Kein Rüffel aus Brüssel: Wie die Türkei die Europäische Union vorführt
Ursula von der Leyen wurde beim Besuch in Ankara von Erdogan düpiert. Doch das eigentliche Problem sitzt viel tiefer.
Böse Zungen behaupten, die Düpierung Ursula von der Leyens beim Staatsbesuch in Ankara sei eigentlich ganz nützlich gewesen. Schließlich hat die Aufregung über „Sofagate“ nicht nur die Kritik am Besuch der Präsidentin der EU-Kommission und des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, bei Staatschef Recep Tayyip Erdoğan überlagert. Der peinliche Vorfall hat auch verhindert, dass das magere Ergebnis der Visite die Aufmerksamkeit fand, die es verdient hätte.
In der Kritik stand dieser Besuch von Anfang an. Brüssel war der Türkei mit den Beschlüssen des Europäischen Rates vom 25. März entgegengekommen und hatte Ankara eine „positive Agenda“ angeboten: Eintritt in Verhandlungen zur Modernisierung und Vertiefung der Zollunion, Erleichterungen von zivilgesellschaftlichen Kontakten zwischen Bürgern der Türkei und der Europäischen Union, Wiederaufnahme „hochrangiger Politischer Dialoge“ zur Lage im östlichen Mittelmeer, zum digitalen Wandel und zur Energiepolitik (European Green Deal) und schließlich die Fortführung der Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik.
Der Europäische Rat hatte in seinen Entschließungen jedoch auch deutlich gemacht, dass man Schritt für Schritt vorgehen und Kooperationen zurückfahren werde, falls Ankara im östlichen Mittelmeer erneut „illegale Bohrungen“ durchführe. In diesem Fall müsste die Türkei mit gezielten Wirtschaftssanktionen rechnen.
Aus Ankara kam zu alledem recht wenig. Die türkische Regierung begrüßte den guten Willen der Europäer, vermied es aber, ihrerseits auf die EU zuzugehen. Weder rückte sie auch nur graduell von ihrer Position im Streit um maritime Wirtschaftsgrenzen im östlichen Mittelmeer ab, noch zeigte sie sich bereit – wie von der EU gefordert –, eine Teilnahme Brüssels an den anstehenden Zypern-Verhandlungen zu akzeptieren. Ebenso vermied man jede Stellungnahme zur Forderung der EU, Handelshemmnisse zu beseitigen, die Ankara einseitig eingeführt hatte und die den Vereinbarungen zur Zollunion zuwiderlaufen. Und was die Fortführung des Flüchtlingsdeals betrifft, hüllte sich die türkische Regierung in Schweigen darüber, ob sie künftig wieder – wie vereinbart – abgelehnte Asylbewerber aus Griechenland zurücknehmen werde oder nicht.
So testete Ankara gleich zu Beginn der angeblich neuen Phase in den Beziehungen, ob die EU tatsächlich in der Lage ist, auf den von ihr formulierten Bedingungen für den Einstieg in eine positive Agenda zu bestehen oder nicht. Mehr noch, eine Woche vor dem Besuch der beiden EU-Präsidenten stellte sich der Nationale Sicherheitsrat der Türkei, wie zuvor bereits Staatspräsident Erdoğan, in der Zypern-Frage gegen Resolutionen der Vereinten Nationen, die von der EU mitgetragen werden, und forderte die internationale Anerkennung der von der Türkei abhängigen „Türkischen Republik Nordzypern“.
Und nur zwei Tage, bevor von der Leyen und Michel in Ankara eintrafen, kündigte der türkische Energieminister Fatih Dönmez an, sein Land werde „in Kürze“ die Forschungs- und Bohrtätigkeit im östlichen Mittelmeer wieder aufnehmen.
Vor diesem Hintergrund schien die Reise der beiden EU-Spitzen zu Erdoğan die erklärte Absicht der EU zu konterkarieren, eine Umsetzung der positiven Agenda an eine grundsätzliche Mäßigung der türkischen Politik zu binden – und bereit zu sein, einen anderen Ton anzuschlagen, falls Ankara sich nicht bewegt. Der Besuch vermittelte vielmehr den Eindruck, dass die EU, die Ankara noch unlängst mit Sanktionen drohte, in Sachen Liebeswerben unterwegs sei.
