Kein Retter in der Not
Das Ende der Ära Scharon
Der Rückzug aus Gaza offenbarte eine Lüge: Demokratie in Israel und Besatzung für die Palästinenser ließen sich nicht vereinbaren. Dieser Fehler musste korrigiert werden. Hätte Scharon in der Westbank gehandelt wie in Gaza? Das Programm des Mannes, der in vorweggenommener Trauerarbeit als beinahe mythologische Figur verehrt wurde, bleibt im Dunklen. Jetzt muss die israelische Gesellschaft ohne Übervater auskommen.
Am Sonntag, den 18. Dezember 2005 gegen acht Uhr abends, während die Nachrichtenprogramme über die Bildschirme liefen, hielt man in Israel den Atem an. Und nicht nur dort: Ariel Scharon, mit knapp 78 Jahren ältester der bisher amtierenden Premierminister des Landes, war soeben ins Jerusalemer Hadassa-Krankenhaus eingeliefert worden. In kürzester Zeit belagerten die internationalen Medien den Eingang der Notaufnahme und warteten auf ein Wort der Ärzte. Das kam schnell und war beruhigend: nur ein leichter Schlaganfall, der keine Spuren hinterlassen würde. Bald könne Herr Scharon auf seinen Posten zurückkehren.
So geschah es am nächsten Tag, und sprunghaft stiegen die Kurse an der Tel Aviver Börse. Ein Fehlalarm also, doch schon Mitte Dezember nicht fehl am Platz: Ariel Scharon, seit Jahren der populärste Politiker in Israel, schien nach dem Gaza-Abzug und den Hoffnungen, die er erweckt, unersetzlich geworden zu sein. Ein Land und die ganze Welt hat sich vom Schicksal eines einzigen Mannes abhängig gemacht – und plötzlich wird sichtbar, wie sehr alles an einem Haar hängt und wie hohl der Boden unter der politischen Ordnung in Israel ist, die man als die einzige Demokratie im Nahen Osten zu bezeichnen liebt.
Ganz falsch ist diese Bezeichnung nicht. Der Erfinder des politischen Zionismus, Theodor Herzl, kam aus dem österreichischen Liberalismus, von dort nahm er den Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts und mit ihm das Konzept der parlamentarischen Demokratie. Seit der Gründung des Judenstaates hat sich das selbst unter den schwierigen Bedingungen einer Masseneinwanderung als lebensfähig erwiesen. Die im Zeitraum weniger Jahre nach Israel eingeschleuste Bevölkerung kam aus Europa, wo die demokratische Tradition soeben durch ihre tiefste Krise gegangen war, und aus den arabischen Ländern, wo eine solche Tradition nie bestanden hatte. Doch die Gewaltenteilung, Kennzeichen der Demokratie – eine wirksame Legislative, ein unabhängiges Rechtswesen, eine funktionsfähige Regierung – standen selbst in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzung niemals in Frage.
Das ist indessen nur ein Teil der Wahrheit. Die israelische Demokratie hat eine Schattenseite, die man nicht verdrängen darf. Denn in ihrer Verdrängung liegt ein gefährliches Zerstörungspotenzial.
Rechtsstaat oder Diktatur?
Fast 38 Jahre – zwei Drittel der Zeit, seit der es den Judenstaat gibt – herrscht Israel in den Gebieten, die es im Sechstagekrieg erobert hat. Eine Übergangskonstellation droht sich zu verewigen, von der alle Beteiligten wissen, dass sie unhaltbar ist. Weder die Arbeiterpartei, die bis 1977 die Regierung bildete, noch der Likud haben die Gebiete annektiert; und auch die arabischen Länder, die den Sechstagekrieg führten, erhoben keinen Anspruch auf sie: Ägyptens Staatspräsident Anwar Sadat schloss Frieden mit Begin, ohne den Gaza-Streifen zurückzufordern; Jordaniens König Hussein schloss Frieden mit Rabin und verzichtete auf die Westbank.
Das taten die beiden arabischen Führer nicht deshalb, weil sie heimlich zu Zionisten geworden waren, sondern weil in den Gebieten eine Bevölkerung lebt, der man gern den Namen „Palästinenser“ gibt – und sonst nichts. Hussein sah in Jassir Arafat einen Konkurrenten seines haschemitischen Königshauses; im Schwarzen September 1970, dem palästinensischen Volkskrieg, vertrieb er ihn in den Libanon. Drei Jahre später führte Anwar Sadat seinen Oktoberkrieg nicht für den Gaza-Streifen und dessen verarmte Bevölkerung, sondern nur für den ägyptischen Sinai.
