Internationale Presse

26. Juni 2023

Jagd nach angeblichen 
Russland-Freunden

Polens Medienlandschaft ist gespalten wie in kaum einem anderen EU-Mitgliedsland. Und da niemand der Gegnerseite neben dem eigenen Sprachrohr folgt, gibt es zwei mediale Abbildungen eines Frontstaats im Ukraine-Krieg.

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Das Einzige, was die beiden Seiten des politischen Bruderzwists unter den ehemaligen Solidarność-Dissidenten Jarosław Kaczyński und Donald Tusk mit ihren jeweiligen Parteien und den ihnen zugewandten Medien eint, ist die Überzeugung, dass Polen einen militärischen Sieg der Ukraine gegen Russland fördern müsse.



Umso größer war Mitte April die Überraschung, als Kaczyń­ski in seiner Funktion als Regierungsparteichef auf einem Parteikongress zur Landwirtschaftsfrage im Dorf Lysy bei Ostroleka ankündigte, ab sofort würde Polens Regierung mittels eines Schnellgesetzes sämtliches ukrainisches Getreide und „Dutzende weitere Nahrungsmittel aus der Ukraine“ an der Grenze zurückhalten. Neun Monate lang hatte sich Polen bereitwillig als Transitland für ukrainische ­Getreideexporte nach Westeuropa, Arabien und Afrika zur Verfügung gestellt, um damit die russische Obstruktionspolitik des Handels im Schwarzen Meer und die Folgen russischen Beschusses ukrainischer Häfen in und bei Odessa zu lindern.



„Es gibt Krisen in der Geschichte von Staaten und Völkern. Eine solche Krise hat nun das polnische Dorf erreicht. Die Aufgabe jeder guten Regierung ist es, diese Probleme zu lösen und Schritte zu unternehmen, die die Situation verändern“, sagte Kaczyński in seiner gewohnt verklausulierten Art. In der Tagesschau des öffentlich-rechtlichen, der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) unterworfenen Staatsfernseh­senders TVP kündigte er einen Sonderhilfsfonds für Bauern und den sofortigen Transit- sowie Importstopp für ukrainisches ­Getreide an.



Warschau stünde weiter völlig hinter der Ukraine, erklärte ­Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Staatsfernsehen TVP: „Nur eine Person ist schuld an dieser Krise: Es ist Wladimir Putin, und wir dürfen uns (von ihm) nicht einschüchtern lassen. Alle Konsequenzen, die das polnische Dorf trägt, sind Folgen des Krieges in der Ukraine, den Putin begonnen hat.“



Eben erst hatten Regierung und der aus ihrem Lager stammende Präsident Andrzej Duda den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Warschau begrüßt, man hatte wort­reich die gegenseitige Freundschaft beschworen. Selenskyj hatte dem polnischen Volk für die Aufnahme von bis zu zwei Millionen ukrainischer Flüchtlinge gedankt sowie der Regierung für ihren unermüdlichen Einsatz zugunsten westlicher Waffenhilfe.



Wer wissen wollte, was geschehen war, musste sich an regierungskritische Medien halten. Denn in der geteilten Medienlandschaft war auf den regierungsfreundlichen Kanälen – ob Print, Online, Radio oder Fernsehen – vor allem davon die Rede, dass Vater Staat den gebeutelten Bauern unter die Arme greift. Allenfalls wurde dort die Schuld neben Putin noch in Brüssel gesehen, das auf einen Protestbrief mehrerer mittelosteuropäischer Regierungschefs nicht reagiert und nichts unternommen hätte. Warschau und Brüssel einigten sich in den Folgetagen bei hitzigen Verhandlungen auf neue Transitregeln für ukrainisches Getreide zu den EU-Häfen, die die Kontrolle über die eingeführte Ware gewährleisten sollen.



Zuvor allerdings, worauf vor allem die Tageszeitung Rzeczpospolita sachlich hinwies, hatte Polens Landwirtschaftsminister fast zehn Monate lang nichts unternommen, um eine Entladung ukrainischen Getreides auf der polnischen Seite der Grenze sowie dessen Hortung in Silos zu verhindern. Auch EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski, ein PiS-Mitglied, trug nichts dazu bei, damit die ukrainische Transitware nicht auf den polnischen Inlandsmarkt gelangte. Dort drückte das ukrainische Getreide den Ankaufspreis für polnisches Getreide. Und dies verursachte im Frühling wütende Bauernproteste, die vor allem von der „Agro-Union“ organisiert wurden, einer neuen Bauern-­Protestpartei. Der informelle Oppositionsführer Donald Tusk von der liberalen Bürgerplattform (PO) hatte genau davor bereits im Juni 2022 gewarnt und war von PiS und der gesamten ihr zugewandten Presse und den Staatsfernsehprogrammen deswegen einer prorussischen Politik bezichtigt worden.



