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25. Juni 2021

Überflieger oder Unterperformer?

Debatten über die EU werden oft eher mit heißem Herzen als mit kühlem Kopf geführt. Wie wäre es, wenn wir das „Unternehmen Europa“ einmal betriebswirtschaftlich überprüften? Eine Art Stärken-Schwächen-Analyse.

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Bild: Pro-EU Demo in Athen
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Agrarpolitik

Die Gemeinsame Agrarpolitik wurde 1957 beschlossen und ist damit die älteste gemeinsame Politik der Europäischen Union.

PRO: Die Bauern unterstützen und die Menschen mit sicheren und preiswerten Lebensmitteln versorgen: Das waren die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), als sie Ende der 1950er Jahre gestartet wurde. Die GAP gleict außerdem unterschiedliche Produktionsbedingungen in den verschiedenen Regionen Europas aus und sorgt so für faire Marktbedingungen. Diese Ziele sind im Wesentlichen erreicht worden – allerdings mit erheblichem finanziellen Aufwand. Das Budget der GAP ist heute so groß wie kein anderes innerhalb der Europäischen Union: Von 2021–2027 werden rund 378,5 Milliarden Euro in die Gemeinsame Agrarpolitik fließen, das ist nicht weniger als ein Drittel des gesamten EU-Haushalts.

CONTRA: In ihrer jetzigen Form wird die Gemeinsame Agrarpolitik vor allem wegen ihrer Direktzahlungen an Bauern kritisiert. Von den Flächenprämien profitierten große Betriebe, so der Vorwurf, während die Kleinbauern nicht in ausreichendem Maße unterstützt würden. Industriell betriebene Landwirtschaft wird also unter dem Strich stärker gefördert. Dazu passt es, dass Umwelt- und Klimaschutz bei der Verteilung der Gelder immer noch eine zu geringe Rolle spielen. Im GAP-Haushalt für die Jahre 2021–2027 sind zwar mehr finanzielle Mittel für ökologische Maßnahmen in der Landwirtschaft vorgesehen. Doch nach Auffassung der Kritiker reicht das nicht aus. In ihren Augen müsste die GAP komplett umgebaut werden, wenn die Europäische Union ihre selbstgesetzten Klimaziele erreicht wolle.



Außen- und Sicherheitspolitik

Die EU will auch nach außen als kollektiver Akteur auftreten – darum spricht sie von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

PRO: Das Selbstverständnis der Europäischen Union als internationaler Akteur kann man in den Verlautbarungen der EU nachlesen. Dort heißt es: „Die auf Konfliktlösung und internationalen Konsens ausgelegte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stützt sich vor allem auf die Mittel der Diplomatie und die Achtung der internationalen Regeln. Handel, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit spielen in den Außenbeziehungen der EU ebenfalls eine wichtige Rolle.“ Das klingt wunderbar friedlich und ist gleichzeitig ausgesprochen abgehoben von den realen Verhältnissen.

CONTRA: Die Welt ist für einen Akteur, der in außen- und sicherheitspolitischen Fragen so handelt wie die Europäische Union, etwas zu hart. Sprich: Die EU wird zwar gehört, aber ihr Einfluss bleibt doch beschränkt. Sie wird nicht gefürchtet, sie will auch nicht gefürchtet werden – sie möchte mit guten Argumenten überzeugen. Diese Argumente unterfüttert sie mit viel Geld. Mit fast 80 Milliarden Euro ist die Europäische Union weltweit der größte Geldgeber öffentlicher Entwicklungshilfe. Doch viel Geld, viel warme Worte und ehrliche Maklerdienste alleine bilden noch lange keine Sicherheits- und Außenpolitik. Das wird besonders in einer Zeit der verschärften Konkurrenz zwischen den Großmächten deutlich.

 

Bürokratie

Seit ihrer Gründung 1957 hat die EU ihre Zuständigkeiten deutlich ausgeweitet. Schwerpunkt der Regelungsaktivitäten ist die Wirtschaftspolitik, hinzu kommen Felder wie die Umwelt- oder die Agrarpolitik.

PRO: Die EU trägt dazu bei, dass ihre Mitglieder glaubwürdige Verpflichtungen eingehen, sich an Verträge halten und sie umsetzen. Dafür sorgen die Kommission als „Hüterin der Verträge“ und der Europäische Gerichtshof. Die Regelungen auf europäischer Ebene schaffen Rechtssicherheit nach innen. Im Idealfall bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger mehr Mobilität, für Unternehmen weniger Kosten. In einer von Abhängigkeiten geprägten Welt kann die EU ihren Mitgliedern zudem Spielräume ermöglichen, die sie alleine nicht mehr haben – vor allem bei Handelsabkommen.