In den besetzten Gebieten brannte nicht nur eine arabische, sondern auch eine jüdische Wunde. Als Ben Gurion den Teilungsplan der Vereinten Nationen akzeptierte und 1948 den Staat Israel ausrief, errichtete er ihn auf einem Gebiet, das keine wirkliche Tradition besaß. Weder Haifa noch das erst im 20. Jahrhundert gegründete Tel Aviv erweckten biblische Assoziationen, und selbst das jüdische Jerusalem, aus dem Unabhängigkeitskrieg hervorgegangen, war seines Herzstücks beraubt: des Tempelbergs.
Das änderte sich 1967. Die Orte der Bibel – Sichem, Hebron und Jericho, vor allem aber das alte Jerusalem, dem der Zionismus seinen Namen verdankte – waren wieder zugänglich. Erst mit ihnen gewann die Nationalbewegung der Juden in jenem Jahr der Euphorie ihren eigentlichen Sinn. Im Schatten des Holocausts hatte Ben Gurion den Zionismus nur halb verwirklicht; aus jüdischer Sicht hatte er erst jetzt – mit der „Befreiung“ von Jerusalem und Gaza, Judäa und Samaria – sein Ziel erreicht.
Für die israelische Demokratie war das freilich kein gutes Omen. Wo Real-politik sich mit religiösem Eifer verband und zum nachgeholten Messianismus mutierte, konnte sie nicht gedeihen. Der später ermordete Rabbiner Meir Kahane, der für eine ethnische Säuberung der Gebiete plädierte, sprach es offen aus: Die Demokratie war eine griechische Erfindung, in der Bibel gab es sie nicht.
Da hatte er Recht, und so sieht die israelische Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten seither auch aus. Den Palästinensern wurden die Privilegien einer Demokratie, wie sie im israelischen Kernland üblich sind, nicht zugestanden. Die Siedlerbewegung entwickelte sich zur ethnozentrischen Diktatur über eine andere Bevölkerung, und sie musste es werden, weil Diktaturen auf Lügen beruhen.
Die erste Lüge war die pseudoreligiöse Anmaßung israelischer Ideologen, die vorgaben, ins Land der Verheißung zurückgekehrt zu sein. Das jedenfalls war der stillschweigende Konsens, und mit der Ausnahme Ben Gurions, der Ende der sechziger Jahre schon keinen Einfluss mehr hatte, widersprach ihm lange kaum einer der maßgebenden Politiker. Keiner der Premierminister, die das Siedlungswerk auf die eine oder andere Weise vorantrieben – Golda Meir und Jitzchak Rabin, Menachem Begin und Jitzchak Schamir, Schimon Peres und Benjamin Nethanjahu, Ehud Barak und Ariel Scharon – war religiös und glaubte an dieses Argument; alle ließen es nur aus taktischen Gründen gelten und halfen so, es zu einem nicht immer ausgesprochenen, aber unterschwellig immer spürbaren Dogma israelischer Politik zu machen.
Die zweite Lüge ergab sich aus der ersten. Es wurde so getan, als wäre die Besiedlung der besetzten Gebiete die eigentliche Erfüllung des Zionismus, ein nationales Projekt, das von einer großen Mehrheit der Israelis getragen wurde. In Wirklichkeit haben im Gaza-Streifen und der Westbank nie mehr als 200 000 Israelis gelebt – kaum drei Prozent der Bevölkerung. Ihnen gelang es, über Jahrzehnte den öffentlichen Diskurs des Landes zu bestimmen. Aus einer Manipulation der Medien und der politischen Machtzentren gewannen die Nationalisten ihr automatisches Vetorecht gegen jede Alternative des territorialen Kompromisses, und als die Fassade seit Anfang der neunziger Jahre einzustürzen begann, verteidigten sie das Dogma mit Gewalt: Der religiöse Fanatiker Jigal Amir erschoss Jitzchak Rabin – den General, der 1967 als Oberbefehlshaber der israelischen Armee die Gebiete erobert hatte und der nun, als Premierminister, einen Frieden mit den Palästinensern anzusteuern versuchte, um die Schäden seines Sieges wieder gutzumachen.
