Der afghanische Gast
Wie hat der Einsatz Deutschland verändert?
Eines Tages war er da, begehrte nichts und – blieb. Zehn Jahre lang, bis wir uns in unserem Haus selbst nicht mehr wohlfühlten. Der Einsatz in Afghanistan wurde mit moralischem Getöse begonnen und führte uns viel zu spät zu der Einsicht, dass wir Krieg führen. Der unglückliche afghanische Gast hat Deutschland seiner Illusionen beraubt.
Stellen Sie sich vor ein abgerissener, zerzauster Gast steht an der Tür Ihres wohlgeordneten Hauses. Er begehrt keinen Einlass, er steht nur da, schweigend und sehr präsent. Ihr Instinkt mahnt zur Vorsicht. Doch ein ebenso starker Impuls befiehlt Ihnen, diesen Gast nicht abzuweisen. Warum, das können Sie nicht genau sagen. Sie wissen nur: Sie müssen ihm helfen, irgendwie. Er darf also ins Haus. Er bedankt sich und nimmt in Ihrem schönen, behaglichen Wohnzimmer Platz. Sie bieten ihm zu essen und zu trinken an. Er kommt von sehr weit her und sieht müde aus, doch in seinen Augen flackert Stolz.
Sie überlegen sich, wie Sie ihm helfen können. Geld, Nahrung, Kleidung, ein Fahrzeug? Sie würden ihn gerne wieder loswerden, doch Sie wissen nicht wie. Er bleibt sitzen, nascht von den angebotenen Süßigkeiten, trinkt Tee und hört Ihnen dabei aufmerksam zu. Sie sind verlegen und suchen nach Gesprächsstoff. Sie erinnern sich plötzlich, dass es einmal, es ist sehr lange her, eine Verbindung zwischen Ihrer Heimat und dem Heimatland des Gastes gab. Sie war schwach, eigentlich kaum der Rede wert. Doch immerhin, es gab sie. „In Ihrem Land haben wir einmal eine Schule betrieben. Wissen Sie das?“ Der Gast nickt zustimmend und schweigt. Sie wollen Ihre Verlegenheit überwinden und reden weiter. Sie versuchen, ihn aus der Reserve zu locken und fragen ihn nach allerlei verschiedenen Dingen. Doch er antwortet nur: „Was immer Sie auch denken. Es ist auch meine Meinung!“ Dann lächelt er.
Ihnen bleibt der Mund vor Staunen offen. Was sagt er da?! Er denkt, was ich denke, er meint, was ich meine? Das ist verrückt! Das ist aussichtslos! Wie soll ich erfahren, was er wirklich vorhat, wenn er mir immer nach dem Mund redet? Was kann ich ihm denn glauben, wenn er alles, was ich sage, gut findet? Warum überhaupt macht er das? Aus Vergnügen? Will er mir, seinem Gastgeber, gefallen, weil er glaubt, sonst würde er des Hauses verwiesen? Was verspricht er sich davon?
Auf alle diese Fragen haben Sie keine Antwort. Sie sind verwirrt, versuchen es zu verbergen und stürzen sich in einen neuen Redefluss. Sie wollen die Situation mit Worten in den Griff bekommen und flüchten sich in Optimismus. Doch Sie verheddern sich, versteigen sich in immer neue, geradezu barocke Wortschöpfungen. Es ist Ihnen peinlich. Doch Sie können es nicht zugeben, vor sich selbst nicht und vor dem Gast nicht. Sie finden keinen Ausweg.
Die Stunden vergehen, die Tage, die Jahre. Der Gast ist immer noch da. In Ihrem Haus steht alles an seinem Platz, die Möbel, die Bücher, der Computer, der Fernseher, die Couch – all die Belege Ihres behaglichen Wohlstands sind unverrückt, wohl geordnet wie am ersten Tag dieses unerwarteten Besuchs.
Doch gleichzeitig spüren Sie, dass alles durcheinander gekommen ist. Ihr Haus ist nicht mehr Ihr Haus, Sie fühlen sich darin nicht mehr wohl. Selbst Ihre Sprache erscheint Ihnen fremd. Sie, der leise reden schon lange für eine Tugend hält, sprechen so laut und verwenden martialische Worte, dass es in den Ohren dröhnt. Sie merken, dass Sie ein anderer werden. Sie haben auch das Gefühl, dass sich Ihre Heimat grundlegend wandelt, ohne sie einen Augenblick verlassen zu haben. Ist dieses Haus noch Ihres? Ist dieses Land noch das Deutschland, das Sie kannten, bevor der Gast aus Afghanistan kam?
