Gegen den Strich

01. Mai 2017

Islamistischer Terrorismus

Sechs Thesen auf dem Prüfstand

Wenn hierzulande über islamistisch motivierte Gewalt diskutiert wird, heißt es oft, die Ideologie spiele keine Rolle. Die Radikalisierung junger Menschen sei eine Reaktion – auf die Politik der USA, Israels, des Westens. Dass wir die religiöse Dimension leugnen, sagt mehr über uns aus als über die Terroristen. Und es ist nicht unser einziger Irrtum.

Terrorismus hat nichts mit dem Islam zu tun

Doch, das hat er, und sogar ausgesprochen viel. Die Anhänger dieser Gruppen berufen sich auf eine religiöse Ideologie, die gemeinhin Islamismus genannt wird. Islamisten wollen einen oder mehrere islamische Staaten errichten und dort ihre Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia, anwenden. Militante Islamisten oder islamistische Terroristen wollen diese Ziele mit Gewalt erreichen – in einem bewaffneten Kampf, den sie als Heiligen Krieg bezeichnen, als Dschihad. Der Terrorismus von Al-Kaida und IS ist die vorläufig militanteste Ausprägung von Reformbestrebungen, die schon im 18. Jahrhundert in Teilen der islamischen Welt einsetzten und später in den modernen Islamismus mündeten. Erst als die Muslimbrüder und verwandte Organisationen in ihrem Bemühen scheiterten, die Macht in den Staaten der islamischen und arabischen Welt zu übernehmen, entschieden sich junge Männer seit den siebziger Jahren für eine ausschließlich gewaltsame Vorgehensweise.

Seit etwa zwei Jahrzehnten beziehen sich die meisten islamistischen Terroristen nicht mehr auf das Gedankengut der Muslimbrüder, sondern auf das der Salafisten, einer Teilströmung des Islamismus. Wie diese wollen die Dschihadisten einen Staat nach dem Vorbild von Mekka und Medina zur Zeit des Propheten Mohammed errichten; daher stammt die Bezeichnung dschihadistische Salafisten oder Dschihad-Salafisten. Zwar handelt es sich bei den Salafisten um eine kleine Minderheit innerhalb des Islam, so dass diese Einordnung nichts über die Gewalttätigkeit der Religion insgesamt aussagt. Wir müssen die religiöse Verankerung der dschihadistischen Ideologie aber ernst nehmen, denn nur so können wir sie verstehen und erfolgreich bekämpfen. Es hilft nicht, gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass „die Terroristen die Religion instrumentalisieren“ oder „missbrauchen“. Die meisten von ihnen sind gläubige Muslime, die überzeugt sind, dass ihre Gewalttaten ein Gottesdienst sind.

Schuld am islamistischen Terror ist die Politik des Westens

Das ist falsch – oder zumindest sehr ungenau. Wenn wir die religiöse Ideologie der Dschihadisten ernst nehmen, dann müssen wir die in vielen Ländern verbreitete Argumentation, wonach der islamistische Terrorismus lediglich eine Reaktion auf militärische Interventionen in der islamischen Welt sei – die sowjetische in Afghanistan, die russische in Tschetschenien, die amerikanische in Afghanistan und im Irak oder die aktuelle der USA und ihrer Verbündeten gegen den IS in Syrien und im Irak – kritisch betrachten.

Nun ist es ja nicht von der Hand zu weisen, dass diese Interventionen dazu beigetragen haben, junge Männer in vielen Ländern davon zu überzeugen, dass der Westen (und nichtwestliche Staaten wie Russland und China) einen Krieg gegen den Islam führen. Dadurch erhielten die Dschihadisten immer neue Rekrutierungspools. Insbesondere der Irak-Krieg der USA 2003 hatte katastrophale Auswirkungen auf die Stabilität des Irak und trug damit maßgeblich zum Aufstieg des IS bei. Dennoch wäre die Entstehung großer und beinahe weltumspannender terroristischer Netz­werke ohne die parallele Entwicklung einer aus sich heraus attraktiven Ideologie nicht möglich gewesen. Ohne sie ist der Aufstieg der Dschihadisten gar nicht denkbar, denn ohne sie hätten sich die Zehntausenden ausländischen Kämpfer nie auf den Weg nach Afghanistan, Tschetschenien, Irak oder Syrien gemacht. Die Kriege des Westens und die dschihadistische Ideologie stehen in einer Wechselwirkung; die Ideologie ist aber der weitaus wichtigere Faktor.