Ein Mann für alle Jahreszeiten
Als er Jassir Arafat im September 1993 auf dem Rasen des Weißen Hauses die Hand schüttelte, hatte Rabin an ein bis dahin unantastbares Tabu gerührt, und zwei Jahre später bezahlte er diese Tat mit seinem Leben. Vom Schock dieses Mordes hat sich Israel ein Jahrzehnt lang nicht erholt. Die Politik des Landes kam ins Schleudern – zunächst brachte der Hardliner Netanjahu den Friedensprozess zum Erliegen, dann versuchte Barak ihn gewaltsam wieder in Gang zu setzen, und sein Versuch endete in der zweiten Intifada.
Barak musste frühzeitig zurücktreten, und zu seinem Nachfolger wurde im Februar 2001 Ariel Scharon gewählt. Er blieb fünf Jahre im Amt, und am 18. Dezember zeigte die Angst um seine Gesundheit, wie sehr seine Macht inzwischen gewachsen war. Es galt als sicher, dass er die für den März 2006 ausgeschriebenen Wahlen mit großer Mehrheit ein drittes Mal gewinnen würde. Aber ein Blick auf die Rolle, die der ehemalige Panzergeneral seit Jahrzehnten in der Geschichte seines Landes gespielt hat, ließ in Wahrheit kaum Aufschlüsse über seine politischen Absichten zu.
Als Anwar Sadat im Oktober 1973 seinen Überraschungsangriff startete, drohte Israel für einige Tage die militärische Niederlage. Sie wäre der Vernichtung gleichgekommen, und es war Scharon, der damals an der Spitze seiner Truppen den Suez-Kanal überquerte. Er trug den Krieg in Feindesland, kesselte Ägyptens Dritte Armee ein und sicherte damit den kriegsentscheidenden Sieg an der Südfront. Es war seine größter Augenblick, aber wie über vielem in seiner Karriere liegt ein Schatten auch über Scharons Sternstunde. Denn sein Vorstoß über den Kanal war von der Heeresleitung nicht genehmigt worden, er hatte ihn auf eigene Faust unternommen und Glück gehabt. Fotos aus jener Zeit zeigen ihn mit einer leichten Kopfverletzung: auf seiner Stirn, unter dem damals noch blonden Haar, ein weißer Verband, darunter die strahlenden Augen des Siegers. So, in glorreicher Zweideutigkeit, hat er sich dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt – als Retter in der Not, der im letzten Augenblick auftritt, wenn auch ein wenig außerhalb der Legalität.
1973 hatte er Glück, aber das war nicht immer so. Neun Jahre später, im Schatten des ersten GolfKriegs und des Friedensvertrages mit Ägypten, schickte er als Menachem Begins Verteidigungsminister israelische Truppen in den Libanon, um seinen Erzfeind Jassir Arafat zu verjagen. Auch diese Aktion weitete er ohne die Genehmigung der Regierung aus. Er ließ das Massaker zu, das die Phalangemilizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila verübten, wurde dafür später seines Amtes als Verteidigungsminister enthoben und durfte es seither nicht mehr bekleiden. Die Folge war, dass er Israel mit der islamistischen Hisbollah-Bewegung einen Feind einhandelte, der unversöhnlicher ist, als es Arafat je war – und außerdem den längsten Krieg in der Geschichte Israels. Erst 18 Jahre nach der Invasion konnte Ehud Barak im Sommer 2000 die israelischen Truppen wieder aus dem Libanon abziehen.
In der Grauzone zwischen Demokratie und Diktatur war Ariel Scharon ein Mann für alle Jahreszeiten. Soeben hatte eine ganze Welt ihm zum Gaza-Abzug gratuliert, einem Bravourstück, das vor einem Jahr noch undenkbar gewesen war und das nur einer wie er hatte durchführen können – mit machiavellistischer Entschlossenheit, die auch diesmal etwas außerhalb der Legalität stand. Auf dem rechten Flügel des Likuds klagte man die Statuten ein, die er beiseite geschoben hatte, als er den Abzug anordnete, ohne ihn von der Partei absegnen zu lassen, in deren Namen er die Regierung bildete. Ironie der Politik: Um eine undemokratische Besatzung des Gaza-Streifens zu verewigen, bestanden Scharons Gegner im Likud auf dem Prinzip der Demokratie.
