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01. März 2016

Japan: Verpasste Chance

Premier Shinzo Abe ruft oft und gerne dazu auf, sein Land müsse wieder eine Führungsrolle in der Welt übernehmen. Doch in Sachen Klima bremst Tokio kräftig. Japans Energiewende kommt eher von unten.

Japan macht Kyoto keine Ehre. Die alte Kaiserstadt steht mit ihrem Namen für das erste Klimaabkommen der Geschichte. Doch die Regierung von Premier Shinzo Abe hat ihre Emissionsziele für die Klimakonferenz in Paris derart verwässert, dass sich die Erde, wenn alle Staaten so wenig zum Klimaschutz beitrügen wie Japan, bis zum Ende des Jahrhunderts um drei bis vier Grad Celsius erwärmen würde. Das wäre eine Katastrophe. Ein ­Pionier ist zum Nachzügler geworden. Und wenn er seine Politik nicht ändert, wird er womöglich nicht einmal seine inadäquaten Ziele erreichen.

Während die japanische Industrie aus wirtschaftlichen Überlegungen schon vor Jahrzehnten begonnen hat, ihre Effizienz zu optimieren, hat Energiesparen nicht zu den Zielen der Politik gehört. Bis zur Reaktorkatastrophe von Fuku-
shima vor fünf Jahren warben Japans Elektrizitätsgesellschaften, zehn regionale Monopolisten, sogar für mehr Stromkonsum. Tokio wollte seine früheren Klimaziele nie mit Sparen erreichen, sondern mit immer mehr Kernenergie. Bis 2030 hätte der Anteil des Atomstroms auf 50 Prozent steigen sollen. Jegliche Skepsis wurde unterdrückt, Expertenberichte über den mangelhaften Tsunamischutz der Kernkraftwerke, Warnungen über ihre Sicherheitsmängel und Schlampereien in den Anlagen wurden ignoriert. Die Stromfirmen propagierten den Mythos einer absoluten Sicherheit der Kernenergie, und die Liberaldemokraten, über Jahrzehnte an der Macht und auch finanziell eng mit der Kernenergie verbandelt, beteten dies gerne nach. Die Oppositionsparteien machten mit: Sie erhielten dafür Geld von den Gewerkschaften der AKW-Arbeiter. Alternative Energien wurden behindert und schlechtgeredet – insbesondere die Geothermie, von der es mit 108 aktiven Vulkanen mehr als genug gäbe.

Der Glaube an den Mythos der sicheren Kernkraft ist gebrochen, wenigstens in der Bevölkerung. Zwei Drittel der Japaner sind für den sofortigen oder allmählichen Ausstieg. Die Demokratische Partei, die von 2009 bis 2012 regierte, machte sich gegen Ende ihrer Amtszeit halbherzig daran, die Forderung der Wähler zu übernehmen. Doch die USA setzten sie unter Druck, die Kerntechnologie nicht aufzugeben. Washington fürchtet, dass sich andernfalls China und Russland einen Vorsprung in der auch militärisch relevanten Technologie erarbeiten könnten. Die Liberaldemokraten, seit drei Jahren wieder an der Macht, haben sich die amerikanischen Forderungen zu eigen gemacht – auch mit dem Argument, ein Japan mit AKWs sei eine virtuelle Atommacht. Abe drückt das Wiederanfahren von AKWs gegen den Willen der Japaner durch. Um die Sicherheit der AKWs zu bestätigen, verletzt die neue Atomaufsicht sogar ihre eigenen Regeln.

Bisher sind drei Reaktoren wieder am Netz, weitere werden folgen. Dabei schreckt Tokio nicht vor unschönen Tricks zurück. In der Präfektur Fukui hatten Anwohner vor Gericht ein Wiederinbetriebnahme-Verbot für das AKW Takahame erstritten. Die Stromfirma Kepco ging in die Berufung. Kurz vor der Neuverhandlung wurden ohne Erklärung die Richter ausgetauscht, ortsansässige Juristen mussten Platz für Richter aus Tokio machen. Sie entschieden zugunsten von Kepco.

