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01. Mai 2003

Imperialer oder pluralistischer Frieden?

Plädoyer für eine Politik der kooperativen Balance

Folgt aus der herausragenden Weltmachtposition der USA langfristig eine reine Unipolarität? Nach Ansicht des Autors dürfte eine imperiale US-Politik auf Dauer weder im demokratischen Europa noch in der demokratischen Gesellschaft Amerikas hinreichende Akzeptanz finden. Die konkurrierenden Staaten sollten eine kooperative Balancepolitik betreiben, um eine multipolare Weltordnung zu fördern.

Als der Ost-West-Konflikt beendet und die jahrzehntelange bipolare Machtverteilung obsolet geworden waren, erklärte der amerikanische Präsident, George Bush sen., die USA seien nunmehr nicht nur – wie bisher – die „Führungsmacht des Westens“, sondern die „Führungsmacht der Welt“. Der globale amerikanische Führungsanspruch wurde aus der neuen Machtverteilung hergeleitet. Auch seine Nachfolger Bill Clinton und George W. Bush haben in diesem Sinne argumentiert. In der Tat ist die herausragende Weltmachtposition der Vereinigten Staaten im neuen internationalen System evident. Ist nun eine reine Unipolarität mit langfristiger Dauer entstanden?1

Wenn man nach verschiedenen Politikbereichen differenziert, ist eher eine Kombination aus unipolarer und multipolarer Machtverteilung feststellbar. Man kann von einer unipolaren Machtverteilung im gegenwärtigen Weltsystem sprechen, wenn man auf die herausragende Qualität und Quantität des militärischen Potenzials der USA abhebt.2 In den nichtmilitärischen Bereichen ist jedoch die Machtverteilung anders, nämlich multipolar. Eine Multipolarität ist eindeutig im geoökonomischen Bereich vorhanden, genauer gesagt eher eine Tripolarität. So konzentriert sich die globale Wirtschaftskraft auf die drei Regionen Amerika, Europa und (Südost-)Asien. Zwischen USA, EU und Japan (das freilich herbe Rückschläge zu verkraften hat) als Kernmächten besteht ein relatives Gleichgewicht; beim Welthandel rangiert die EU sogar vor den USA, und währungspolitisch ist ein Duopol entstanden.

Die geoökonomische Machtverteilung wird sich mittelfristig ändern;  China ist wirtschaftlich und politisch die aufsteigende Großmacht. Für die gesamtpolitische Grundstruktur ist vor allem relevant, dass mit Russland und China neben den USA zwei unabhängige Großmächte, die Nuklearwaffen besitzen, existieren (und die neue Nuklearmacht Indien meldet ebenfalls einen Großmachtanspruch an). Zusammen mit den USA, Russland und China bilden Japan und die „embryonale“ Macht EU, mit den Führungsmächten Deutschland, Frankreich und Großbritannien (die beiden letztgenannten mit dem Status einer Nuklearmacht) eine Spitzengruppe, in der die USA als die globale Zentralmacht positioniert sind.

Sowohl die USA als auch die meisten anderen Staaten der Spitzengruppe handelten in den neunziger Jahren so, wie es in Anbetracht der skizzierten Machtverteilung (der neorealistischen Theorie folgend) zu erwarten war.

Sieht man zunächst von der imperialen Steigerung der amerikanischen Hegemonialpolitik nach dem 11. September 2001 ab, so lässt sich die Politik der Vereinigten Staaten als eine machtbewusste, gemäßigte Hegemonialpolitik charakterisieren,3 mit einer Mischung aus unilateralen und multilateralen Elementen. Dem entsprach in dieser Periode die Reaktion der konkurrierenden Mächte (mit Ausnahme Großbritanniens). Ihre Schwäche (in Europa die Uneinigkeit zwischen den führenden Mächten Frankreich, Großbritannien und Deutschland) und die prinzipielle Kooperationsbereitschaft der gemäßigten Hegemonialmacht erklären, dass die Balancepolitik betont kooperativ, aber wenig konkret war. Sie äußerte sich primär konzeptionell. Russland, China und Frankreich betonten in zahlreichen offiziellen Stellungnahmen, zum Teil auch in gemeinsamen Erklärungen, dass eine unipolare Welt nicht akzeptabel sei und dass sie eine „multipolare Welt“ anstrebten. Sogar im wirtschaftlich geschwächten Japan fand die Neigung, gegenüber den USA „nein“ zu sagen, größere Zustimmung. Deutschland hat sich verbal das französische Konzept „Europe-puissance“ zu eigen gemacht.4