Aber Scharons Schwert war zweischneidig. Im Sommer 2005 trat er als Friedensengel auf, und noch fünf Jahre zuvor, im September 2000, hatte er unter massivem Polizeischutz den Tempelberg bestiegen, die zweite Intifada ausgelöst und damit nicht nur die Regierung Barak gestürzt, deren Nachfolge er antrat. Es war auch der Beginn der blutigsten Phase im Kampf zwischen den beiden Völkern – etwa 1000 Israelis sind seither den palästinensischen Selbstmordattentaten, 3500 Palästinenser den israelischen Gegenschlägen zum Opfer gefallen. Von Rabins Abkommen aus dem Jahr 1993 war wenig übrig geblieben. Scharon selbst hatte die Unruhen provoziert, und dann nutzte er sie aus, um die Palästinenische Autonomiebehörde systematisch zu unterhöhlen.
Chaos – und welche Zukunft?
Alles schien festgefahren zu sein. Doch plötzlich, in der zweiten Jahreshälfte 2005, fielen die Entscheidungen wie Dominosteine. Im Sommer nahm Scharon den Gaza-Abzug vor; Anfang November wurde nicht Schimon Peres, der bis dahin als Konsensfigur galt, sondern der Gewerkschaftsboss Amir Peretz zum Chef der Arbeiterpartei gewählt; und bald darauf trat der Vorsitzende des Likuds aus seiner eigenen Partei aus: Scharon gründete eine neue Liste und nannte sie „Kadima“ (Vorwärts), ein Name, der nicht zufällig an linke Traditionen erinnerte. Türen knallend verabschiedete er sich vom rechten Flügel des Likuds, der monatelang versucht hatte, den Gaza-Abzug zu verhindern, nahm die halbe Regierung mit und trat das Chaos los. Links schloss kein Geringerer als Schimon Peres zu ihm auf, der die Arbeiterpartei verließ und einige Minister und Exminister mitbrachte; rechts brachen dem angeschlagenen Likud noch weitere Zacken aus der Krone, und besonders grotesk tat sich dabei Verteidigungsminister Schaul Mofas hervor. Wollte er sich gerade noch zum Führer der Rumpfpartei und Nachfolger Scharons küren lassen, folgte er bald darauf seinem Herrn und Meister zu neuen Abenteuern.
Die politische Landschaft in Israel hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der Likud – in einem langen Prozess der ideologischen Polarisierung zur größten Partei des Landes angewachsen – ist zusammengeschmolzen und unter der Führung Benjamin Netanjahus wieder zum Sammelbecken anachronistischer Chauvinisten geworden, die den Palästinensern auch heute noch das Recht der Selbstbestimmung absprechen. Die Lügen der Diktatur gedeihen auf dem Boden der Verdrängung, und wo es nicht anders geht, ist er nur mit Gewalt aufzubrechen: Der Sturz der übermächtigen Regierungspartei war unvermeidlich, wenn endlich etwas geschehen sollte.
Wer das Dogma nach Jahrzehnten der Tabuisierung ungestraft angreifen wollte, musste unter dem Schutz der Mythologie stehen. Nicht nur als Retter in der Not war Scharon seit Jahrzehnten eine vertraute Déjà-vu-Gestalt gewesen; im gleichen Jahr 1973, in dem er den Suez-Kanal überquerte, war er auch der Mann, der Begins kleine Rechtspartei aus ihrem Provinzialismus herausholte, sie in den großen Likud verwandelte und damit den Wahlsieg von 1977 vorbereitete. Scharons hohes Alter, sein schwächster Punkt, war in Wirklichkeit auch seine Stärke – er war die strafende Vaterfigur des Likuds, zürnend hatte er sich jetzt von seinen undankbaren Söhnen abgewandt.
