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01. Nov. 2021

Italiens Comeback

Die Wende in Europas Dauerkrisenland verbindet sich vor allem mit einem Namen: „Super Mario“ Draghi. Der populistische Furor, der das Land lange gelähmt hat, scheint erkaltet - doch ist das von Dauer?

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Bild: Mario Draghi mit Ursula von der Leyen in Cinecittà bei Rom
Mario Draghi wird ernst genommen, schon seiner Reputation wegen: Mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Brüssels grünem Licht für Italiens wirtschaftliche Wiederaufbau- und Reformpläne.
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Eine Rückblende zu Beginn: Im Mai 2018 wählten die Italienerinnen und Italiener ein neues Parlament. Die Partei Movimento 5 Stelle („Fünf Sterne“) holte 32,7 Prozent, die Lega 17,4 Prozent. Das sind zusammen 50,1 Prozent. Beide Parteien hatten im Wahlkampf und auch in den Jahren zuvor mit einem Austritt Italiens aus der EU kokettiert. Nach ihrem Wahlerfolg bildeten sie eine Koalitionsregierung. Damit gab es zum ersten Mal in einem Gründungsland der EU eine populistische Regierung mit ausgeprägt antieuropäischen Zügen.



Der Zeitpunkt war äußerst heikel. 2016 hatte eine knappe Mehrheit der Britinnen und Briten für einen Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt, und jetzt drohte ein weiteres großes Land, sich von der EU zu verabschieden. In Brüssel und in den europäischen Hauptstädten schrillten die Alarmglocken. Jetzt schien Wirklichkeit zu werden, was viele schon seit Langem befürchteten: Italien, seit Jahren im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, geschwächt von chronischer politischer Instabilität, zerfressen von Korruption, ausgedünnt durch die massive Emigration junger, talentierter Menschen – dieses demoralisierte, wütende, orientierungslose Italien schien entschlossen, den Weg des „Italexit“ einzuschlagen.



Europameister und Olympiagold

Seit Februar 2021 sind die Fünf Sterne und die Lega Teil der Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi. Kein kritisches Wort gegenüber der EU kommt den Vertretern dieser Parteien mehr über die Lippen. Sie tragen die umfassenden Reformen des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank ohne größeres Murren mit.



Die Erfolge können sich sehen lassen. Die italienische Volkswirtschaft wächst derzeit schneller als die deutsche. Die EU-Kommission prognostiziert für das das Jahr 2022 ein Wachstum von über 5 Prozent. Italienische Aktien und Anleihen sind für Investoren wieder attraktiv geworden. Die Impfquote gegen das Coronavirus ist höher als in Deutschland.



Und dann feierte Italien außerdem eine ganze Reihe sportlicher Erfolge, die für die geschundene Seele der Nation wie Balsam wirkten. Fußball-Europameister, Goldmedaille beim 100-Meter-Lauf, der olympischen Paradedisziplin. Insgesamt 40 Medaillen brachten italienische Sportlerinnen und Sportler aus Japan nach Hause – noch nie hatten Italiens Athleten bei Olympischen Spielen so viel Edelmetall gewonnen. Dazu wurde Italien auch noch Europameister im Volleyball.



Angesichts dieser Bilanz kann man durchaus von einem Comeback Italiens sprechen. Wir sind wieder da! Wir sind wieder wer! Das ist die Botschaft aus Rom. Die Frage ist: Wie war das möglich? Und können diese Erfolge von Dauer sein?



Am 13. Februar 2021 wurde Mario Draghi zum italienischen Ministerpräsidenten gewählt. Italien hatte zu diesem Zeitpunkt 120 000 Pandemietote zu beklagen, so viele wie kein anderes europäisches Land. Das Bruttoinlandsprodukt war innerhalb eines Jahres um rund 9 Prozent geschrumpft. Ausgerechnet ein Mann, der wie kaum ein anderer für die Europäische Union steht, sollte dieses Land wieder aufrichten: der ehemalige EZB-Präsident und „Retter“ des Euro.