CONTRA: Die EU-Institutionen entwickelten im Laufe der Jahrzehnte die Neigung, sich in Bereiche einzumischen, aus denen sie sich aus Effizienzgründen heraushalten sollten. Seit der Jahrtausendwende wird daher eine „Entbürokratisierung“ der EU gefordert; aus den Nationalstaaten kommen Klagen über „Regelungswut“. Doch diese Kritik ist wohlfeil. Zum einen haben die EU-Institutionen sich zuletzt bei der Schaffung neuer Regeln zurückgehalten, zum anderen liegt die eigentliche Macht immer noch bei den Nationalstaaten. Sie entscheiden, wieviel Macht die EU-Institutionen haben dürfen. Und wer meint, dass die EU zu viele Beamte beschäftige, der vergleiche die Zahlen: In den EU-Institutionen arbeiten 55 000 Menschen für rund 450 Millionen EU-Bürger. Die Stadt Rom hat geschätzte 62 000 Beamte – für knapp drei Millionen Einwohner.

 

Einstimmigkeitsprinzip

Nationalstaaten geben nur dann Souveränitätsrechte ab, wenn sie wissen, dass sie nicht überstimmt werden – zumindest bei Themen, die ihnen wichtig sind.

PRO: Große Länder können kleine Länder nicht durch ihr schieres Gewicht „an die Wand drücken“. Die Interessen aller, so disparat sie sein mögen, müssen gehört und berücksichtigt werden. Kleine Staaten haben in der EU daher ein relativ großes Gewicht. Das ist ein wesentlicher Teil der Attraktivität der EU. Kleine Länder können gewissermaßen über ihrer Gewichtsklasse boxen. Das Einstimmigkeitsprinzip ist wesentlicher Bestandteil der Kompromissmaschine EU. Offene Brüche innerhalb der EU werden so in der Regel vermieden.

CONTRA: Die EU sucht stets den kleinsten gemeinsamen Nenner, denn ein einzelnes Land kann blockieren, worauf sich eine Mehrheit der Staaten geeinigt hat. Zwar kommen 80 Prozent aller Rechtsvorschriften im Europäischen Rat dank der sogenannten qualifizierten Mehrheit zustande – wenn also 55 Prozent der EU-Staaten mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung dafür sind. Doch in einigen Angelegenheiten, die von den Mitgliedstaaten als besonders sensibel betrachtet werden, müssen sich alle Beteiligten einig sein. Neben Steuerfragen gilt das etwa für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, für Finanzen oder Bürgerrechte. Zuletzt verhinderte etwa Zypern schärfere Sanktionen gegen den weißrussischen Diktator Aleksander Lukaschenko, weil das kleine Mitgliedsland gleichzeitig Sanktionen gegen die Türkei verlangte. Aus diesem Grunde werden die Rufe lauter, das EU-Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen oder zumindest abzuschwächen. Nur so, heißt es, werde die Union außenpolitisch handlungsfähig.

 

Friedensmacht

Die EU versteht sich vor dem Hintergrund der kriegerischen Geschichte Europas als Friedensmacht.

PRO: Die EU ist auch dafür gegründet worden, Krieg auf europäischem Boden unmöglich zu machen. Gelungen ist das nicht. Jugoslawien, das in den neunziger Jahren blutig zerfiel, gehört ebenso zu Europa wie die Ukraine, in der 2014 Krieg ausbrach. Dennoch: Der Kern Europas erlebt seit 1945 die längste Friedenszeit der Geschichte. Das ist nicht nur ein Verdienst der EU. Während des Kalten Krieges waren die NATO und ihre Führungsmacht USA die wesentlichen Sicherheitsgaranten. Aber die EU hat ganz gewiss zu der langen Friedenszeit beigetragen, schon allein deswegen, weil sie den Einsatz von bewaffneten Mitteln zur Austragung von Interessenkonflikten ausschließt. Auch hat die EU geholfen, Konflikte in Europa zu befrieden, etwa in Nordirland. Aus der Binnenperspektive ist Europa also durchaus eine Friedensmacht.

CONTRA: Europa neigt zur Hybris, weil es lange glaubte, die Formel für den Ewigen Frieden gefunden zu haben. Kriege mögen andere führen, wir haben aus der Geschichte gelernt! Diese unausgesprochene Grundüberzeugung hat dazu geführt, dass Europa tatenlos zusah, wie Jugoslawien zerfiel. Das Selbstverständnis der EU als Friedensmacht wurde spätestens 2014 endgültig zerrüttet. Damals brach in der nach Westen strebenden Ukraine ein Krieg aus. Die EU stand dem russischen Präsidenten Wladimir Putin machtlos gegenüber, weil der bereit war, das Mittel einzusetzen, das die EU weder einsetzen kann noch will: militärische Gewalt. Die Friedensmacht EU, sie ist in erster Linie eine Zuschauermacht – in der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo.