Deutsche Ambitionen
Seit zehn Jahren beschäftigen sich die Deutschen regelmäßig mit der Frage, wie wohl die Lage in Afghanistan ist. Verbessert oder verschlechtert sie sich? Journalisten, Politiker, Soldaten, Wissenschaftler haben dazu zahllose Bücher und Artikel verfasst und sich in unzähligen Fernsehsendungen die Köpfe heiß geredet. Doch eine Frage wurde selten gestellt: Wie hat Afghanistan Deutschland verändert? Dabei wäre es nahe liegend. Denn noch bevor deutsche Soldaten nach Afghanistan entsandt wurden, kamen Afghanen nach Deutschland, auf den Petersberg, wohin sie die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Dezember 2001 eingeladen hatte.
Afghanistan war dem Westen über Nacht zugefallen. Nach nicht einmal fünf Wochen Bombardement waren die Taliban im November 2011 aus Kabul verschwunden. Es schlug die Stunde einer ambitionierten deutschen Regierung. Sie wollte Führung beweisen, nach außen wie nach innen, und stellte sich bewusst an die Spitze einer nach dem Sturz der Taliban notwendig gewordenen afghanischen Neuordnung. Deutschland wollte die Nachkriegsordnung in einem fremden Land wesentlich mitgestalten. Das war ein Novum.
Die afghanischen Gäste auf dem Petersberg hatten viel Erfahrung mit Umbrüchen. Sie hatten allesamt gegen die sowjetische Besatzung gekämpft (1979 bis 1989), sie wurden danach zu Akteuren eines grausamen Bürgerkriegs, sie verloren ihre Machtpositionen gegen die Taliban und fanden schließlich durch die Bomben der US-Armee wieder ihren Weg nach Kabul, an den gut gefüllten Futtertrog. Auf dem Petersberg ging es ihnen darum, dieses neue Kapitel der afghanischen Geschichte mit zu schreiben. Prinzipien waren nicht die Stärke dieser Männer, außer das eine: um jeden Preis überleben und möglichst viel Macht behalten oder mehren. Darin waren sie geschult. Auch wenn sie unterschiedlichen Lagern angehörten, sie waren Meister im Taktieren, biegsam und gleichzeitig eisern in ihrem Willen, ihre Pfründe zu verteidigen. Rücksichten waren ihre Sache nicht.
Sie waren Kriegsherren. Sie fanden eine deutsche Regierung vor, die sich hehre Prinzipien auf die Fahnen geschrieben hatte: Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung der Geschlechter. Die rot-grüne Regierung war in ihrem Element. Die ganze Welt sollte die Botschaft vernehmen. Deutschland kann nicht nur Maschinen und Autos exportieren, Deutschland ist auch Exportweltmeister in Sachen Werte. Deutsche Soldaten kamen erst später, nach den großen Worten. Sie mussten den aufgeblähten Erwartungen gerecht werden. Dafür waren sie nicht geschaffen, doch das würde der Öffentlichkeit lange verborgen bleiben. Sie glaubte gerne an den deutschen Soldaten als Bannerträger westlicher Prinzipien. Die Regierung suggerierte, dass in Afghanistan kein Blutzoll zu entrichten sei. Nach den Worten des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck sollte zwar die „Sicherheit Deutschlands am Hindukusch“ verteidigt werden, doch das hieß nicht, dass man dort kämpfen müsste. Dabei schwang ein moralisches Überlegenheitsgefühl mit. Die Deutschen müssten nicht schießen, denn sie hätten aus ihrer Geschichte gelernt. Sie seien eben anders als die anderen. Jeder verstand, dass mit den anderen die angeblich so schießwütigen Amerikaner gemeint waren. Es gelang das Kunststück, sich mit den USA zu solidarisieren und gleichzeitig die Art ihres Einsatzes zu delegitimieren. Man unterstützte die USA und ritt dabei auf einer gar nicht besonders verborgenen antiamerikanischen Welle. Es war ein heikler Spagat, der allerdings lange gelang.
