Torwächter Europas
Mit Libyens Hilfe arbeitet Italien an einer Lösung der Flüchtlingskrise
Als im Frühsommer 2017 innerhalb von 36 Stunden 12 000 Flüchtlinge an den Küsten Italiens landeten, da fürchtete mancher um den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land. Das erklärt die Entschlossenheit des Innenministers Marco Minniti, auch seine Härte. Vor allem ließ die Ex-Kolonialmacht ihre Kontakte zu Libyen spielen. Mit Erfolg.
Der italienische Innenminister Marco Minniti saß im Flugzeug Richtung Washington, als ihn die Nachricht erreichte. Mehr als Zehntausend Migranten, so hieß es, würden binnen der nächsten 48 Stunden an den Küsten Italiens erwartet. Es war der 27. Juni 2016. In den vier vorangegangenen Tagen waren über 10 000 Menschen aus dem Meer gefischt worden. Minniti brach seine Dienstreise ab und kehrte nach Rom zurück. Die Regierung berief eine Krisensitzung ein.
Diese abgebrochene Reise ließe sich als vorläufiger Höhe- und gleichzeitig Wendepunkt der Flüchtlingskrise bezeichnen, von der Italien seit mehreren Jahren betroffen ist. In den Wochen nach der überstürzten Rückkehr Minnitis nach Rom ging die Zahl der Migranten und Flüchtlinge, die über Libyen nach Italien kamen, dramatisch zurück. Bis Ende Juni waren über 100 000 Menschen nach Italien gekommen, spätestens Mitte Juli kamen immer weniger Menschen. Im Monat August 2016 waren die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr um 90 Prozent zurückgegangen.
Immenser Handlungsdruck
Wie war das möglich? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, sollte man zunächst einmal die innenpolitische Lage Italiens in den Blick nehmen. Nur so wird klar, unter welch immensem Handlungsdruck die vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) und seinem Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni geführte Regierung in Rom stand. Erst dann kann man die Motive und Entscheidungen der Akteure sowie ihre Folgen in einem umfassenden Sinne verstehen.
Anfang Mai 2016 hatten bei Wahlen in über 1000 italienischen Gemeinden rechtspopulistische Kräfte zum Teil große Erfolge erzielt – allen voran die Lega Nord. Diese Partei war in den späten 1980er Jahren als separatistische Partei entstanden, die den reichen Norden des Landes vom armen Süden abtrennen wollte. Doch die Lega wandelte sich im Laufe der Jahre zu einer immer ausländerfeindlicher werdenden Partei. Nicht mehr der „mezzogiorno“, der Süden Italiens, war jetzt das Objekt ihrer Propaganda, sondern die Migranten, unter ihnen besonders Muslime. 2013 wurde Matteo Salvini Vorsitzender der Lega Nord. Er versucht seither, die separatistischen Wurzeln seiner Partei zu kappen und sie als nationale Kraft zu etablieren.
Die Gelegenheit dafür ist günstig. Denn die langen Jahre der Herrschaft von Silvio Berlusconi haben die rechtskonservativen Parteien geschwächt, um nicht zu sagen: zertrümmert. Salvini versucht, Berlusconis Erbe als Führer des rechtskonservativen Lagers anzutreten. Das Vehikel dafür ist eine Verschärfung der ausländerfeindlichen Rhetorik. Salvini tourt mit dem Slogan „Salvini Premier“ durch die Lande. Schien das vor einigen Jahren noch ein überzogener Wahlspruch einer kleinen Regionalpartei zu sein, so gewann er nach und nach an Realitätsgehalt.
Die zweite rechtspopulistische Kraft, die angesichts der Flüchtlingskrise ihre ausländerfeindliche Rhetorik stetig verschärft hat, ist die Fünf-Sterne-Bewegung. Diese von dem Komiker Beppe Grillo angeführte Partei war bei den Parlamentswahlen im Februar 2013 aus dem Stand mit etwas mehr als 25 Prozent der Stimmen hinter dem PD zur zweistärksten Kraft geworden. Seither liegen die Fünf Sterne stabil mit dem PD gleichauf, in den Umfragen schwankt er zwischen 25 und 30 Prozent.
In Italien stehen spätestens 2018 Wahlen an, doch es war auch schon von Neuwahlen in diesem Jahr die Rede. Der PD fürchtete aus gutem Grund, diese Wahlen zu verlieren und von einer rechtspopulistischen Koalition abgelöst zu werden.
Salvinis Lega Nord und Grillos Fünf Sterne entdeckten im Laufe des Jahres immer mehr Gemeinsamkeiten. Eine Koalition der beiden schien nicht mehr ausgeschlossen – für den regierenden PD eine echte Gefahr. Vor allem in der Flüchtlingspolitik fanden Lega Nord und Fünf-Sterne-Bewegung zusammen. Sie forderten eine restriktivere Flüchtlingspolitik und einen „wirksamen“ Schutz der Grenzen. Die Lega Nord verlangte unter anderem, dass man im Meer aufgefischte Flüchtlinge direkt an die libysche Küste zurückbringen sollte. Umfragen zeigten deutlich, dass eine wachsende Zahl von Italienern eine härtere Flüchtlingspolitik befürwortet.