Das zeigt sich beispielhaft an der Geschichte des IS. Als die Organisa­tion im Frühjahr 2013 unter dem Namen Islamischer Staat im Irak und Syrien auftrat, schlossen sich die meisten ausländischen Kämpfer dort der neuen Gruppierung an. Der wichtigste Grund hierfür war, dass der IS den unter Salafisten verbreiteten Wunsch bediente, in einem „islamischen Staat“ zu leben und zu kämpfen, wie das der Prophet Mohammed und seine Gefährten im 7. Jahrhundert getan hatten.

Wie bedeutsam dieses Motiv war, zeigte sich ab Juni 2014, als der IS tatsächlich ein staatsähnliches Gebilde erobert und ein Kalifat ausgerufen hatte. Tausende neuer Rekruten, unter ihnen auch zahlreiche Frauen, machten sich auf den Weg nach Syrien, um sich dem „Staat“ anzuschließen. Wäre es den Ausländern primär um den Sturz des Assad-Regimes gegangen, hätten sie auch der Nusra-Front und zahlreichen kleineren Organisationen beitreten können, die damals große Erfolge vorweisen konnten. Überhaupt ist Syrien ein Sonderfall, denn hier bedurfte es nicht einmal einer ausländischen Intervention, um Zehntausende dschihadistische Kämpfer zu mobilisieren. Als die USA 2014 und Russland 2015 in den Konflikt eingriffen, waren die meisten Ausländer bereits in Syrien angekommen.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist die Ursache des islamis­tischen Terrorismus

Diese Darstellung war schon in den siebziger Jahren falsch. Im Grunde handelt es sich bei der These, dass der so genannte Nahost-Konflikt die wichtigste Ursache des islamistischen Terrors sei, um eine populäre Sonderform des Arguments, dass ausländische Interventionen Terrorismus verursachten. Gerade in Deutschland heißt es oft, der israelisch-palästinensische Konflikt sei der Schlüssel- oder Kernkonflikt im Nahen Osten. So entsteht der Eindruck, man müsse nur diese Auseinandersetzung lösen, damit sich die Situation in der gesamten Region verbessere und den islamistischen Terroristen der Nährboden geraubt werde.

Diese Darstellung sagt mehr über die Weltsicht ihrer Vertreter als über den Nahen Osten aus. Denn mit dem Aufstieg der ölfördernden Staaten nach der Ölpreiskrise 1973 wurden die Anrainerstaaten des Persischen Golfes viel wichtiger als die Nachbarn Israels. Die großen Kriege der Region – der Iran-Irak-Krieg 1980 bis 1988, der Kuwait-Krieg 1990/91 und der Irak-Krieg 2003 – fanden immer häufiger dort statt und forderten ein Vielfaches der Opfer, die der ­israelisch-arabische Konflikt in einem ganzen Jahrhundert gefordert hat.

Nach Beginn der Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen infolge des arabischen Frühlings 2011 glauben immer weniger Menschen im Nahen Osten, dass Israel ihr größtes Problem sei, und die These von der zentralen Bedeutung des israelisch-palästinensischen Konflikts wird angesichts der Auswirkungen dieser Auseinandersetzungen immer absurder.

Der Konflikt ist eine wichtige Ursache des palästinensischen Terrorismus, doch speist der sich heute in erster Linie aus der militant-islamistischen Welt–anschauung der Hamas. Wie so oft sind deren Gewalttaten nicht nur eine bloße Reaktion auf die israelische Besatzung und einzelne Offensiven, sondern eine ideologisch begründete Entscheidung, die von der Politik des Gegners unbeeinflusst bleibt. Deshalb wäre es zwar uneingeschränkt positiv zu bewerten, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt eines Tages gelöst würde, doch hätte das kaum oder gar keine Auswirkungen auf die Auseinandersetzungen in Syrien und anderen Ländern – und schon gar nicht auf die transnationalen dschihadistischen Gruppierungen.