Es ist daher kein Wunder, dass von der Leyen und Michel ohne ein einziges Zugeständnis von Erdoğan aus Ankara abreisen mussten. Von der Entschlossenheit, Annäherungsschritte an die Türkei stets an ein Entgegenkommen der Regierung zu binden, war in Ankara wenig zu hören. Zwar monierten die Gäste aus Europa Rückschritte bei Menschenrechten und Demokratie. Sie beklagten, dass Erdoğan aus der Istanbuler Konvention zum Schutz der Frauen vor Gewalt ausgetreten sei, dass die Türkei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGH) ignoriere und dass prominente Oppositionelle wie Selahattin Demirtaş und Osman Kavala aufgrund fadenscheiniger Beweise und haarsträubender Urteilsbegründungen inhaftiert seien. Doch schreckten sie davor zurück, um nur ein Beispiel zu nennen, die Umsetzung von Urteilen des EuGH zur Bedingung für hochrangige politische Dialoge mit Ankara zu machen.
Auch die im März vom Europäischen Rat erhobene Forderung, die Türkei müsse erst die von ihr geschaffenen Handelshemmnisse beseitigen, bevor man in Verhandlungen zur Zollunion einsteigen könne, fiel in Ankara unter den Tisch.
Ankara ist unbeeindruckt
Solange die Beschlüsse des Europäischen Rates und das Auftreten von Europas Spitzenpolitikern so auseinanderklaffen, hat Ankara wenig Grund, an die Fähigkeit der EU zu glauben, auf konfrontative und provokative Schritte der Türkei angemessen zu reagieren und Kooperationsangebote auch wieder zurückzunehmen, wenn nötig; von einer Einigung auf mögliche Sanktionen ganz zu schweigen. Dabei ist Konditionalität auch jenseits des auf Eis gelegten türkischen Beitrittsprozesses zur EU durchaus möglich. Schließlich spricht der Rat in seinen Entschließungen von einer angepassten, schrittweisen und reversiblen Politik gegenüber der Türkei. Doch verwirklichen kann die EU ihr vielbeschworenes Ziel, zu einer regelbasierten Politik gegenüber Ankara zu kommen, erst dann, wenn sie nicht nur Regeln aufstellt, sondern sich auch selbst an diese Regeln gebunden fühlt. Dazu gehört auch, ihre Erfüllung oder Nichterfüllung durch Ankara zur Richtschnur ihrer Politik zu machen.
Heute liegen nicht nur einzelne Mitgliedstaaten der EU, sondern auch ihre maßgeblichen Institutionen wie Rat, Parlament und Kommission in ihrer Türkei-Politik oft Lichtjahre voneinander entfernt. All diese EU-Akteure haben nur dann eine Chance auf Einigung, wenn sie sich nicht mehr darüber streiten, ob der Türkei gegenüber prinzipiell mehr Konfrontation oder mehr Zugeständnisse angebracht sind. Stattdessen sollten sie klare Erwartungen formulieren und ihr Handeln danach ausrichten, ob die Türkei die so gesetzten Regeln erfüllt oder nicht. Ein Beispiel: Auch türkeikritische Mitgliedstaaten und das ebenfalls türkeiskeptische EU-Parlament werden sich eher dazu durchringen können, einer Vertiefung der Zollunion zuzustimmen, wenn Ankara vorher bestehende Handelshemmnisse ausräumen muss. Und eine Unterstützung für die Türkei zur Umstellung ihrer Energieversorgung im Rahmen des Green Deal der Europäischen Union, wie von der Leyen und Michel sie in Ankara zur Sprache gebracht haben, fände in Brüssel eher Unterstützung, wenn als Bedingung dafür der Beitritt der Türkei zum Klimaschutz-Abkommen festgeschrieben würde.
Nur eine so verstandene und von Brüssel selbst ernst genommene Konditionalität kann es der EU ermöglichen, mit einer Stimme zu sprechen. Und nur wenn Brüssel mit einer Stimme spricht, hat dies Wirkung auf Ankara. Dann würde die Türkei nicht mehr, wie noch im März geschehen, nur eine Woche vor der Sitzung des Europäischen Rates Parteiverbotsverfahren in Gang setzen, aus internationalen Konventionen austreten, prominente Menschenrechtsaktivisten aus dem Parlament heraus verhaften und den Zentralbankpräsidenten bei Nacht und Nebel abberufen.
Dr. Günter Seufert ist Senior Fellow und Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 112-113
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