Demokratie in Gefahr
In Rom schrillten die Alarmglocken. Ministerpräsident Gentiloni musste dringend Erfolge vorweisen, wenn er im Amt bleiben wollte. Doch es ging offenbar nicht nur um den Machterhalt der Regierung in Rom. In immer mehr Gemeinden regte sich Widerstand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Innenminister Minniti erklärte im September mit Blick auf die Situation im Mai/Juni 2017: „Als innerhalb von 36 Stunden 12 000 Migranten an unseren Küsten landeten und sich gleichzeitig Bürgermeister gegen die Aufnahme von nur 30 bis 50 Flüchtlingen in ihren Gemeinden wehrten, da fürchtete ich um unsere Demokratie!“
Minniti ist kein Mann, der für Übertreibungen bekannt ist. Und er war in Italien nicht der einzige, der den sozialen Zusammenhalt bedroht sah. Der Protest der Bürgermeister war ein Zeichen für den wachsenden sozialen Widerstand gegen den ungehinderten Zustrom von Migranten. Die Regierung brauchte dringend Erfolge, und das hieß: Die Zahlen der Zuwanderer mussten schnell sinken.
Ende Juli schickte Italien ein Kriegsschiff und Material nach Libyen, um die libysche Küstenwache bei ihrem Kampf gegen die Menschenschlepper zu unterstützen. Das war in erster Linie eine Aktion, die nach innen gerichtet war: „Seht her, wir sind zu harten Maßnahmen bereit!“ Als der libysche General Khalifa Haftar, der den Westen Libyens beherrschte, drohte, er werde die italienischen Schiffe beschießen lassen, reagierte Rom ebenso prompt wie gelassen. Das sei eine leere Drohung. Italien demonstrierte Stärke. Die Drohung Haftars und die Reaktion Italiens waren zu einem guten Teil Theater zur Besänftigung des heimischen Publikums.
Vor der Entsendung des Kriegsschiffes hatte Italiens Regierung die Kontakte zum ägyptischen Präsidenten Mohammed al-Sisi, dem Schutzpatron Haftars, verstärkt. Sie musste sich daher keine Sorgen machen.
Gute Kontakte zu Kairo waren für Rom zu diesem Zeitpunkt alles andere als selbstverständlich. Die Beziehungen zwischen Italien und Ägypten waren nämlich äußerst angespannt. Im Februar 2016 war der italienische Student Giulio Regeni am Stadtrand von Kairo tot aufgefunden worden. Sein Körper wies Folterspuren auf. Sehr wahrscheinlich ist Regeni von ägyptischen Sicherheitskräften ermordet worden. Die Italiener forderten Aufklärung und Bestrafung der Mörder, die ägyptischen Behörden mauerten, die Italiener zogen ihren Botschafter ab. Es war die schwerste Krise zwischen den beiden Ländern seit Jahrzehnten.
Es war Innenminister Marco Minniti, der sich um eine Normalisierung der Beziehungen bemühte. Bis heute ist nicht bekannt, wer am grausamen Tod Regenis schuld ist. Minniti ließ sich davon nicht beirren. Die guten Beziehungen zu al-Sisi waren für ihn im Zweifel wohl wichtiger als weitere Aufklärung im Fall Regeni. Marco Minniti ist der zentrale Architekt der italienischen Flüchtlingspolitik.
Freie Hand für Rom
Viele Monate lang arbeitet er beharrlich daran, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Er tat dies auf diskrete Weise, aber auch in der Gewissheit, dass Europa der italienischen Regierung in Libyen die Führung überließ. Das Vertrauen Europas tat Italien gut. Das Land war mit Blick auf die Migrationskrise als unzuverlässig dargestellt worden, zum Teil aus guten Gründen. Denn die italienischen Behörden winkten in den vergangenen Jahren viele Flüchtlinge Richtung Norden durch. Italien wollte verlorenes Vertrauen wiedergewinnen. Daher macht es mit dieser Praxis weitgehend Schluss. Doch das Durchwinken konnte auf Dauer nur beendet werden, wenn den Zustrom über die zentrale Mittelmeerroute versiegte. Europa signalisierte Rom, dass es in Libyen und auf der zentralen Mittelmeerroute freie Hand habe.
