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01. Sep 2006

Imperialismus mit guten Absichten

Beruht die Politik von Bush und Blair auf einer falschen Geschichtsinterpretation?

Der Historiker des britischen Empire, Bernard Porter, und der Politologe David Runciman betrachten die gegenwärtige Weltpolitik der USA und Großbritanniens in verschiedenen historischen Perspektiven.

Dem US-Präsidenten George W. Bush, dem britischen Premierminister Tony Blair sowie jenem Kreis der Architekten der Nach-„9/11“Welt, den so genannten Neokonservativen, wird bisweilen mangelhaftes historisches Wissen nachgesagt. Unter den „Neocons“ gelte angeblich allenfalls das Wälzen von Geschichtsbänden über das antike Römische Weltreich als chic – eine Vorliebe, die sie wohl unwissentlich mit den britischen Imperialisten des 19. Jahrhunderts teilen. Wäre das anders, wäre das Diktum des Verteidigungsminister Philosophen Donald Rumsfeld vom März 2003 vielleicht etwas vorsichtiger ausgefallen als „We don’t do Empire“.

Der emeritierte Geschichtsprofessor von der Universität Newcastle und große Kenner des britischen Empire Bernard Porter sieht das anders. In seinem über weite Strecken brillanten, gelegentlich etwas flapsig formulierten Buch „Empire and Superempire“ hält er das alte Britische Weltreich und das neue amerikanische „Superweltreich“ – mit derzeit 702 Militärstützpunkten in 130 Ländern – gegeneinander. Er stellt durchaus einleuchtende Vergleiche an, ohne so weit zu gehen, direkte Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen; die Einsicht in diese Unmöglichkeit ist laut Porter ohnehin die beste Lektion der Geschichte.

Aber sie hilft zur Orientierung: Porter macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die zuletzt vielfach auf die amerikanische und britische Politik angewendeten Begriffe von „Empire“ und Imperialismus meist bar tieferen historischen Wissens waren und oft auf vereinfachenden, viel zu generalisierenden und damit falschen Voraussetzungen beruhten.

Eine der beliebtesten: Bis heute ist der Mythos, der in dem zitierten Rumsfeldschen Diktum steckt, weit verbreitet, dass nämlich die Vereinigten Staaten per definitionem gar keine imperialistische Politik betreiben könnten, dass sie vielmehr selbst von Anfang an „antiimperialistisch“ handelten, indem sie sich ja 1776 selbst von der britischen Tyrannei befreit hätten und seitdem das glatte Gegenteil eines „Imperiums“, nämlich die demokratische Befreiung der Menschheit, anstrebten. Selbst viele Historiker (und Kritiker) der US-Außenpolitik weisen in der Regel darauf hin, dass sich diese, selbst wenn sie vielleicht bisweilen doch ein wenig imperialistisch war, sich von allen anderen Imperialismen qualitativ abhebe und Teil des amerikanischen „Exzeptionalismus“ sei.

Das sei ganz und gar nicht so, argumentiert Porter überzeugend: Amerikanischer Imperialismus der letzten 200 Jahre, der eben auch den expansionistischen „langen Marsch nach Westen“ einschließt (an dem das „Mutterland“ Großbritannien die zwölf Kolonien hindern wollte), war ziemlich gewöhnlich und dem britischen durchaus ähnlich. Außergewöhnlich ist er erst seit dem Ende des Kalten Krieges beziehungsweise den Anschlägen vom 11. September 2001.

Dass dies selten so gesehen wird, liegt auch daran, dass die alten Weltkarten von circa 1910 mit ihren großen, erdumspannenden, hellroten Flächen den Eindruck von direkter und formaler britischer Herrschaft suggerierten, die so nie bestand: Das viktorianische und dann edwardianische Britische Weltreich war ein Flickenteppich, bestehend unter anderem aus dem mit gerade einmal 2000 Kolonialbeamten indirekt „regierten“ Indien, aus längst selbstständigen ehemaligen Siedlungskolonien wie Australien, Handelsposten und ehemaligen „Pflanzungskolonien“ in der Karibik – „erworben“ von „zerstreuten“ oder „geistesabwesenden Imperialisten“, wie Porter bereits in einem früheren Buch dargelegt hat.

Denn die Gesellschaft des Mutterlands blieb vom Britischen Weltreich insgesamt bemerkenswert unberührt – auch eine Parallele zur oft beklagten Provinzialität weiter Teile der US-Gesellschaft, die Porter allerdings nicht beleuchtet. Das Empire war dabei so instabil und labil, dass der Historiker Paul Kennedy schon vor Jahren das Wort geprägt hat, nicht die Ursachen des Untergangs des Britischen Weltreichs seien die eingehendere Untersuchung wert, sondern die Frage, wie das Reich überhaupt so lange bestehen konnte.

Kapitalismus, ausgreifender Handel und Investitionen, unter dem Banner Free Trade oder Globalisierung, die Rechtfertigung des eigenen Handels mit zivilisatorischen Argumenten – all dies sind Punkte, in denen Porter Ähnlichkeiten zwischen dem britischen Imperialismus, insbesondere dem des 19. Jahrhunderts, und dem amerikanischen von heute feststellt: Einst sprach der Missionar und Afrika-Entdecker David Livingstone von „Handel und Zivilisation“ in einem Atemzug, heute die USAußenministerin Condoleezza Rice von „Märkten und Demokratie“.