Der Banker Draghi ist ohne jeden Zweifel ein wirtschaftspolitisches Schwergewicht, ein international bestens vernetzter und geschätzter Technokrat. Das ist von entscheidender Bedeutung. Denn in Brüssel wurde in vergangenen Jahren kaum ein italienischer Ministerpräsident wirklich ernst genommen. Aus Sicht der EU ist das verständlich: Zu häufig wechselte das Personal in diesem Amt, zu erratisch waren die jeweiligen Amtsinhaber, zu leichtgewichtig und zu unberechenbar.



Zeitbombe der EU

Spätestens seit Silvio Berlusconi im Jahr 1994 das Amt des Premierministers übernahm, wurde Italien vor allem als Problem wahrgenommen: eine Zeitbombe mit einer zwar langen, aber brennenden Zündschnur. Rutschte Italien nämlich in die Zahlungsunfähigkeit, würde man es auch mit vereinten europäischen Kräften nicht retten können. Zu groß ist der Schuldenberg der drittgrößten Volkswirtschaft der EU, der sich über die (vorpandemischen) Jahre angehäuft hat. In Brüssel drückte man Italien die Daumen und verschloss beide Augen vor seiner Reformunfähigkeit. Irgendwie, so hoffte man, irgendwie werde das schon gut gehen – aber ein flaues Gefühl im Magen blieb immer. Das römische Regierungspersonal diente nicht zu seiner Besänftigung.



Mario Draghi dagegen wird ernst genommen, schon seiner Karriere und seiner Reputation wegen. „Super Mario“ nennen ihn seine Landsleute gerne. In der tiefsten Krise Italiens seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschien er wie die einzige Hoffnung des Landes. Wenn jemand die Sache drehen konnte, dann war er es – er hatte die Fähigkeiten, die Kontakte, die Ideen, den Willen. Vor allem aber hatte er das ­Momentum der Geschichte auf seiner Seite.



Die EU-Mitgliedstaaten hatten in der Pandemie nach anfänglichen Tendenzen der Renationalisierung begriffen, dass sie für die Bekämpfung der Folgen der Pandemie Solidarität üben müssten, wenn die Union überleben sollte. Im Juli 2020 schuf die EU den Wiederaufbaufonds in Höhe von insgesamt 750 Milliarden Euro, NextGenerationEU genannt und per gemeinsamer Kreditaufnahme finanziert. Den Löwenanteil aus dem Fonds sollte das Land erhalten, das am schwersten getroffen war: Italien. 192 Milliarden Euro würden nach Rom fließen, im Gegenzug musste die italienische Regierung tiefgreifende Reformen umsetzen: Justiz, Bildung, Steuern, Wettbewerbsrecht, Umwelt – nichts war ausgenommen.



Um es unumwunden zu sagen: Draghi sollte Italien von Grund auf erneuern. Dafür würde er über so viel europäisches Geld verfügen wie kein italienischer Ministerpräsident vor ihm. Die sich bis vor Kurzem noch antieuropäisch gerierenden Fünf Sterne und Lega mussten angesichts der so massiven europäischen Solidarität und der Popularität Draghis unter Italiens Bevölkerung umsteuern. Mit einem ­Anti-EU-Kurs hätten sie ihre Stimmen nicht maximieren können. Im Gegenteil.



Mit Draghi zog auch eine neue Sprache in den römischen Regierungspalast ein. Der ehemalige Zentralbanker pflegt einen für italienische Verhältnisse absolut neuen Kommunikationsstil. Er sprach wenig, und wenn er etwas sagte, dann blieb er so sachlich, knapp und präzise, dass es manchmal schmerzte. Den Impfskeptikern etwa sagte er kurz und knapp: „Wenn Sie sich nicht impfen lassen, erkranken Sie und können sterben. Lässt man sich nicht impfen, infiziert man sich, steckt jemanden an und dieser stirbt.“ So einfach war das.