Als er den Gaza-Abzug vornahm, platzte die erste Lüge – nicht das ganze Volk in Israel, sondern nur eine lautstarke Minderheit steht auf der Seite der Siedlerbewegung. Vor dem Abzug hatte man auf der Rechten den Bürgerkrieg prophezeit, aber nichts davon trat ein. Dankbar sah eine schweigende Mehrheit zu, wie das Dogma einer fanatischen Splittergruppe in die Brüche ging.Denn hinter der Ideologie der Siedlerbewegung verbirgt sich noch eine zweite Lüge: Sie ist nicht die Erfüllung des Zionismus, sie ist seine Zerstörung. Als der Staat Israel gegründet wurde, ging es darum, die Juden aus der Zerstreuung zu holen und ihnen ein Territorium zu geben, in dessen Grenzen sie geschützt waren. Die Siedler aber streben das genaue Gegenteil an: Sie brechen die im Unabhängigkeitskrieg von 1948 mühsam erkämpften Grenzen wieder auf und treten in eine neue Diaspora hinaus, die sie nach 2000 Jahren doch gerade beenden wollten.
Dies ist seit 38 Jahren der Fehler Israels, und er muss korrigiert werden. Nach den Wahlen im März hätte Ariel Scharon vielleicht die Macht dazu gehabt, aber hätte er sie auch genutzt, hätte er auch in Judäa und Samaria, der Westbank, gehandelt, wie er es im Gaza-Streifen getan hat? Hätte er die Grenzen seines Landes wieder geschlossen und die Spaltung seines Volkes wieder aufgehoben, hatte er eingesehen, dass sich mit religiösem Eifer und den Versatzstücken der Diktatur kein Staat machen lässt?
Offene Fragen
Diese Fragen werden für immer offen bleiben. Am Mittwoch, dem 4. Januar 2006 – gegen zehn Uhr abends, als die Nachrichten der Fernsehprogramme schon beendet waren – tauchte auf den Bildschirmen wieder das Hadassa-Krankenhaus auf. Und bald auch der Wagen, der Ariel Scharon zum zweiten Mal in die Notaufnahme brachte. Am Tag darauf hätte er ohnehin eingeliefert werden sollen (ein kleiner, gefahrloser Eingriff war geplant), aber es war anders gekommen. Er hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten, und diesmal war es kein Fehlalarm.
Als man ihn aus der Narkose holte, erwachte er nicht, und ein Stück erstaunlicher Massenpsychologie war zu beobachten: Ein ganzes Land erstarrte, leistete vorweggenommene Trauerarbeit um seinen gefallenen Helden, nahm langen Abschied von seinem Mythos.
„Kadima“, die Schöpfung Ariel Scharons, die es vor vier Monaten noch nicht gegeben hat, ist plötzlich verwaist, und auch das ist erstaunlich: Alle Umfragen prophezeien ihr einen haushohen Sieg in den kommenden Wahlen. Unter den Parteiruinen, die Scharons Machtakt links und rechts zurückgelassen hat, ragt sie in einsamer Höhe empor.
Das Volk belohnt die Getreuen des Helden – und wohin werden sie uns führen?
In der Wiederholung eines Ereignisses, so wissen wir es seit Sigmund Freud, verbirgt sich das Unheimliche. Als die Notaufnahme des Krankenhauses am 4. Januar abermals auf den Bildschirmen erschien, spürte man es auf der Kopfhaut und wusste auch sofort, warum: Beim ersten Mal, am 18. Dezember 2005, hatte man verdrängt, was für einen Augenblick sichtbar geworden war, hatte man sich allzu leicht und allzu dankbar beruhigen lassen, hatte man dem Wunsch vor der drohenden Realität den Vorzug gegeben.
Jetzt tauchte die Realität zum zweiten Mal auf und ließ sich nicht mehr verdrängen. Das ist erschreckend, und zugleich heilsam. Verdrängungen, so lehrt uns die israelische Geschichte, müssen aufgehoben werden. Wir müssen mit der Wahrheit leben: Es gibt keine mythologische Gestalt mehr, hinter der wir uns verstecken können, keinen Vater, der die Entscheidungen für uns fällt. Wir selbst, die Töchter und Söhne, tragen Verantwortung für unsere Zukunft – in einer Demokratie, die ihren Schock überwinden muss, um ihre Fehler zu korrigieren.
Auch die Fehler des Vaters.
JAKOB HESSING geb. 1944, ist Professor für deutsche Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er veröffentlichte Studien zu Else Laker-Schüler und Sigmund Freud. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Mir soll’s geschehen“
und „Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns“. Er ist ständiger Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 80 - 85