im November 2008 legte die Kommission erstmals einen Bericht über die „Europäische Union und die Arktis“ vor. In seinem Mittelpunkt steht die Sorge über negative Folgen des Klimawandels für Mensch und Natur in der Region. Doch findet sich auch ein Hinweis auf die Chancen, die er mit sich bringt: „Arktische Ressourcen (Öl und Gas) könnten dazu beitragen, die sichere Versorgung der EU mit Energie und Rohstoffen zu verbessern.“ Darüber hinaus mahnt die Kommission bessere multilaterale Steuerungsmechanismen für die Arktis an. Die Union solle Arrangements nicht unterstützen, die ihre arktischen Mitgliedstaaten oder die Staaten der Europäischen Freihandelszone (Norwegen, Island) ausschließen – eine Spitze gegen das Illulisat-Treffen.

Noch deutlicher werden die EU-Außenminister in ihren Schlussfolgerungen zu arktischen Fragen vom Dezember 2009. Mit der schrittweisen Öffnung transozeanischer Schifffahrtsrouten müssten die Anrainerstaaten das in der UN-Seerechtskonvention verankerte Recht auf freie Navigation und ungehinderte Durchfahrt garantieren, heißt es dort. Die EU werde dies „überprüfen“. Das wiederum ist gegen Kanada gerichtet, das auf seiner nationalen Zuständigkeit für Navigation und Sicherheit in der Nordwestpassage besteht. Gerade wegen der potenziellen Konflikte, die hier schlummern, auch zwischen den USA und Kanada, dürfte der nordöstliche Seeweg an Bedeutung gewinnen – mithin auch Island.

Ein zweites Dubai?

Reykjavik selbst verfolgt erst seit 2007 eine strategische Arktis-Politik.Während des Kalten Krieges war das NATO-Gründungsmitglied Island Teil der Blockkonfrontation. Als Staat ohne Militär stellte es sich unter den Schutz amerikanischer Kampfflugzeuge auf der Basis Keflavik. 2006 kündigte Washington das Stationierungsabkommen und zog seine Staffel zur Luftraumüberwachung ab. Als Reaktion auf dieses Schockerlebnis richtete sich das Land stärker an der EU aus, aber auch an seiner Schlüsselposition am Polarkreis. Dazu gehörten Verhandlungen mit China über ein Freihandelsabkommen, die allerdings bis heute nicht abgeschlossen sind.

Worauf Peking langfristig zielt, ließ der isländische Präsident im März durchblicken: China habe Interesse an Island als globalem Logistikstandort geäußert, wenn die globale Erwärmung es ermögliche, chinesische Exporte über die Arktis nach Europa zu schiffen. „Man muss schon seine Augen absichtlich geschlossen halten, um nicht die Bedeutung des Nordens für die Entwicklung des weltweiten Handels und der Energieförderung zu erkennen. Und Island liegt genau im Zentrum“, sagte Grimsson der Financial Times. Im Juli 2009 wurde die eisfreie Nordostpassage von zwei deutschen Frachtern mit Baumaterial auf ihrem Weg von Südkorea nach Rotterdam durchquert – der erste rein kommerzielle Transport. Die Schiffe waren zehn Tage schneller, denn die Route war im Vergleich zur gewohnten Strecke über den Suez-Kanal 3500 Seemeilen kürzer. Die Reederei taxiert die gesparten Kosten auf 300 000 Dollar pro Schiff.

Noch ist die Nordostpassage nur an 20 bis 30 Tagen im Jahr schiffbar, und die Frachter müssen von Eisbrechern eskortiert werden. Doch das Arctic Climate Impact Assessment von 2005 prognostiziert, dass es zur Jahrhundertwende schon 120 Tage sein könnten. Eine Studie des Center for Strategic and International Studies vom April 2010 weist darauf hin, dass 80 Prozent der globalen Industrieproduktion nördlich des 30. Breitengrads beheimatet sind und alle Industrieregionen Eurasiens, Japans und Nordamerikas weniger als 3700 Seemeilen vom Nordpol entfernt liegen.

Die chinesische Vision könnte so aussehen: Frachter aus dem Reich der Mitte laufen nicht mehr Häfen in Kontinentaleuropa an, sondern liefern ihre Waren lediglich nach Island, von wo aus sie per Flugzeug oder mit anderen Schiffen weitertransportiert werden. Als Mitglied der Europäischen Freihandelszone genießt die Insel schon heute Zollfreiheit für fast alle Lieferungen in die Europäische Union. Mit der ehemaligen Luftwaffenbasis Keflavik – inzwischen der interntationale Flughafen – stünde ein weiträumiger und ausbaufähiger Umschlagplatz direkt an der Küste zur Verfügung. Allein ein Tiefseehafen müsste erst gebaut werden. Island könnte ein zweites Dubai werden: ein global erfolgreicher Umschlagplatz ohne Hinterland.

Freilich bestehen auf der Insel selbst erhebliche Zweifel, ob sich diese Vision je realisieren lässt. „Es ist ungewiss, ob Island wirklich zu einer Zwischenstation auf der neuen Handelsroute wird“, sagt Wirtschaftsminister Arni Pall Arnason. „Die Öffnung der Nordostpassage würde ja zuallererst die bestehenden Häfen stärken, weil sich die Fahrzeiten massiv verkürzen.“ In diesem Fall wäre Island nur Zuschauer.