Wortkarg und präzise

Bei Draghi gibt es keine Drumherum-Reden, er zielt direkt auf den Punkt, den er machen will. Der Mann, der 2011 mit dem dürren Satz „Whatever it takes“ den Euro vor dem Zusammenbruch gerettet hatte, blieb sich in seiner präzisen Wortkargheit treu. Wir sind nicht da, um endlos zu reden, wir sind da, um Probleme zu lösen. Das war Draghis Botschaft an das italienische Volk.



Er zögerte nicht und ließ den Worten Taten folgen. Kaum im Amt, ersetzte er den für die Coronavirus-Impfkampagne zuständigen Beamten durch den Logistik­chef der italienischen Armee, einen General. Er brachte ein Dekret auf den Weg, wonach Gesundheitspersonal, das sich nicht impfen ließ, suspendiert wurde. Wenige Wochen nach seiner Vereidigung legte er einen umfassenden, detaillierten Reformplan für das Land vor, den PNRR (Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza) vor. Der PNRR ist die Voraussetzung für die Auszahlung der Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds.

Das Geld aus Brüssel, die Reputation Draghis, seine für italienische Verhältnisse untypische Kommunikation, seine Entschlossenheit: All das hat zu Italiens Comeback zweifellos beigetragen. Doch es reicht nicht, um es zu erklären.



Faktor Mattarella

Ein anderer wichtiger, aber oft etwas übersehener Faktor ist die Widerstandsfähigkeit der italienischen demokratischen Institutionen. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, denn Italien steht ja im Ruf, dauerhaft instabil zu sein – kein Wunder bei 67 Regierungen seit 1946. Bei genauerer Betrachtung ist aber zu erkennen, dass Italiens Institutionen in den vergangenen Jahren dem Ansturm der ­Populisten erfolgreich widerstanden haben.



Personifiziert wird diese Widerstandsfähigkeit von Staatspräsident Sergio Mattarella. Nach dem Wahlsieg der ­Populisten 2018 ließ er niemals einen Zweifel darüber aufkommen, dass Italien fest zur EU-Mitgliedschaft stand. Als Fünf Sterne und Lega damals die Regierung bildeten und sie den Euro-Gegner Paolo Savona zum Wirtschaftsminister machen wollten, lehnte Mattarella die Personalie mit Blick auf Italiens europäische Verankerung ab. Daraufhin übten die Populisten großen Druck auf ihn aus. Der damalige Fünf-­Sterne-Chef und heutige Außenminister, Luigi Di Maio, verlangte wegen der Ablehnung Savonas sogar, ein Impeachment-Verfahren gegen den Staatspräsidenten einzuleiten. Im Stile eines Putschisten rief er seine Anhänger gar zu Demons­trationen gegen das Staatsoberhaupt auf.



Man sollte an dieser Stelle erwähnen, dass sich die Fünf Sterne von Anfang an als Anti-Systempartei verstanden. Mattarella blieb dennoch unbeeindruckt und setzte sich schließlich durch. Ja zur Fünf-Sterne-Lega-Koalition, Nein zu Savona. Anschließend versuchte der Präsident so gut er konnte, die Regierung auf dem europäischen Pfad zu halten. Und als sich ihm die Gelegenheit bot, brachte er einen Mann an die Spitze, an dessen europäischen Überzeugungen kein Zweifel bestand: Mario Draghi. Gewählt hat ihn das Parlament, mit der Bildung einer Regierung beauftragt hat ihn aber der Staats­präsident.



Ein weiterer, wichtiger Faktor für das Comeback Italiens ist die Schwäche der Parteien – und auch das ist ein Paradox. Wie kann ein Land erstarken, wenn seine Parteien schwach sind? Als Draghi die Regierung bildete, ließ er nie einen Zweifel daran aufkommen, dass er in den Schlüsselpositionen parteilose Fachleute seines Vertrauens einsetzen würde. Italiens sonst so selbstbewusste, eitle Parteiführer verhielten sich still. Sie hatten auch kaum eine andere Wahl. Staatspräsident Mattarella hatte deutlich gemacht, dass er nur eine Regierung akzeptieren würde, die nicht die parteipolitischen Machtverhältnisse widerspiegelte. Die neue Regierung musste auf der Höhe der Zeit sein. Und die verlangte nach einer nationalen Kraftanstrengung. Parteipolitisches Hickhack konnte man gewiss nicht gebrauchen.