Es gibt aber auch gravierende Unterschiede: Mit dem daheim weitgehend entmachteten Adel hielt sich Großbritannien eine Klasse von fähigen Administratoren, deren paternalistische Instinkte und verhältnismäßig häufig anzutreffender Respekt vor anderen Kulturen sie allerdings in Konflikt mit den „free tradern“ brachte. Die USA scheinen dagegen unwillig und schlecht gerüstet für direkte Ausübung von Fremdherrschaft und Verwaltung, wie Paul Bremers ein Jahr währende „Vizekönigschaft“ im Irak 2003/04 gezeigt hat.

Eine noch bedeutendere Differenz besteht im amerikanischen Sendungsbewusstsein – ein ausgeprägter ideologischer Aspekt, der laut Porter auf eine Nähe zum napoleonischen oder sowjetischen Reich verweist. Die USA propagieren heute, wie es im neokonservativen „Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert“ hieß, nicht mehr nur ihre Interessen, sondern Prinzipien weltweit. Hinzu kommen die Schubkräfte, die 9/11 ausgelöst oder ermöglicht hat, sowie die historisch einmalige Hegemonie der USA. All dies transzendiert den britischen Imperialismus, und Porter spricht daher vom „Superempire“ – das aber womöglich ähnliche Anfälligkeiten hat wie das britische Empire vor hundert Jahren.

Dabei ist es ungleich stärker zum Erfolg verdammt: Wenn Internationalismus ausgeschlossen ist, bleibt, ab gesehen vom imperialen Kollaps, nur der Sieg des liberalen Imperialismus, in dem die Welt nur noch aus Demokratien besteht, die gemäß der Idee vom „democratic peace“ nicht länger gegeneinander Krieg führen, oder aber der Zustand eines permanenten militärischen Imperialismus. Oder das Rad der Geschichte dreht sich weiter, und die Zeichen stellen sich auf „internationalen Imperialismus“ – auch der ist nichts Neues: Ramsey MacDonald, der später, 1926, der erste LabourPremierminister Großbritanniens wurde, plädierte zur vorletzten Jahrhundertwende leidenschaftlich für einen solchen.

Gute Absichten

Der Cambridger Politologe und Publizist David Runciman betrachtet die Gegenwart – fokussiert auf den britischen Premierminister Tony Blair – in seinem Buch „The Politics of Good Intentions“ ebenfalls in diversen historischen Perspektiven, nur leider nicht immer so erhellend wie Porter. Was einmal zupackende Essays und Aufsätze für die London Review of Books waren, ist, zur Buchform ausgebaut, oft überladen geraten. Auf eigentümliche Weise ist das Niveau, auf dem David Runciman Blairs Rechtfertigungsrhetorik auseinander nimmt, dem Gegenstand beinahe schon unangemessen.

Runciman spricht Blair – und Bush – nicht grundsätzlich „gute Absichten“ ab, kritisiert aber nachhaltig die Folgen eben jener wohlmeinenden Politik und deren Legitimationen, mit denen sich vor allem der britische Premierminister, aber auch der USPräsident, von den Konsequenzen ihres Tuns, ja von dem bloßen Erwägen solcher abkoppeln. Der Autor sieht daher dennoch Scheinheiligkeit und das Messen mit zweierlei Maß am Werk, zum Beispiel in der zugespitzten Rhetorik von der „existenziellen Gefahr“, die letztendlich jedes Handeln rechtfertigen kann, oder in der von Blair oft wiederholten Behauptung, die Anschläge vom 11. September 2001 hätten „alles verändert“ – ohne es widersprüchlich zu finden, dennoch weiterhin Analogien beispielsweise zu Hitler und NaziDeutschland zu bemühen.

All dies wird äußerst detailliert und vor dem Hintergrund weit gefächerter historischer und politikwissenschaftlicher Kenntnisse vorgetragen, überzeugt dennoch nicht immer restlos. Manche von Runcimans historischen Analogien sind wenn nicht krude, so doch unsinnig und eher assoziativ: Der NachkriegsIrak hat mit dem Deutschland der Weimarer Zeit ebensowenig zu tun wie mit dem Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ein unhistorischer Vergleich, den sowohl Rice als auch der frühere britische Außenminister Jack Straw angestrengt haben. Und Gedankengängen, die in kurzer Abfolge den Bogen spannen von Blair zu Max Webers Vorlesung „Politik als Beruf“ vom Januar 1919 und einzelnen Begebenheiten in Kurt Eisners bayerischer Räterepublik, über eine sich angeblich selbstkasteiende deutsche Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg bis zu dem ebenfalls für Selbstzüchtigung bekannten britischen Premierminister im 19. Jahrhundert, William Gladstone, verweigert ein zunehmend irritierter Leser irgendwann die Gefolgschaft.

Dennoch demonstrieren beide Bücher eine Einsicht, die die politische Literatur heute des Öfteren vernachlässigt: dass nämlich nur mit dem Wissen um die Vergangenheit zu verstehen ist, was heute in der Welt geschieht.

Bernard Porter: Empire and Superempire. Britain, America and the World. Yale University Press, New Haven/CT und London 2006. 211 Seiten, £ 18,99.

David Runciman: The Politics of Good Intentions. History, Fear and Hypocrisy in the New World Order. Princeton University Press, Princeton/NJ und Oxford 2006. 211 Seiten, £ 18,95.

Henning Hoff, geb. 1970, arbeitet als Korrespondent in London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 132-135

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