Keine Panik
Die Menschen in Kiew leben schon seit siebeneinhalb Jahren mit der russischen Bedrohung.
Die Bundesregierung hat Mitte Februar, wie zuvor bereits die Amerikaner, Briten und andere Staaten, ihre Kiewer Botschaft personell ausgedünnt und ihre Landsleute aufgefordert, die Ukraine wegen der Gefahr einer russischen Invasion zu verlassen. Ich selbst bin bei jedem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt immer wieder erstaunt darüber, wie wenig Angst man hier vor Russland hat, das seine Flagge auf der Halbinsel Krim bereits vor gut siebeneinhalb Jahren gehisst hat. Und ich wundere mich auch darüber, wie wenig präsent der Krieg im Donbass hier ist.
Doch je mehr wir ausländischen Journalisten vor einer Invasion warnen, desto ruhiger erscheinen die Kiewer selbst. Der Alltag geht für die meisten Hauptstädter so weiter wie bisher. In den Geschäften sind die Regale prall gefüllt, Hamsterkäufe sieht man keine, vor den Banken haben sich keine Schlangen gebildet, um sich für den Kriegsfall noch schnell mit Bargeld einzudecken. „Ich warte nicht auf die Russen“, erzählt mir eine befreundete Geschäftsfrau, „ich habe Wichtigeres zu tun.“ Und sie, die aus der Ostukraine stammt, fügt hinzu: „Alles wird eh wieder gut.“ In der Lokalpresse ist Erste Hilfe zwar ein wichtiges Thema, doch für mehr Aufhebens sorgen die hohen Corona-Infektionszahlen. Dazu wird die bald erwartete Preiserhöhung im Öffentlichen Nahverkehr diskutiert. Dabei hatte Bürgermeister Witali Klitschko noch versichert, die Preise würden stabil bleiben.
Inzwischen ist Klitschko zu einem erfahrenen Troubleshooter geworden. Seit Ende Mai 2014 regiert der ehemalige Boxweltmeister die Hauptstadt. Nur ein paar Wochen länger dauert der Krieg gegen prorussische Separatisten und ihre russischen Helfer im Donbass, rund 650 Kilometer östlich von hier. Seitdem kämpft Klitschko gegen russische Desinformations- und Cyberattacken, ist konfrontiert mit Bombendrohungen gegen Metrostationen und andere Einrichtungen des öffentlichen Lebens. Nun fordert er die Bürgerinnen und Bürger zur Ruhe auf angesichts der erneuten russischen Truppenkonzentration.
Die Spitäler seien trotz der Corona-Krise auf Notfälle vorbereitet, versicherte Klitschko kürzlich. Gut 2,8 Millionen Einwohner zählt Kiew offiziell. Für jeden von ihnen steht laut dem Rathaus eine Notunterkunft zur Verfügung. Bei 500 Objekten handelt es sich um Bunker vor allem aus der Sowjetzeit. 4500 weitere Massenunterkünfte haben heute eine andere Funktion, von Banken und Frisörsalons bis zu Parkgaragen und Unterführungen – doch im Notfall werden Feldbetten eingebaut. Bis zu einem Monat sollen die Kiewer dort im Kriegsfall ausharren können. Das Rathaus hat gerade einen aktualisierten Online-Notunterkunftsstadtplan veröffentlicht. Rund 40 Aufrufe pro Minute verzeichnete die Webseite am ersten Tag.
„Auch ich habe mir diese Karte angeschaut“, gibt eine befreundete Kiewer Journalistin im Gespräch zu. Die praktische Bedeutung dieser Unterkünfte sei indes gering: „Hier weiß niemand, wer überhaupt den Schlüssel zur Notunterkunft um die Ecke meines Wohnblocks hat.“ Dazu hat sie sich ein paar Fotoreportagen lokaler Internetportale über die geplante städtische Notunterbringung zu Gemüte geführt. Eingepfercht in Kellern und Parkgaragen, zwischen tropfenden Leitungsrohren und altem Hausrat, dazu meist ohne sanitäre Anlagen, soll man also aushalten. „Da analysiere ich lieber die Situation und verhalte mich rationell“, sagt die junge Frau. Sie habe ihre Campingausrüstung geprüft, eine Notapotheke zusammengestellt und Bargeldvorräte in Hrywna, Euro und Dollar angelegt. „Dazu will ich bald einen Erste-Hilfe-Kurs belegen, um mein Wissen aufzufrischen, und auch meinen Lebenspartner dazu bewegen“, erzählt sie. Wenn sie fliehen müssten, blieben ihnen hoffentlich ein bis zwei Tage Zeit; ihre Patentante lebt in der Westukraine, das könnte eine Lösung sein. „Unklar ist jedoch, was ich dort tun würde, schließlich bin ich Journalistin und muss weiter berichten“, sagt meine Bekannte. So lädt sie einstweilen jeden Abend ihr Handy und den Laptop auf, um gewappnet zu sein. „Den Notkoffer packe ich noch nicht, denn seinen Inhalt brauche ich täglich.“ Dass sie wirklich flüchten muss, weil die Russen anrücken, glaubt sie nicht.
Psychologische Kriegführung mit Bombendrohungen
Laut einem neuen Gesetz erhalten zivile Freiwilligenverbände der sogenannten „Territorialverteidigung“ seit Mitte Januar endlich städtische Unterstützung und unentgeltliche Transportmöglichkeiten zu ihren Trainings; im Notfall sollen auch Waffen an sie abgegeben werden. 100 000 solche Zivilverteidiger soll es in der Ukraine geben. Doch nur 600 Kiewer sollen sich laut lokalen Medien in ihrer Freizeit auf eigene Kosten zu künftigen Partisanen ausgebildet haben.
Den höchsten Preis für die russischen Drohgebärden zahlen derzeit die Rentner. Großeltern von Schulkindern wurden dieser Tage vom Kiewer Rathaus dringend dazu aufgefordert, die Kinder bei Bombendrohungen „unverzüglich abzuholen“ und sie ruhig und sicher nach Hause zu geleiten. Der Grund ist, dass die Bombendrohungen in Kiew wieder zugenommen haben. Dies begann kurz vor dem orthodoxen Weihnachtsfest in Dutzenden von Shopping Malls, Mitte Januar folgten drei Metrostationen, danach an einem Tag gleich 46 städtische Schulen, und drei Tage später warnte der ukrainische Geheimdienst SBU, alle Schulen im ganzen Stadtgebiet müssten sofort evakuiert werden. Die Omas und Opas schlugen sich tapfer. Panik kam selten auf, Bomben wurden keine gefunden. Doch der psychologische Krieg des Kremls geht weiter.
Paul Flückiger berichtet als freier Korrespondent, unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, über die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa. Er ist zudem Gründungsmitglied von weltreporter.net.
Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 114-115
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