Es gibt keine militärische Lösung im Kampf gegen Terroristen

Wirklich nicht? Natürlich, wenn man die Bedeutung von militärischen Interventionen für die Mobilisierung von Terroristen überhöht, dann liegt auch die These nahe, dass neue Interventionen das Problem nicht lösen können. Hinzu kommt, dass besonders in Deutschland Militäraktionen grundsätzlich kritisch gesehen werden. Zwar ist es richtig, dass die Bekämpfung vieler Gruppierungen vor allem eine Aufgabe für die Polizei und Nachrichtendienste ist. Militärische Maßnahmen werden in der Regel nicht ausreichen, um terroristische Gruppierungen entscheidend zu schlagen; sie sollten deshalb von politischen und anderen Schritten flankiert werden. Doch sind Gruppierungen wie Al-Kaida oder der IS ohne den Einsatz von Militär nicht zu schlagen. Wer sie daran hindern will, Anschläge in der westlichen Welt zu verüben, muss sie auch in ihren Hauptquartieren und Hochburgen in Südasien und der arabischen Welt bekämpfen – und das kann nur das Militär leisten.

Dschihadistischen Gruppierungen gelingt es seit den neunziger Jahren immer wieder, in ihren Rückzugsgebieten in Afghanistan oder Syrien verheerende Anschläge zu planen. Prominente Beispiele sind die Angriffe auf New York und Washington am 11. September 2001 und die Pariser Attentate vom 13. November 2015. Wer ähnliche Vorkommnisse verhindern will, muss die Strukturen der Organisationen zerstören. Deshalb war auch die Interven­tion in Afghanistan 2001 richtig, wenngleich die hochgesteckten Ziele von damals nie realistisch waren.

Heute wird die Debatte über den Nutzen von militärischen Mitteln vor allem am Beispiel der Intervention der US-geführten Koalition im Irak und in Syrien seit 2014 geführt. Eine verbreitete These ist, dass die Luftangriffe den IS provoziert hätten, so dass dieser Terroristen nach Europa geschickt habe, die die Attentate in Paris im November 2015 und Brüssel im März 2016 verübt hätten. Diese Argumentation ist ebenso einleuchtend wie falsch. Denn der IS begann schon ab Frühjahr 2014 damit, europäische Kämpfer nach Frankreich, Großbritannien und Deutschland zu schicken, damit sie dort Strukturen aufbauen und Anschläge verüben. Die Ursache der IS-Terrorkampagne in Europa ist also eine strategische und möglicherweise stark ideologisch begründete Entscheidung, die gänzlich unabhängig von amerikanischer und europäischer Politik gefällt wurde. Daraus folgt auch, dass keine Änderung westlicher Politik den IS zur Beendigung seiner Angriffe bewegen würde. Wer diese stoppen will, muss den IS in seinem Kerngebiet im Irak und in Syrien zerschlagen und verhindern, dass er neue Rückzugsgebiete finden kann.

Richtig ist jedoch, dass militärische Maßnahmen allein nicht ausreichen. Politische Lösungen sind notwendig, um zu verhindern, dass der IS, Al-Kaida oder andere Organisationen erneut erstarken. Das gilt für Pakistan, das die Kontrolle über die Stammesgebiete gewinnen und seine Förderung der Taliban beenden muss. Das gilt ebenso für den Irak, wo die schiitische Regierung auch Sunniten an der Macht beteiligen sollte. In Syrien werden der IS und die Nusra-Front erst dann geschlagen sein, wenn der Bürgerkrieg endet.

Mangelnde Integration ist die Ursache des Terrorismus in Europa

Auch diese These ist in Deutschland weit verbreitet. Das macht sie nicht richtiger. In Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit werden wirtschaftliche und soziale Ursachen häufig für wichtiger erachtet als ideologische und religiöse Motivation. Dass eine auf extremistischer Islaminterpretation basierende Weltanschauung junge Leute in den Krieg treibt, ist für viele Europäer unverständlich. Dabei gibt es viele Hinweise, dass die Integrationsthese nicht zutreffen kann.