Das Deutschland, in das die Afghanen kamen, hatte also einen doppelten Boden. Man sagte zwar ja zum Krieg, nannte es aber nicht so. Soldaten waren Brunnenbauer, ihre Waffen Pflüge, ihre Patronen Weizensamen. Um diese schöne Illusion aufrechterhalten zu können, schickte man die deutschen Soldaten in den Norden Afghanistans – der damals friedlichsten Region des Landes. Dort gab es zu dem Zeitpunkt noch keine Taliban. Die anwesenden Drogenhändler ließ man gewähren. Der Befehl aus Berlin lautete, sich auf keinen Fall in afghanische Händel verwickeln zu lassen. Man wollte keine Leichensäcke nach Hause kommen sehen. Diese aus innenpolitischen Gründen oktroyierte Gewaltabstinenz einer Armee verkaufte man als besondere kulturelle Sensibilität gegenüber den Afghanen. Im Norden blieb es lange ruhig. Deutschland konnte sich auf die Schulter klopfen.
Zwischen deutscher Moral und deutscher Tatkraft klaffte also ein gewaltiger Abgrund. Es war nicht das erste Mal. Als Deutschland sich 1999 am Kosovo-Krieg beteiligte, begründete Außenminister Fischer das mit „Nie wieder Auschwitz!“ Doch gleichzeitig durften die an der Intervention beteiligen Kampfflieger nur Radarstationen des Gegners ausschalten, ein Einsatz von Bodentruppen wurde kategorisch abgelehnt – man wollte also Auschwitz verhindern, aber das Leben deutscher Soldaten sollte dafür nicht riskiert werden. Ist man wohlwollend, könnte man dies als eine schonende Vorbereitung einer kriegsentwöhnten und -unwilligen Bevölkerung auf künftige gewaltsame Konflikte interpretieren. Etwas zutreffender wird aber wohl sein, dass Deutschlands Außenpolitiker für diese neue, unübersichtliche Welt noch keine rechte Sprache gefunden haben, geschweige denn eine Politik. Während des Kalten Krieges hatte man sich erfolgreich eines leisen Tons befleißigt. Doch welcher Ton war der richtige für Afghanistan? Rot-Grün entschied sich für die ganz große Posaune.
Man wüsste gerne, was die afghanischen Delegierten auf dem Petersberg im Stillen gedacht haben. Angesichts ihrer eigenen Erfahrungen mussten ihnen die hochgeschraubten Erwartungen geradezu naiv und vielleicht sogar verlogen erscheinen. Die Petersberger Konferenz sollte der afghanischen Geschichte eine Wende geben. Die Historie in Afghanistan drehte sich aber schon fast zwei Jahrzehnte in einem langsamen blutigen Kreis, aus dem kein Entkommen möglich schien. Doch man nährte die Illusion, es gäbe in diesem Afghanistan einen Schlüssel, der tief vergraben unter meterdicken Trümmern des Krieges liege. Wer ihn fand, musste ihn nur verwenden – das Licht einer hellen Zukunft würde in Afghanistan wieder erstrahlen. Tatsächlich hatten Schröders und Fischers Erklärungen etwas von stolzen sozialistischen Funktionären, die eine fortschrittsgläubige Rede halten, um anschließend vor applaudierendem Publikum mit einem Knopfdruck ein neues Kraftwerk zu eröffnen. Sie waren getrieben vom Machbarkeitswahn. Sie wollten am großen Rad der Geschichte drehen und stolperten mit breiter Brust nach Afghanistan hinein.
Alles wohlfeile Kritik, im Nachhinein geäußert? Ja und Nein. Ja, weil damals niemand so recht wusste, wie man mit Afghanistan umgehen sollte. Nein, weil es nicht an Warnungen vor allzu großem rhetorischem Überschwang fehlte. Sie wurden konsequent überhört. Vermutlich geschah das auch, weil die Regierung glaubte, sie müsse den Einsatz deutscher Soldaten zu einer moralischen Mission aufmotzen, um sie dem heimischen Publikum nahe zu bringen. Damit waren sie nicht allein. Selbst die USA brachten die Befreiung der afghanischen Frau als Motiv für ihre Intervention ins Spiel. Der Krieg gegen Terror allein war ihnen als Legitimation zu brüchig gewesen. Deutschland fühlte sich nicht angegriffen, wie im Übrigen die Europäer insgesamt. Darum konnte man deutsche Soldaten auch nicht in den Krieg schicken. Sie sollten wegen all der schönen Dinge hin, die der Westen anzubieten hat. Diese seltsame Vorstellung gründete auf der Idee, dass die Soldaten über den Parteien standen. Man wollte nicht erkennen, dass man die Bundeswehr in einen seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieg schickte, der mit dem Sturz der Taliban nur in eine neue Phase eingetreten war. Die NATO und mit ihnen auch die Deutschen waren Kriegspartei – von Anfang an.