„Jede verantwortungsvolle Regierung müsste so eine Entscheidung treffen, um die eigenen Produzenten, die eigenen Bauern und den eigenen Markt zu schützen“, argumentierte das PiS-nahe Online-Nachrichtenportal wpolityce.pl, als sich Probleme mit Brüssel abzeichneten. Regierungssprecher Piotr Müller verwies auf enge Kontakte mit der EU-Kommission und zitierte einen Vertragsparagrafen zur angeblich gefährdeten Sicherheit Polens, der dieses ­eigenmächtige Handeln ermögliche. „Interessant wäre die Beweisführung, wie Putin ukrainisches Getreide nach Polen und zu deren Entladung hinter der Grenze geführt hat“, höhnte Rzeczpospolita in einem Kommentar. „Es wäre auch wertvoll, die Tricks aufzudecken, mit denen der russische Tyrann für die Regierung Morawiecki den polnischen EU-Kommissar unsichtbar machte“, hieß es dort weiter. Die oppositionsnahe Gazeta Wyborcza hatte den Grund von Kaczyńskis Getreide-Notbremse schnell erkannt: PiS sei bei den Parlamentswahlen im Herbst auf die Stimmen des polnischen Dorfes angewiesen, analysierten dort die Kommentatoren.



Der polnische Wahlkampf hatte damit die Ukraine-Euphorie der PiS zu einem jähen Ende gebracht. Noch im März hatte das eher regierungsfreundliche Nachrichtenmagazin Do Rzeczy einen Beitrag im US-Magazin Foreign Policy gehyped, in dem ein erneuter Zusammenschluss der heutigen Ukraine, Polens und Litauens nach dem Vorbild der „Lubliner Union“ von 1569 zu einer militärischen Supermacht angeregt worden war. Zuvor hatten gleich mehrere regierungsnahe, rechtskonservative Zeitschriften eine Union Polens mit der Ukraine beworben. Die Quartalsschrift Nowy Panstwo (Neuer Staat) widmete einem solchen Projekt gar eine ganze Ausgabe, dessen Titelseite ein Segelschiff in den polnischen und ukrainischen Farben mit der Unterschrift „Polen und Ukraine – gemeinsamer Weg“ zierte.



Ein umstrittenes Gesetz

Während die Regierung in Warschau trotz des Streites um den ukrainischen Getreidetransit daran festhält, Kiews bester Freund in Europa zu sein, nahm in den letzten Maiwochen die Innenpolitik wieder klar Überhand. Ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückte ein nur wenige Monate vor den Parlamentswahlen aufgegleistes, verfassungsrechtlich höchst umstrittenes Gesetz zur „Untersuchung russischer Einflüsse auf die innere Sicherheit“. Das Gesetz sieht die sofortige Schaffung einer staatlichen Sonderkommission vor, die quasi­gerichtliche Vollmachten erhält. Die neue Verwaltungseinheit soll im Gesetz nur schwammig definierte „russische Einflussnahme“ auf Polen in den Jahren 2007 bis 2022 aufarbeiten und angebliche Unterstützer Russlands gleich selbst außergerichtlich bestrafen.



PiS hatte die Vorlage im Mai ins Parlament gebracht, wo sie selbst in den von der Regierungspartei dominierten Fachkommissionen stark kritisiert wurde. Davon erfuhren die Konsumenten der regierungsnahen Medien sowie des Staatsradios und -fernsehens jedoch nichts. Sowohl TVP als auch die marktdominierende, vom staatlichen Mineralölkonzern Orlen übernommene Regionalzeitungsgruppe Polska Press wie auch die PiS-treue Tageszeitung Gazette Polska Codzienna, die rechtskatholische Tageszeitung Nasz Dziennik und mehrere regierungsnahe Wochenmagazine suggerierten, der Widerstand gegen die Sonderkommission zur Abklärung russischer Einflüsse speise sich aus der Angst, dass solche nun offengelegt würden.



Das Gesetz wurde schließlich in letzter Lesung im Sejm, Polens Großer Kammer, knapp angenommen. Die PiS verfügt dort zusammen mit Justizminister Zbigniew Ziobros EU-feindlichem Juniorkoalitionspartner „Souveränes Polen“ sowie der rechtspopulistischen Splitterpartei „Kukiz“ über eine knappe Mehrheit. Damit wurde die zuvor erfolgte Ablehnung des Senats, Polens Kleiner Kammer, überstimmt. In der stürmischen Sitzung wurde der anwesende Oppositionsführer und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk vom Regierungslager mit „Hau ab nach Deutschland!“-Sprechchören begrüßt und ausgebuht. Ziobros Parteigänger Janusz Kowalski, derzeit Vize-Landwirtschaftsminister, begründete ganz offen, die Sonderkommis­sion müsse einberufen werden, um Tusk vor diese ziehen zu können. „Die Regierung Tusk war prorussisch“, behauptete Kowalski.



In Polens gebeutelter Opposition und in den ihr zugeneigten Medien, allen voran dem von US-Kapital beherrschten Privatfernsehsender TVN, den meisten Privatradios, der linksliberalen Gazeta Wyborcza, dem führenden, zum „Ringier Axel Springer“-Konzern gehörenden Nachrichtenportal onet.pl und den beiden führenden Wochenmagazinen Newsweek Polska und Politika wird das Gesetz deshalb als „Lex Tusk“ bezeichnet.