Die Europäische Union hat mit ihrer Entscheidung auf dem Kölner Gipfel vom Juni 1999, eine eigene schnelle Eingreiftruppe aufzubauen, dieses Konzept im militärisch-sicherheitspolitischen Bereich konkretisiert. Der hinhaltende Widerstand der Vereinigten Staaten zeigte, dass die Kooperationsbereitschaft der Hegemonialmacht ihre klaren Grenzen hat, wenn ihr bestimmender Einfluss in der Sicherheitspolitik auch nur entfernt gefährdet erscheint. Im geoökonomischen Bereich haben die USA zwar bisher die säkulare Tendenz der Globalisierung am besten nutzen können, aber die Europäische Union hat wirtschaftlich, vor allem währungspolitisch, eine erfolgreiche Balancepolitik betrieben. Der geoökonomische „struggle for supremacy“ (Jeffrey E. Garten) ist moderat und offen geblieben. Geoökonomisch ist die Balance zwischen den Triade-Mächten bzw. -Regionen das bestimmende Moment; geopolitisch hingegen die Kombination von amerikanischer Hegemonie und kooperativer Balance.

Die Tendenz der Regierung Bush jun., von der gemäßigten Hegemonialpolitik abzuweichen, erfolgte nach dem Einschnitt des 11. September 2001 und ist – ebenso wie die Reaktionen der anderen Mächte – in Zusammenhang mit dem neuen und neuartigen globalen Konflikt zu erklären. Die Weltmacht USA wurde auf neue Weise im eigenen Land mit dem Macht- und Sicherheitsdilemma, das in der Staatenwelt herrscht, konfrontiert: höchste Sicherheitsgefährdung bei gleichzeitig größter Macht. Die amerikanische Regierung versucht, durch den Einsatz militärischer Mittel, gegebenenfalls auch durch „präventive Selbstverteidigung“, das Macht- und Sicherheitsdilemma zu überwinden. „Counter-terrorism“ ist die prioritäre Politik der Weltmacht geworden.

Antiterrorkrieg

Wie wirken sich der von den Vereinigten Staaten organisierte und geführte Antiterrorkrieg (Operation Enduring Freedom) und vor allem die zweite Kriegsphase (Operation Iraqi Freedom) auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der weltpolitischen Spitzengruppe aus? Da der Antiterrorkrieg gegen die transnationale islamistische Al Khaïda und gegen sie beherbergende Länder von Staaten geführt wird, sind logischerweise die Bedingungen der realen internationalen Machtverteilung entscheidend. Daher bestimmen die herausragende Macht der USA und ihr daraus resultierender globaler Führungs- und Ordnungsanspruch die Operation Enduring Freedom.

Die anderen von den USA geführten Staaten haben sich (ungeachtet unterschiedlicher, zum Teil unfreiheitlicher Gesellschafts- und Staatsordnungen) der Operation Enduring Freedom deshalb angeschlossen, weil sie Al Khaïda und ähnliche Organisationen in ihren jeweiligen Ländern als Bedrohung ihres innerstaatlichen Gewaltmonopols und die islamistischen Ziele als Bedrohung der internen und internationalen Ordnung ansehen. Der gemeinsame Interessennenner der Koalitionsmitglieder ist die Eliminierung terroristischer Gewalt in den Staaten und Gesellschaften und in der Gesellschafts- und Staatenwelt. Die nichtamerikanischen Koalitionsmitglieder müssen nolens volens in Kauf nehmen, dass die weltpolitische Position des Koalitionsführers im Zuge des „Langen Feldzugs“ weiter gestärkt wird (so wie dies beim Ersten und beim Zweiten Weltkrieg und beim „Kalten Krieg“ der Fall war).

Aber die Staaten der Spitzengruppe sind bestrebt, durch ihre aktive Teilnahme an der Operation Enduring Freedom einen amerikanischen Unilateralismus zu bremsen, gewissen Einfluss auf die Politik zu gewinnen und möglichst eine Art Kollektivführung zustande zu bringen. Neben bilateralen Vereinbarungen (die dem selektiven Bilateralismus der Hegemonialmacht sehr zupass kommen) versuchen sie, die multilateralen Handlungsinstrumente, die die Charta der Vereinten Nationen für die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats bereithält (Vetorecht), zu nutzen5 – wie das im Fall Iraks geschehen ist und weiterhin geschieht. Die Zustimmung zur Politik der amerikanischen Führung in der ersten Phase des Antiterrorkriegs (Intervention in Afghanistan), die auf der genannten Interessengemeinsamkeit beruhte, ist mit der Irak-Politik der Vereinigten Staaten  in Frage gestellt worden: ohne Akzeptanz keine Hegemonie! Die amerikanische Hegemonie ist an eine Wegscheide gelangt.