Deutsche Selbstvermarktung
Jenseits aller innenpolitischen Rücksichten war der Wunsch der Regierung nach Bedeutung erkennbar. Der wirtschaftliche Riese und moralische Gigant Deutschland wollte beweisen, dass er auch als außenpolitischer Akteur auf der Weltbühne eine Rolle spielen konnte. Afghanistan erschien wie eine willkommene Gelegenheit, nicht wie eine Gefahr. Der Einsatz lief unter dem Label Bündnissolidarität. Die NATO hatte zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Artikel 5 des NATO-Vertrags aktiviert. Demnach waren nach einem Angriff auf eines ihrer Mitglieder alle anderen zum militärischen Beistand verpflichtet. Deutschland leistete vertragstreu seinen Beitrag, benutzte diesen aber auch zur Selbstvermarktung. Man wollte eine gute, eine bessere Macht sein. Wie das aussehen sollte, das konnte allerdings keiner beantworten.
Dieser Sehnsucht nach Wichtigkeit steht die beharrliche Weigerung der deutschen Politik gegenüber, der afghanischen Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Deutsche Regierungsvertreter brauchten fast das ganze Jahrzehnt, um endlich das auszusprechen, was für die Soldaten in Afghanistan tägliche Erfahrung war: Krieg. Noch im Frühjahr 2009 behauptete der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung strikt: „In Afghanistan ist kein Krieg. Das ist ein Stabilisierungseinsatz!“ Da waren schon mehr als drei Dutzend deutsche Soldaten gefallen – wobei selbst das Wort „gefallen“ für Verlegenheit sorgte. Konnte man in Afghanistan „fallen“, wenn es doch kein Krieg war? Konnte man in einem Friedenseinsatz „fallen“? Das war nur eine der vielen absurden Debatten im Hause Deutschland. Nicht einmal das Bombardement von Kundus überzeugte Jung, dass es sich in Afghanistan um Krieg handelte. Er sprach immer von Terroristen, auch dann noch, als die USA schon längst akzeptiert hatten, dass die NATO es mit einer politischen Aufstandsbewegung zu tun hatte. Die Taliban mochten verbrecherische Mittel anwenden, doch das änderte nichts daran, dass sie eine politische Bewegung waren. Wer das öffentlich sagte, wurde jahrelang als ein Art fünfte Kolonne der Taliban denunziert.
Als dann endlich das K-Wort ausgesprochen wurde, kam es ausgerechnet aus dem Munde eines Mannes, der wenig später als Scharlatan und Plagiator entlarvt werden würde: Karl-Theodor zu Guttenberg. Selbst der sich als so tapfer gebende Mann robbte sich mit äußerster Vorsicht an das Wort heran. Man könne, so ließ er als Verteidigungsminister im April 2010 verlauten, seinem Empfinden nach durchaus „umgangssprachlich von Krieg“ reden. Diese seltsame verdruckste Stellungnahme reichte aus. Krieg! – so titelten auch seriöse Zeitungen in dicken Lettern. Neun Jahre nach Beginn des Einsatzes! Ein Hauch von Hysterie lag in der Luft. Plötzlich war von Schlachten die Rede, in denen die deutschen Soldaten verwickelt würden, man forderte schweres Gerät, Haubitzen, Panzer, um nur endlich, endlich eine Entscheidung in Afghanistan herbeiführen zu können.
Diese Aufmerksamkeit tat den Bundeswehrsoldaten gewiss gut. Denn sie hatten seit Jahren das Gefühl, in Afghanistan in einen Krieg verwickelt zu sein, ohne dass das zu Hause jemand wahrnehmen, geschweige denn anerkennen würde. Es waren Klagen zu hören, dass die Deutschen von dieser kriegerischen Realität solange nichts hatten wissen wollen. Dabei war es die Politik, die jeden Versuch, offen über Afghanistan zu reden, schnell desavouierte. Eine immer wiederkehrende Argumentationsfigur lautete: „Wer den Einsatz kritisiert, stärkt die Taliban!“ So viel zum Verständnis einer demokratischen Debatte in Kriegszeiten. Es durfte nur eine Form des Redens über Afghanistan geben – die Beschwichtigungen, das Schweigen, das Schönreden, das Verdrängen. Doch die afghanische Wirklichkeit war stärker, der afghanische Gast im Haus Deutschland setzte sich durch: Das Wort Krieg fand Eingang in die Debatte.