Schon vor Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 lief die ­Narration der PiS darauf hinaus, dass sich Tusk in seiner Zeit als Regierungschef (2007–2014) eng an die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel angelehnt und Deutschlands Russland-Freundlichkeit übernommen hätte. Als „Beweis“ dienen dem von PiS seit 2015 dominierten Staatsfernsehen TVP Filmaufnahmen, die Putin und Tusk in einem augenscheinlich vertrauten Flüstergespräch auf der Mole des Ostseebads Sopot bei Danzig zeigen. Die beiden hatten sich dort anlässlich des 70. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs getroffen. Laut Lesart vieler PiS-Anhänger hätten sich Tusk und Putin auch auf einen Anschlag auf das Präsidentenflugzeug von Lech Kaczyński im April 2010 geeinigt. Die Regierungsmaschine war damals beim Landeanflug im dichten ­Nebel abgestürzt.



Das Staatsfernsehen TVP sendet derweil immer neue angebliche Beweise für Tusks Rolle als russischer Einflussagent. In einer Hauptausgabe der Tagesschau von Ende Mai kurz nach der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes wies Moderator Michal Adamczyk etwa darauf hin, dass die Kritik am PiS-Gesetzentwurf zeige, wer russische Interessen in Polen vertrete: „Auf eine Reaktion musste man nicht lange warten: Die Propagandamaschine des Kremls, aber auch deutsche Medien kritisieren die Einberufung der Kommission scharf; interessanterweise ahmen auch einige in Polen erscheinende Medien gerne nach“, verkündete er. TVP zeigte dazu ein Bild mit regierungskritischen Pressetiteln. Als angeblich unabhängiger Experte trat dann Jacek Karnowski, der Chefredakteur der PiS-nahen Wochenzeitschrift Sieci auf und analysierte: „Die Ähnlichkeit der Diagnose ist frappierend: Sowohl Polens Opposition wie Moskauer Quellen interpretieren das Gesetz sofort als Attacke auf Donald Tusk.“ Gegenmeinungen kommen bei TVP schon lange nicht mehr zu Wort.



Der politische Kampf in Polen mittels Vorwürfen zur angeblichen Begünstigung russischer Einflüsse ist indes nicht nur auf PiS beschränkt. Ausgerechnet Tusks liberale Bürgerplattform (PO) hatte im Herbst 2022 eine Parlamentarische Kommission zur PiS-Energiepolitik, die angeblich Russland begünstigt habe, angeregt. Auch die Abhöraffäre im unter Abgeordneten beliebten Restaurant „Eule und Freunde“, die 2015 wesentlich zum Wahlsieg der PiS beigetragen hatte, war von Tusk den russischen Geheimdiensten angelastet worden. Die Tatsache, dass die Affäre unter der PiS-Regierung nicht aufgeklärt wurde, deute auf Verstrickungen mit Russland hin, heißt es in der Opposition und in den meisten ihr zugeneigten, oben genannten Medien.



Großdemo gegen „Lex Tusk“

Wie so oft im polnischen Bruderkampf geht PiS indes einen Schritt weiter. Zwar soll die Sonderkommission auch die Jahre der beiden PiS-Regierungen abdecken, doch handelt es sich nicht mehr um eine parlamentarische Untersuchungskommission, sondern um ein Organ ohne demokratische Kontrolle. Dieses hat weitgehende Vollmachten, die jene der Staatsanwaltschaft, der bereits von PiS gegängelten Gerichte und der Geheimdienste verbinden. Die Sonderkommission kann fehlbare Politiker, Beamte und Journalisten mit einem Ausschluss von öffentlichen Ämtern von bis zu zehn Jahren bestrafen. Eine Berufungsmöglichkeit ist nicht vorgesehen.



Da selbst die Verwaltungskommission des Sejm verfassungsrechtliche Bedenken hatte, übersandte Staatspräsident Andrzej Duda, der selbst der PiS entstammt, heute aber von Amts wegen parteilos ist, das in Windeseile von ihm unterschriebene Gesetz ans ebenfalls von PiS-Richtern dominierte Verfassungsgericht zur Abklärung. Ein paar Tage später reichte der Staatspräsident dann einen eigenen Gesetzentwurf nach, der die Amtssperre de facto zurücknimmt. Dies alles konnte eine Großdemonstration der Opposi­tion gegen die Regierung, gegen „Lex Tusk“ und für freie und demokratische Wahlen am ersten Juni-Wochenende in Warschau nicht mehr verhindern.



Nun streiten sich die beiden Medienlager über die Teilnehmerzahl dieser vermutlich größten Demonstration in Polen seit der Wende von 1989. TVP spricht von maximal 100 000 Teilnehmern, onet.pl hat 300 000 errechnet, TVN und Gazeta Wyborcza halten sich an die Schätzung des liberalen Warschauer Rathauses, das von einer halben Million ­Demonstranten spricht.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 116-119

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