Gleichwohl scheint sich selbst Abe nicht sicher, welchen Kernenergie­anteil er erzwingen kann. Deshalb hat er Japans Klimaziele 2015 massiv reduziert: Der CO2-Ausstoß soll bis 2030 um 26 Prozent gegenüber 2013 reduziert werden; das ist weniger, als Japan im Kyoto-Protokoll 1997 zugesagt hatte. Dazu sollen 20 bis 22 Prozent des Stroms von AKWs generiert werden. 2013 produzierte Japan fast ausschließlich Strom aus fossilen Brennstoffen. Zudem reduziert Japan seinen nominellen CO2-Ausstoß mit Carbon-Handel. Es exportiert relativ „saubere“ Kohlekraftwerke in Entwicklungsländer und gewinnt dadurch CO2-Kredite. Im eigenen Land plant Japan, der größte Kohleimporteur der Welt, 41 neue Kohlekraftwerke. Selbst nach Paris. Und obwohl Strom aus Kohle das Klima erheblich mehr belastet als Strom aus Erdgas, gewährt der japanische Staat Steuervergünstigungen auf Kohleeinfuhren.

Der Staat hat aus Fukushima nichts gelernt, er hält an der Kernkraft fest wie am Walfang, einem anderen Anachronismus. Tokio begünstigt Kohle gegenüber Gas und erneuerbaren Energien – auch, weil Kohlekraft, anders als vor allem Sonnenenergie, von den großen Stromfirmen produziert wird. Abes Regierung hat außerdem den Einspeisetarif für Sonnen- und Windenergie reduziert, den ihre Vorgänger einführten. Zudem lässt sie es den Strommonopolisten durchgehen, wenn diese die Einspeisung von Sonnenstrom aus „technischen Gründen“ verweigern, weil das Netz überfordert sei – in Wahrheit, weil sie Netzkapazität für die Kernenergie reservieren wollen. Mehrere der großen Stromfirmen wären pleite, wenn sie ihre stillgelegten AKWs definitiv abschreiben müssten. Tepco, die Betreiberin von Fukushima, sowieso. Auch die beschlossene Entkoppelung von Stromproduktion und Netzbetreibern droht deshalb, von der Regierung verwässert zu werden. Sie tut alles, die Elektrizitätsfirmen am Leben zu erhalten.

Ganz anders die japanische Bevölkerung, die Industrie und viele Gemeinden. Die Japaner haben zwar wenig Sinn fürs Energiesparen: Sie isolieren ihre Häuser nicht und lassen geparkte Autos stundenlang für die Klimaanlage oder die Heizung laufen. Aber sie haben Sinn für Innovationen: Wer übers Land fährt, stößt auf immer mehr große Sonnenkollektorenanlagen. Auf den Dächern von Privathäusern werden Solarzellen installiert. Mit Paris hat das wenig zu tun, mit Fukushima und dem tiefen Misstrauen gegenüber Zentralmacht und Strommonopolisten dagegen viel. In Japan kommt die Energiewende von unten; und sie kommt schneller als erwartet. Die Regierung bremst sie eher, als dass sie sie fördert. Sie schützt die Stromkonzerne gegen einen Zusammenbruch ihres Geschäftsmodells.

Premier Abe ruft oft und gerne dazu auf, Japan müsse wieder eine Führungsrolle in der Welt übernehmen. Kein Bereich würde sich dazu so sehr eignen wie die künftige Energierevolution. Japans Forschung und Industrie verfügen über die notwendigen Kapazitäten. Nippon war einst Marktführer der Solarenergie, Toyota der übrigen Autoindustrie mit dem Hybridantrieb anderthalb Jahrzehnte voraus; inzwischen fahren bereits wasserstoffbetriebene Toyotas durch Tokio. Wenn Abe Japan eine Führungsrolle zugedenken wollte, müsste er sein Land zum Modell einer Post-Karbon-Gesellschaft machen. Stattdessen rutschte Tokio beim Klimagipfel in Paris unter ferner liefen ab. Die japanischen Medien redeten die Ergebnisse von Paris schön und die Regierung verteidigte ihre unzureichenden Klimaziele. Japan verpasst seine beste Chance der vergangenen Jahre.

Christoph Neidhart ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 63-65

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