Diese Entwicklung resultiert aus dem Zusammenhang zwischen der ordnungspolitischen Ausweitung des Antiterrorkriegs durch die USA und der Reaktion der konkurrierenden Mächte, die verhindern wollen, dass – um es plakativ zu formulieren – aus der Operation Enduring Freedom eine „Operation Enduring US-Hegemony“ wird.

Die Verbindung von counter-terrorism, counter-proliferation und prevention sowie die explizite Einbettung dieser Trias in ein globales amerikanisches Ordnungskonzept begannen mit Präsident Bushs Konstruktion der „Achse des Bösen“ in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation vom 29. Januar 2002 und fanden in der Nationalen Sicherheitsstrategie vom 17. September desselben Jahres ihren autoritativen Ausdruck. Wie G. John Ikenberry6 und andere gezeigt haben, offenbart dieses Schlüsseldokument Amerikas imperiale Ambitionen. Dementsprechend wird in der Praxis gegenüber Europa statt Überzeugung das imperiale Prinzip „divide et impera“ angewandt und mit Sanktionen gedroht. Dass die neue amerikanische Politik keine Kopfgeburt so genannter neokonservativer Ideologen ist, dass vielmehr die Tendenz einer imperialen Politik die logische Kulmination von Amerikas herausragender Position ist,7 wird häufig verkannt.

Der 11. September schuf für deren praktische Umsetzung ein günstiges internationales Umfeld, den „moment of opportunity“ (Bush). Kein Geringerer als Henry Kissinger hat bereits unmittelbar nach den Terroranschlägen und Monate vor der Verkündung der Nationalen Sicherheitsstrategie in diesem Sinne argumentiert: „In dem Krieg gegen den Terrorismus geht es nicht nur darum, Terroristen aufzuspüren. Vor allem geht es darum, sich nicht die außerordentliche Gelegenheit nehmen zu lassen, die sich für eine Umgestaltung des internationalen Systems ergeben hat.“8 Die Intervention gegen Irak, um nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein die „lebenswichtige Region“ (Bush) nach amerikanischen Vorstellungen und Interessen neu zu ordnen, entspringt dieser Überzeugung, ist die erste Anwendung der neuen Strategie, der erklärtermaßen weitere Anwendungen folgen sollen.

Gegen die unilaterale Neuordnungspolitik der Vereinigten Staaten opponieren die anderen großen Mächte außer Großbritannien, das sich an die USA anlehnt und durch seine traditionelle „special relationship“ eine gewisse Mitführung und Mitgestaltung zu gewinnen erhofft, aber gleichzeitig auch über seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat Einfluss auszuüben versucht. Frankreich, Russland und China verstärken ihre schon seit langem verfolgte Politik gegen eine amerikanische Welthegemonie und für eine multipolare Weltordnung. Dass jetzt auch Deutschland den USA die Gefolgschaft verweigert hat und von seiner traditionellen Spagatpolitik abgewichen ist, mag anfangs der Wahlkampftaktik geschuldet gewesen sein. Der tiefere Grund ist, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder am 10. Februar 2003 im SPD-Vorstand ausgeführt hat, die Einschätzung, dass es darum gehe, „ob es eine einzelne Macht gibt, die die Dinge in der Welt bestimmt oder ob wichtige Fragen von der internationalen Gemeinschaft entschieden werden“.9 Die Berufung auf die fiktive Staatengemeinschaft heißt im Klartext: Mitwirkungsanspruch durch die Einschaltung multilateraler Gremien. Damit macht sich Deutschland die strategische Linie Frankreichs, Russlands und Chinas zu Eigen. In diesem Sinne stellte der russische Präsident, Wladimir Putin, bei der Verabschiedung der französisch-deutsch-russischen Erklärung am 10. Februar 2003 optimistisch fest, „ein erster Schritt zu einer multipolaren Welt“ sei getan.10 Und der französische Präsident, Jacques Chirac, wie der deutsche Bundeskanzler Schröder hoben ihren Anspruch hervor, ein „Europe-puissance“, einen EU-Machtpol in einer multipolaren Welt zu schaffen.11 Der ordnungspolitische Kerngehalt der französisch-deutsch-russischen „Gelegenheitskoalition“ könnte nicht deutlicher benannt werden.

Ad-hoc-Koalitionen

Schon vor der Irak-Intervention hat der amerikanische Politikwissenschaftler James Kurth prognostiziert: „Ein Krieg und ein Sieg der Vereinigten Staaten in Irak würde das amerikanische Imperium erweitern, aber auch die Opposition gegen das Imperium mobilisieren und erweitern“.12 Sicher wird es, wie Robert Kagan hofft und fordert, immer wieder Staaten geben, die sich an die „neue Realität der amerikanischen Vorherrschaft anpassen“13 („bandwagoning“ nennt man das in der amerikanischen Politikwissenschaft). Wahrscheinlicher ist jedoch als allgemeine Tendenz eine, wie Kurth es nennt, „Dialektik von imperialer Expansion und Opposition“, ein Spannungsverhältnis zwischen Hegemonial- bzw. Imperialstreben und Gleichgewichtspolitik.