So ungewiss wie die Entwicklung des Seehandels ist die Aussicht auf Öl und Gas im isländischen Hoheitsbereich (200 Seemeilen rund um das Festland). „Wir haben Lizenzen für die Erforschung versteigert. Die Nachfrage war sehr niedrig – die Aussichten, Öl oder Gas zu finden, sind gering. Wir sollten keine großen Hoffnungen darauf setzen“, sagt Wirtschaftsminister Arnason. Reykjavik hatte 2008 etwa 100 Lizenzen ausgeschrieben, nur zwei Unternehmen zeigten Interesse. Nach Angaben der nationalen Energiebehörde wurde bislang keine einzige Lizenz zur Exploration oder Förderung vergeben.

Öl- und Gasreserven werden aufgrund seismischer Untersuchungen in drei Offshore-Gebieten und bis zu 1800 Metern Tiefe vermutet: Gammur (nördlich von Island), Dreki Ost und Dreki Nordost (innerhalb der 200-Seemeilen-Zone). Weil sich das Dreki-Nordost-Gebiet mit dem norwegischen Hoheitsbereich (um die Insel Jan Mayen) überschneidet, haben beide Staaten 1981 ein Kooperationsabkommen geschlossen, das sie im November 2008 präzisierten. Das mit der Offshore-Exploration erfahrene Norwegen wurde bislang aber nicht in diesem Bereich tätig. Island ist mangels eigener Expertise, Infrastruktur und Finanzkraft auf jeden Fall auf externe Investoren angewiesen.

Starker Wille zur Unabhängigkeit

Man sollte denken, dass all diese Fragen auch in der vehement und leidenschaftlich geführten Debatte über den Beitritt zur Europäischen Union eine Rolle spielen. Island würde sich damit viel enger an Europa binden und seine atlantische Zwischenlage aufgeben. Es wäre für Investoren aus China immer noch interessant, könnte einem so großen Partner aber mit weitaus mehr Gewicht gegenübertreten. Doch fürchten gerade Politiker, die für eine EU-Mitgliedschaft streiten, dass strategische Erwägungen genau das Gegenteil auslösen. „Wenn Geopolitik zum heißen Thema wird, dann sagen die meisten Bürger: Warum sollen wir denn unsere Unabhängigkeit aufgeben? Lasst uns doch das Maximum aus unseren Ressourcen herausholen“, erklärt Valgerdur Bjarnadottir von der regierenden Sozialdemokratischen Allianz und Vize-Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Parlament.

Es ist dieselbe Haltung, mit der die große Mehrheit der Bürger darauf pocht, dass Island die volle Souveränität über seine Fischfanggründe behält. Das wäre mit einem EU-Beitritt nicht zu vereinbaren. In jüngsten Umfragen unterstützen nur noch 39 Prozent der Isländer die Verhandlungen mit Brüssel, lediglich 19 Prozent glauben, ihre Insel würde von der Aufnahme in den großen Club profitieren. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise suchten dagegen zwei Drittel der Bevölkerung ihr Heil in Europa. Nun, da das Land langsam wieder auf die Beine kommt, schlägt der traditionell starke Unabhängigkeitsimpuls durch.

Bjarni Mar Gylfason, der Chefökonom des Industrieverbands, weist noch auf einen zweiten Faktor hin: „Die Leute haben momentan genug von großen Visionen. Das Scheitern der letzten großen Vision, Island als Bankenparadies, sitzt uns noch in den Knochen.“ Kurz nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 waren die drei größten Banken des Landes binnen einer Woche zusammengebrochen. Der damalige Regierungschef Geir Haarde muss sich deshalb vor einem Sondergericht verantworten. Die Niederlande und Großbritannien fordern 3,8 Milliarden Euro von Reykjavik; in dieser Höhe hatten sie eigene Staatsbürger entschädigt, die ihr Geld auf der Insel angelegt hatten. Viele Bürger sitzen auf hohen Schulden, weil sie in ausländischer Währung Kredite aufgenommen haben und die isländische Krone die Hälfte ihres Wertes eingebüßt hat.

Dass die arktischen Nachbarn strategischer denken als Reykjavik, zeigte sich schon vor zwei Jahren. Russland war im Oktober 2008 das erste Land, das Island einen Kredit in Höhe von 5,4 Milliarden Dollar anbot – zu Konditionen, von denen russische Banken, die in Moskau Hilfe suchten, nur träumen konnten. Sofort kamen Spekulationen auf, der Kreml habe ein Auge auf die Basis Keflavik geworfen. Der russische Botschafter in Reykjavik wies das weit von sich. Moskau würde es schon reichen, sagte er, wenn der Kredit zurückgezahlt werde in Form der „berühmten Heringe, die wir seit sowjetischer Zeit so schätzen“. Daraufhin schnürten der Internationale Währungsfonds, die nordischen Nachbarn sowie Polen umgehend ein eigenes Notfallpaket, das Island schließlich akzeptierte. Sie ahnten, dass der Machthunger des Kremls nicht allein durch Fisch zu stillen sein würde.

Dr. THOMAS GUTSCHKER leitet das Ressort Außenpolitik der Wochenzeitung Rheinischer Merkur in Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 108-113

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