Doch hinter all dem plötzlich aufbrausenden Lärm verbarg sich nur die alte, lähmende Ratlosigkeit. Denn was folgte aus dem Wort Krieg? Mehr Haubitzen? Gut, aber wozu? Um wen zu treffen? Die Taliban? Wer aber waren die Taliban? Was waren sie? Was wollten sie? Sollte man mit ihnen verhandeln? Oder nicht? Auf all diese Fragen gab es weiter keinerlei Antworten, mit denen man hätte etwas anfangen können. Auch zehn Jahre nach dem Einsatz stocherte man im Dunkeln herum. Zu dem Zeitpunkt, als man in Deutschland vom Krieg sprechen durfte, führten die Amerikaner, Briten und Kanadier schon seit Jahren einen ebensolchen Krieg im Süden. Ohne jeden nennenswerten Erfolg. Doch selbst das ging in der Aufregung der deutschen Kriegsdebatte unter. Das Wort Krieg brach ein innenpolitisches symbolisches Tabu – für die deutsche Afghanistan-Politik hatte das keinerlei Konsequenzen. Man verharrte in altbekannter Ratlosigkeit und gebar neue Worthülsen – wie jenes der „vernetzten Sicherheit“.
Zehn Jahre sitzt der afghanische Gast nun also im Haus Deutschland. Es gab Zeiten, da fiel seine Anwesenheit schon niemandem mehr auf. Der Gast hat sich wenig geändert. Er ist kräftiger geworden, er ist besser genährt. Aber seine Aussichten auf eine bessere Zukunft sind in diesen zehn Jahren nicht unbedingt gestiegen. Es wird noch ein paar Jahre dauern, dann wird er aus diesem Haus verschwinden. Mit einem Knall. So ist er ja auch gekommen. Doch der wird in Deutschland kaum mehr vernommen werden. Man wird sich anderen Dingen zuwenden und vergessen wollen.
Manchmal wird dieses Afghanistan als blutiges Gespenst in den Träumen Deutschlands erscheinen, als eine schaurige Erinnerung an eine missratene Geschichte. Vielleicht wird Deutschland dann nachts schweißgebadet aufschrecken und sich einen Augenblick lang selbst im Spiegel betrachten. Es wird erkennen, dass es sich unter Schmerzen an die kriegerischen Zeiten gewöhnt hat. Vielleicht wird es dann auch den Grundfehler sehen, den es in Afghanistan begangen hat. Deutschland hat sich immer auf die verlassen, die man in schönster UN-Bürokratensprache „violence provider“ nennt – auf Männer mit Waffen, auf afghanische Kriegsherren, und natürlich auch auf die Bundeswehr. Das Schicksal Afghanistans legte man Bewaffneten in die Hände, nicht den Zivilisten. Das taten die Deutschen und das taten all die anderen Verbündeten.
Das Übergewicht des Militärischen dürfte in der deutschen Außenpolitik auch in Zukunft spürbar werden. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, die Bundeswehr soll eine professionelle Armee aus effizienten, hoch gerüsteten Kämpfern werden. Man will sich vorbereiten auf die nächste Intervention. Denn die kommt bestimmt. Wozu diese Armee dienen wird, welche Interessen sie verfolgen soll, ob sie erreichbar sind, in welches Verhältnis Deutschland mit dieser unübersichtlichen Welt treten will – auf all diese Fragen gibt es keine Antwort, genauso wenig wie es während der zehn Jahre Afghanistan darauf schlüssige Antworten gab. Der unglückliche afghanische Gast hat Deutschland seiner Illusionen über sich selbst beraubt. Das ist eine starke Leistung – Deutschland wird das vielleicht weiterbringen. Afghanistan gewiss nicht.
ULRICH LADURNER ist Auslandsreporter der ZEIT und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Eine Nacht in Kabul“ (2010).
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 100-106