 

Migration

Personenfreizügigkeit gehört zu den vier Grundfreiheiten in der EU – man könnte das auch als Binnenmigration bezeichnen.

PRO: Die Vorteile liegen auf der Hand. Es gibt keine Passkontrollen innerhalb der Staaten des sogenannten Schengenraums, das sind immerhin 26 Länder in Europa. Die EU-Bürger dürfen also frei und ungehindert reisen. Sie können sich in der EU niederlassen und dort arbeiten. Eine Erfahrung, die bis vor wenigen Jahrzehnten in einem Europa kaum möglich erschien, das von zahlreichen Grenzen durchzogen war. Die Personenfreizügigkeit ist ein zentrales Versprechen der Europäischen Union, das eingelöst wurde.

CONTRA: Die EU hat zwar die Grenzen nach innen so gut wie abgeschafft, aber dabei die Außengrenzen der Union regelrecht „vergessen“. Sie hat die Binnenmigration erleichtert, aber die Regelung der Migration von außen in die EU weiterhin den Nationalstaaten überlassen. Sie hat einen einheitlichen Raum nach innen geschaffen, aber keine gemeinsamen Grenzen nach außen. Welche Probleme das mit sich bringen kann, hat sich im Jahr 2015 deutlich gezeigt. Hunderttausende Migranten und Flüchtlinge waren es, die damals binnen weniger Monate über die Außengrenzen nach Europa gelangten. Hatten sie diese Grenzen erst einmal überwunden, konnten sie lange relativ ungehindert bis nach Mitteleuropa weiterziehen. Bis heute mangelt es Europa an einer gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik. Die Krise des Jahres 2015 hat zu tiefen Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union geführt, die bis heute nicht überwunden sind.

 

Wertegemeinschaft

Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft. Die zentralen Säulen dieser Gemeinschaft sind: Rechtsstaat, Menschenrechte, Demokratie.

PRO: Diese Werte bilden zweifellos die Identität der EU – sie sind das Fundament, auf dem das Gebäude der EU errichtet ist. Diese Identität hat sich historisch herausgebildet, sie hat über viele Jahrzehnte nicht nur Bestand gehabt, sie hat auch gute Ergebnisse hervorgebracht. Sicherheit, Wohlstand und Frieden in Europa wären ohne ein gemeinsames Verständnis über die verbindenden Werte nicht möglich gewesen. Die EU ist außerdem ein weltweit attraktiver Raum, weil in ihr Werte vertreten werden, die ganz generell den Menschen ins Zentrum stellen.

CONTRA: Wer so lautstark hehre Werte vertritt wie die EU, der muss sich auch an der Wirklichkeit messen lassen. Und dabei sieht die Europäische Union häufig nicht allzu gut aus. Wenn Tausende Menschen jährlich im Mittelmeer auf ihrem Weg nach Europa ertrinken, wenn im Nachbarland Libyen unter aller Augen Folterlager betrieben werden, wenn in Mitgliedstaaten wie Ungarn die Demokratie infrage gestellt und der Rechtsstaat abgebaut wird, dann muss sich die EU fragen lassen, wie ernst es ihr mit ihren Werten wirklich ist. Das Wertefundament dürfte weiter durch Druck von außen zermürbt werden und gleichzeitig durch autoritäre Entwicklungen von innen untergraben. Das schwächt auch das internationale Ansehen der EU und damit ihre Handlungsfähigkeit auf der globalen Bühne.

 

Wettbewerbsrecht

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind einem System verpflichtet, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt.

PRO: Das europäische Wettbewerbsrecht hat eine ganze Reihe von Vorteilen. Es schützt vor Kartellbildungen, vor unlauterem Wettbewerb, und es regelt die staatlichen Beihilfen. Es soll allen europäischen Unternehmen gleiche und faire Bedingungen bieten. Der Wettbewerb, der auf dieser rechtlichen Grundlage entsteht, ist nicht verzerrt, und dadurch wird die Innovationskraft der Wirtschaft gestärkt.

CONTRA: Das Wettbewerbsrecht ist für europäische Unternehmen ausgelegt. Mit Blick auf außereuropäische Konkurrenten hat es allerdings erhebliche Lücken. So haben chinesische Unternehmen, die mit enormen Staatsgeldern gestützt werden, Zugang zum europäischen Markt, doch das europäische Wettbewerbsrecht in seiner heutigen Form ist nicht in der Lage, „Waffengleichheit“ mit diesen Unternehmen herzustellen. In der jüngeren Vergangenheit sind deshalb immer wieder Rufe nach einer Reform des Wettbewerbsrechts laut geworden. Ziel: Es soll gelockert werden, um sogenannte europäische „Champions“ zu schaffen, die auch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind.

 

Ulrich Ladurner ist Auslandsredakteur der ZEIT und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen“, Edition Körber-Stiftung 2019.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 04, Juli 2021, S. 23-27

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