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01. Febr. 2006

Kein Thema für die Linke?

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Über Gewalt von Migranten wird feige geschwiegen

Es war nicht so einfach, eine gewisse Schadenfreude zu unterdrücken, als im November die Pariser Vorstädte brannten. So sah also das vielgerühmte modèle social aus, das Frankreich nobilitieren und Europa gegenüber Amerika moralische Überlegenheit sichern sollte. Mit der Debatte über die Äußerungen des Philosophen Alain Finkielkraut in der israelischen Tageszeitung Haaretz trat die Sache aber in den nächsten Höllenkreis der unangenehmen Wahrheiten, für die es auch bei uns noch keine etablierte Gesprächsform gibt. Finkielkraut – und nicht Le Pen – stellte die K-Frage: Hatten die Aufstände nicht kulturelle, ethnische und auch religiöse Gründe? Es ärgerte ihn, dass sofort beflissentlich entschuldigt worden war: Die Gewalt der „Jugendlichen“, deren ethnischer Hintergrund stets schamhaft verschwiegen wird, sei eine Reaktion auf den Rassismus der französischen Gesellschaft. „In Frankreich würde man diese Riots am liebsten als Revolte der Jugendlichen aus den Vorstädten sehen, die gegen Diskriminierung und ihre schlechte soziale Lage aufbegehren. Das Problem ist nur, dass die meisten dieser Jugendlichen Schwarze oder Araber mit muslimischer Identität sind. In Frankreich gibt es andere Einwanderergruppen, deren Situation auch schwierig ist – Chinesen, Vietnamesen, Portugiesen – aber sie beteiligen sich nicht an den Aufständen. Also scheinen sie doch einen ethnisch-religiösen Charakter zu haben.“

Nun wird niemand bestreiten wollen, dass es den sozialen Anteil gibt. Aber er ist Teil eines komplizierteren Zusammenhangs, eines stillschweigenden Übereinkommens zwischen Linken und Rechten, die gleichmütig ein soziales Arrangement akzeptiert haben, bei dem ihre jeweilige Klientel in den Genuss von Vergünstigungen und Schutzbestimmungen kommt, während die ohne Jobs auf ewig unbeschäftigt bleiben – wobei man ihnen genug staatliche Wohlfahrt zukommen lässt, damit sie Körper und Handy zusammenhalten können. Dieses Arrangement passt den meisten Leuten sehr gut ins Konzept. „Sie werden ewig dafür stimmen“, schrieb der britische Kolumnist Theodore Dalrymple in der Welt. „Deshalb ist es politisch nicht angreifbar – weder für die Linke, noch für die Rechte. Das erklärt die Erstarrung des französischen Staates.“ Zwar hat diese Erstarrung spezielle französische Komponenten: Keine offene Debatte über die Niederlage gegen die Nazis, den Umgang mit den Kolonien und deren Verlust, den Untergang der Grande Nation, und ein unerschütterlicher Nepotismus der Institutionen, die auch für Weiße undurchlässig sind, wenn sie aus den falschen Stadtteilen kommen.

Aber das Procedere – man bewirft Probleme von Unterschichten mit Staatsgeldern, ohne sie beim Namen zu nennen – gibt es wohl in allen westlichen Gesellschaften. Das Neue an der gegenwärtigen Lage ist, dass die traditionellen Anwälte der Unterschichten, die Linken in Parteien und Gewerkschaften, am allerwenigsten bereit scheinen, solche Phänomene wie Rücksichtslosigkeit gegenüber Gemeineigentum und den dramatischen Verlust an Bildungsehrgeiz zu ihrem Thema zu machen. Ein ressentimentfreier Konservatismus, wie ihn in Deutschland etwa der Verfassungsrichter Udo di Fabio oder Bundestagspräsident Norbert Lammert repräsentieren, scheint da viel rauflustiger und zugleich verantwortungsbewusster. Als Enkel deutschlandbegeisterter italienischer Einwanderer, die noch klaglos auf der Suche nach Arbeit in der frühen Bundesrepublik herumgezogen waren, kann di Fabio sich das Bekenntnis leisten, dass ihn die „Männer mit Schmerbäuchen und die Frauen in Trainingsanzügen“ deprimieren, die heute die Kohlenpott-Viertel seiner Kindheit bewohnen. Wie gesagt: Hier geht es nicht um Sozial-Technologie, hier geht es um Kultur.