Minniti setzte die humanitären Organisationen, die vor der libyschen Küste kreuzten und Migranten und Flüchtlinge aus dem Meer fischten, unter Druck. Er legte einen Verhaltenskodex für die Organisationen vor. Wer unterschrieb, verpflichtete sich zu engerer Kooperation mit den italienischen Behörden, wer sich weigerte, musste mit Sanktionen der Regierung rechnen. Auf diese Weise gewann Minniti bessere Kontrolle über das, was auf dem Meer geschah. Und er signalisierte nach innen Stärke und Entschlossenheit. Es war für die Rechtspopulisten nun schwerer, die Regierung wegen angeblicher Laschheit zu attackieren. Entscheidender aber war, was Italien auf der anderen Seite des Mittelmeers macht: in Libyen.
Als ehemalige Kolonialmacht verfügt Italien in Libyen über beste Kontakte. Es ist und war bereit, diese Kontakte zu nutzen. Dafür geht die römische Regierung auch ein Risiko ein, das andere Länder scheuen. Italien ist das erste und bis heute einzige westliche Land, das nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 und dem Ausbruch des Krieges zwischen den libyschen Milizen eine Botschaft in Tripolis eröffnete. Im Januar 2017 wurde der Botschafter entsandt, eine italienische Gesandtschaft gibt es schon seit 2015. Marco Minniti selbst stellte den Botschafter in Tripolis vor. Auch das war ein klares Signal: „Wir sind hier! Wir halten zu Libyen!“
Minniti lässt sich von der Überzeugung leiten, dass Grenzen kontrollierbar sind, selbst eine so poröse Grenze wie jene im Süden Libyens. 5000 Kilometer lang ist diese Grenze, die zwischen Libyen und seinen Nachbarn Niger, Tschad und Algerien verläuft. Es sind 5000 Kilometer Sand und Felsen. Wie lässt sich das unter Kontrolle bringen? Indem man mit den Menschen und Autoritäten arbeitet, die vor Ort sind. Das hieß in dem Fall die Stämme.
Im März fand unter dem Radar der großen Öffentlichkeit ein Treffen von Stammesführern aus dem Süden Libyens statt. Minniti hatte eingeladen. Er bemühte sich erfolgreich um eine Schlichtung zwischen den Stämmen. Es gelang ihm, ein Abkommen zu schließen. Die Vertreter der Stämme verpflichteten sich, den Menschenschmuggel zu unterbinden. Rom versprach im Gegenzug langfristige ökonomische und finanzielle Hilfe. Auf der anderen Seite der südlichen Grenze Libyens begannen die Maßnahmen der EU zu wirken. Die EU hatte vor allem mit Niger eine engere Zusammenarbeit gestartet. Durch dieses Land, insbesondere über die Stadt Agadez, verläuft eine Haupttransitroute der Migranten und Flüchtlinge. Mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche gelang es der EU, Niger stärker einzubinden.
Vorbild Türkei-Deal
Die Tatsache, dass die Stammesführer nach Rom eingeladen worden waren, dass man sie anhörte und als Verhandlungspartner ernst nahm, ist ein Beleg für die vielschichtige Strategie Minnitis. Wie die gesamte Europäische Union stützt auch Italien den Ministerpräsidenten Libyens Fayez al-Sarraj, obwohl der im Land über wenig Autorität verfügt. Sein Einfluss beschränkt sich auf Tripolis und die nähere Umgebung. Trotzdem halten die EU, die UN und eben auch Italien an ihm als zwar machtlosen, aber doch als einzig legitimen Regierungschef Libyens fest. Das Ziel besteht darin, den libyschen Staat wieder zu errichten. Al-Sarraj soll da erst der Anfang sein.
Neben der Regierung in Tripolis und den Stämmen im Süden des Landes knüpfte die italienische Regierung Kontakte zu Bürgermeistern verschiedener Städte und Ortschaften Libyens. Auch ihnen bot Rom finanzielle und ökonomische Hilfen an, die allesamt das Ziel haben, Alternativen zum lukrativen Menschenschmuggel zu entwickeln.
Der Rückgang der Migrationszahlen über die zentrale Mittelmeerroute ist das Ergebnis einer über viele Monate hinweg beharrlich verfolgten, mühsamen Kleinarbeit. Die Regierung in Rom handelte in der Gewissheit, dass der ungehinderte Zustrom von Menschen den sozialen Zusammenhalt in Italien akut bedrohte. Für Rom war Gefahr in Verzug. Das erklärt die Entschlossenheit Marco Minnitis, auch seine Härte.
Langfristig orientiert sich Italien an dem Modell des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei aus dem Jahr 2016. Wie die Türkei heute, soll Libyen zum gut bezahlten Torwächter Europas in Nordafrika werden. Doch das wird erst möglich sein, wenn Libyen wieder ein funktionsfähiger Staat ist. Wann es so weit sein wird, weiß man nicht einmal im bestens vernetzten Rom.
Ulrich Ladurner ist Auslandsreporter der ZEIT und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Eine Nacht in Kabul“ (2010).
Internationale Politik 6, November-Dezember 2017, S. 96 - 100