Zunächst einmal sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Denn Integrationsprobleme betreffen in Deutschland Hunderttausende junger Menschen, die Zahl der Salafisten liegt aber zwischen 10 000 und 20 000, die der Dschihadisten zwischen 1000 und 2000. Träfe die Integrationsthese zu, wäre eine deutlich höhere Zahl zu erwarten.

Viel wichtiger ist aber die Beobachtung, dass es kein eindeutiges Profil „des“ islamistischen Terroristen in Deutschland und Europa gibt. Zwar handelt es sich häufig um „radikale Verlierer“ ohne Schulabschluss, Ausbildung und Arbeit, und nicht selten kommen eine kleinkriminelle Vergangenheit oder Drogen- und Alkoholmissbrauch hinzu. Doch gibt es sehr viele Gegenbeispiele von gut ausgebildeten jungen Männern und Frauen, die aus ideologischen oder persönlichen Gründen Terroristen werden. Das gilt in Deutschland, vor allem aber in Großbritannien, wo islamistischer Terrorismus eher ein Mittelschichtphänomen ist.

Besonders aufschlussreich ist das Beispiel Belgien, wo sich vor allem Marokkaner und marokkanischstämmige junge Menschen den Dschihadisten anschließen. Marokkaner sind in Belgien die neben Türken größte Migrantengruppe. Sie unterscheiden sich darin, dass die Marokkaner zwar vielfältige Probleme haben, aber deutlich besser integriert sind als die Türken. Deren Probleme beginnen mit der Sprache, die die meisten marokkanischen Einwanderer schon aus ihrem ursprünglichen Heimatland kennen. Die Bildungschancen der Türken sind deutlich schlechter. Dennoch stammen fast alle Dschihadisten in Belgien aus Marokko.

Insgesamt unterscheiden sich türkische von nordafrikanischen Migranten dadurch, dass sie (im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung) unter den Dschihadisten in Europa unterrepräsentiert sind, während Marokkaner und Tunesier anteilig besonders stark sind – in Europa wie auch unter den ausländischen Kämpfern in Syrien und im Irak.

Der wichtigste Grund hierfür ist, dass der Dschihadismus des IS eine stark arabisch geprägte Ideologie ist, die zwar in wachsendem Maße Eingang in den türkischen Kulturkreis findet, aber für Araber besonders überzeugend und attraktiv zu sein scheint. Die Gründe, sich der Ideologie zuzuwenden, mögen variieren, aber sie ist der gemeinsame Nenner fast aller Dschihadisten. All das bedeutet nicht, dass mangelnde Integration kein Problem ist. Im Gegenteil, die Staaten Europas tun gut daran, sich diesem Thema zu widmen. Als Ursache des islamistischen Terrorismus ist sie aber weit überbewertet.

„It’s the ideology, stupid!“

Letztlich schon. Die Entscheidung, sich terroristischen Gruppierungen anzuschließen, geht auf eine ganze Reihe politischer, wirtschaftlicher, sozialer, persönlicher und ideologischer Motive zurück. Im Fall des islamistischen Terrorismus ist die Ideologie aber besonders bedeutsam. Mehr noch, mit dem Aufstieg des Salafismus ist die ideologische Dimension noch wichtiger geworden, wie gerade das Beispiel des IS zeigt. Wenn Deutschland Terrorismus zielgerichtet bekämpfen will, muss es zunächst verstehen, dass das Phänomen zu einem viel kleineren Teil als oft angenommen auf westliche Politik zurückgeht. Der Dschihadismus ist Teil einer ideologischen Entwicklung in der islamischen Welt, die global­historische Auswirkungen hat. Das bedeutet, dass die teils übergroße Vorsicht bei repressiven Maßnahmen fehl am Platze ist, denn eine entschlossene Terrorismusbekämpfung verringert die Gefahr von Anschlägen, führt aber nicht automatisch zur Radikalisierung unter Muslimen. Zudem müssen die präventiven Maßnahmen stärker auf die Bekämpfung der religiös-ideologischen Grundlagen abzielen.

Dr. Guido Steinberg arbeitet bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 62-67

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