Tatsächlich findet sich in Draghis Regierungsmannschaft kein einziger prominenter Parteiführer. Der Ministerpräsident und der Staatspräsident haben also die politischen Parteien gezähmt und sie gleichzeitig in die Verantwortung genommen. Damit haben sie ihr Destruktionspotenzial entschärft und ihnen doch eine Chance gegeben, mit ihren Aufgaben zu wachsen.



Ein Comeback von Dauer?

Draghi ist nicht der erste Technokrat, der in Zeiten der Not das Amt des ­italienischen Ministerpräsidenten übernimmt. Im Herbst 2011 stand Italien knapp vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Stabilität des Euroraums war akut bedroht. Der amtierende Ministerpräsident Silvio Berlusconi trat auf Druck der Europäischen Union zurück. Später sprach er von einem „Putsch“ der EU gegen ihn.



Der zweite Technokrat

Ein Technokrat kam als Retter ins Amt: Mario Monti. Ein hoch angesehener ehemaliger Wirtschaftsprofessor und Wettbewerbskommissar der EU. Mit harten Reformen rettete er Italien vor dem Bank­rott, doch die politischen Folgen war enorm. Nur zwei Jahre später, bei den Parlamentswahlen 2013, erreichten die Fünf Sterne aus dem Stand über 25 Prozent und zogen als zweitgrößte Fraktion ins Parlament ein. Die Bewegung war erst 2009 gegründet worden und hatte zum ersten Mal landesweit kandidiert. Die Fünf Sterne agitierten vehement gegen Brüssel, wetterten gegen Banken (auch gegen den damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi) und kokettierten mit dem Austritt Italiens aus dem Euro.



Im Herbst 2013 wurde Matteo Salvini zum Vorsitzenden der Lega Nord gewählt. Salvini begann die Partei neu auszurichten und gegen die EU und den Euro in Stellung zu bringen. Damit fuhr er einen Wahlerfolg nach dem anderen ein. Binnen weniger Jahre schoss die Lega von etwas über 3 Prozent Wählerzustimmung auf über 17 Prozent hoch.



Der Technokrat Mario Monti hatte Ita­lien zwar im Namen Europas gerettet, doch das Land entfernte sich während seiner kurzen Regierungszeit (November 2011 bis April 2013) in rasender Geschwindigkeit von eben diesem Europa. In der Sache vernünftige, notwendige technokratische Entscheidungen Montis erzeugten einen enormen politischen Backlash. Dieser drohte das gesamte System aus den Angeln zu heben.



Es gibt heute viele Gründe anzunehmen, dass es Draghi anders ergehen wird als Monti. Draghi hat es mit den Folgen einer Pandemie zu tun, nicht mit einer Schuldenkrise. Er hat so viel Geld zur Verfügung wie noch kein italienischer Ministerpräsident vor ihm. Die Krise, die Hilfsbereitschaft der EU, Draghis Autorität – all das hat die populistischen Parteien eingehegt.



Diese Zustimmung allerdings bedeutet nicht, dass die politischen Kräfte, die gestern noch die EU in ihrer bestehenden Form am liebsten zerschlagen hätten, sich mit dieser EU ausgesöhnt hätten. Denn bei all ihrem gefährlichen Unernst und trotz ihrer zerstörerischen Tendenzen zielten die Populisten auf einen realen Schwachpunkt der EU. Sie ist eine in Teilen technokratische Konstruktion mit erheblichen demokratischen Defiziten.



Technokratie versus Demokratie, das ist ein unauflösbares Gegensatzpaar der Europäischen Union. Es markiert die Spannweite des italienischen Comebacks. Der populistische Furor ist nur vorüber­gehend erkaltet, die Kälte technokratischer Entscheidungen kann ihn wieder entzünden – und Italien in seinem ­Wiederaufstieg bremsen.    



Ulrich Ladurner ist Auslandsredakteur der ZEIT und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen“, Edition Körber-Stiftung 2019.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 66-70

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