„Wenn ein Araber eine Schule anzündet“, so Finkielkraut, „dann ist das eine Rebellion. Wenn ein Weißer das tut, ist es Faschismus. (…) Juden zünden keine Schulen an.“ Mit größter Begeisterung hatten sich die Pariser Intellektuellen auf solche Sätze gestürzt, die eine willkommene Gelegenheit boten, nicht mehr über den unangenehmen Anlass, sondern über die Abgründe des Renegatentums zu lamentieren. Jeder weiß, dass Finkielkraut Recht hat, aber sagen darf man es einfach nicht.

Aber wie spricht man über Ehrenmorde, Machismo, Zwangsehen, häusliche Gewalt und Bildungsverweigerung, wie sie unter türkischen Einwanderern der Bundesrepublik gang und gäbe sind? Ausgerechnet in der taz, wo sonst Frauenrechte energisch hochgehalten werden, wird das Reden über Zwangsehen als Stigmatisierung von Muslimen betrachtet. Den Deutschen stehe es schon gar nicht zu, über diese Dinge zu urteilen, schreibt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in einem Kommentar zu Necla Keleks Buch über Zwangsehen: „Die so genannten Ehrenmorde sind kein allgemein muslimisches oder auch nur türkisches Phänomen, sondern kommen vor allem unter Kurden, aber auch in Sizilien vor. In bestimmten Milieus herrscht ein gravierendes Ausmaß an häuslicher Gewalt – in russlanddeutschen weit stärker als in türkischen. Das Phänomen liegt vor allem in einer ländlichen Kultur begründet. Wäre es nur der Islam, der die Männer zu Tyrannen macht, müssten Gewalt in der Ehe, Ehrenmorde und Zwangsheiraten in allen muslimischen Migrantenmilieus hoch sein. Tatsächlich aber sind es bestimmte soziale Schichten – in denen Muslime aufgrund der Anwerbungspolitik der sechziger Jahre (…) überrepräsentiert sind – in denen diese Gewalttaten geschehen.

Die gegenwärtige Debatte, so notwendig sie ist und so wichtig es ist, gegen Zwangsehe, häusliche Gewalt oder mangelnde Bildung in Migrantenfamilien vorzugehen, könnte die Integration von Muslimen in Deutschland eher verhindern“, denn, so Amirpur, „viele sehen die Debatte als ein Beispiel für den Islamhass im Westen (…)“ und viele „Migrantenkinder der zweiten und dritten Generationen reagieren trotzig auf den selbstherrlichen Impuls, mit dem die Debatte geführt wird. Ihnen wird unterstellt, alles an ihnen und ihrer Religion sei rückschrittlich und sie sollten jetzt doch die Entwicklung nehmen, die der Westen ihnen vorgemacht hat. Da verweisen sie instinktiv darauf, dass keineswegs alles im Westen vorbildlich ist und ein Land, das sechs Millionen Juden umgebracht hat, nicht zum Oberlehrer in Sachen Toleranz taugt.“

Starker Tobak. Die „Migrantenkinder“, für die Amirpur hier spricht, scheinen die Ermordung solcher Frauen wie Hattun Sürücü in Berlin durch ihre Brüder nicht für ihr Problem zu halten. Kehrt vor eurer eigenen Tür, ihr Judenmörder – das soll die Antwort der Linken sein? In dieser Lage muss man aus den beunruhigendsten Ereignissen Hoffnung schöpfen. Der Vorsitzende des Islamrats, Nadeem Elias, sucht derzeit den Schutz der deutschen Polizei, weil er Morddrohungen von islamistischen Fundamentalisten erhalten hat. Er hatte die Praxis der Selbstmordattentate kritisiert. Das ist nun ein deutsch-muslimisches Problem.

MARIAM LAU, geb. 1962, war Redakteurin der taz, leitete die Meinungsredaktion der Welt und ist jetzt deren Chefkorrespondentin. In der Zeitschrift Merkur erschienen von ihr „Der Iran und der Westen“, und „Es war nicht alles schlecht, oder doch? Die Achtundsechziger und kein Ende“.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 86 - 87

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