Der ordnungspolitische Dissens zwischen den konkurrierenden Mächten der Spitzengruppe, den der Irak-Konflikt manifest gemacht und konkretisiert hat, dürfte sich in den weiteren Phasen des „Langen Feldzugs“ (in Iran, Nordkorea oder Syrien) jeweils con variatione reproduzieren. Daraus ergibt sich eine tendenzielle Veränderung der internationalen Konfiguration. Neue Ad-hoc-Gruppierungen entstehen nicht nur in der Antiterrorkoalition, sondern auch speziell in der weltpolitischen Spitzengruppe, und zwar unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten (nicht unbedingt in anderen Fragen): einerseits die USA und ihre Gefolgschaftsstaaten, um eine hegemonial-imperiale Ordnung zu schaffen, und andererseits die konkurrierenden Mächte Frankreich, Deutschland, Russland und China, die mit weiteren Staaten eine kooperative Balancepolitik betreiben, um eine multipolare Weltordnung zu fördern.

Das werden, wohlgemerkt, keine starren, sondern flexible und von Fall zu Fall variierende Konfigurationen sein; differente Gruppierungen in den verschiedenen Politikbereichen (wie z.B. im geoökonomischen Bereich), so dass sich die Konfigurationen überlappen. Wie bisher werden die konkurrierenden Mächte bei Fragen globaler und regionaler Ordnungspolitik versuchen, über den UN-Sicherheitsrat und andere multilaterale Gremien Einfluss zu gewinnen. Die USA werden den UN-Sicherheitsrat ihrerseits insoweit und solange in Anspruch nehmen, wie er – und das heißt konkret: alle anderen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats plus vier weitere Mitglieder – zur Legitimierung amerikanischer Ordnungspolitik bereit ist. Mithin werden den Bemühungen, die Vereinigten Staaten durch den Sicherheitsrat multilateral einzubinden, enge Grenzen gesetzt sein. Die Vetomacht im Sicherheitsrat ist (insofern hat Kagan Recht) nur ein „Substitut der Macht“. Indes sollte man es unter dem Aspekt der Legitimierung bzw. Nichtlegitimierung nicht für gering erachten.

Militärisch aufrüsten?

Was Europa anbelangt, stellt sich die strategische Frage, ob die europäischen Staaten zu einer gemeinsamen Politik und zur realen Steigerung und Bündelung ihrer militärischen Macht bereit und in der Lage sind. Frankreich hat schon vor einigen Jahren sein Nuklearpotenzial modernisiert und jetzt konsequenterweise seinen Wehretat erhöht. Auch in Deutschland gewinnt im Lichte der Irak-Erfahrungen die Einsicht an Boden, dass die Europäer (und somit eben auch Deutschland) ihre „militärischen Kräfte“ verstärken müssen, „um auch in diesem Sektor ernst genommen zu werden“.14 Die katalysatorische Wirkung der Irak-Erfahrung ist in anderen europäischen Ländern ebenfalls zu beobachten.

Die Gegenbewegung rekrutiert sich nicht nur aus Anhängern der „Zivilmacht Europa“. Mit der Warnung, Europa dürfe und könne nicht gegen die USA aufgebaut werden, versuchen die „Atlantiker“, die kooperative Balancepolitik gegenüber Amerika als antagonistische Balancepolitik gegen die USA zu diskreditieren; und sie operieren mit der Propagandakeule des „Antiamerikanismus“-Vorwurfs. So abwegig dies auch ist, eine eigenständige europäische Politik wird erklärterweise kaum den Beifall der USA finden. Auch der deutsch-französische Freundschaftsvertrag und die deutsch-französische Brigade bzw. das Euro-Korps sind von Adenauer/de Gaulle bzw. Kohl/Mitterrand gegen den Widerstand der amerikanischen Regierung und der Atlantiker zustande gebracht worden.

Europäische Schritte hin zu mehr Eigenständigkeit nur mit Zustimmung Amerikas machen zu wollen, wie die „Atlantiker“ und ihre amerikanischen Stichwortgeber anraten, würde diese Eigenständigkeit von vornherein verhindern. Der weitere Einwand, eine Hegemonie Deutschlands oder Frankreichs würde in Europa noch weniger als eine amerikanische Hegemonie Akzeptanz finden, ist nur abstrakt richtig. Er verkennt die konkrete Sachlage, dass europäische Integration als „integratives Gleichgewicht“ die Hegemonie eines europäischen Staates strukturell ausschließt und dass diese Struktur durch den Vertrag von Nizza auch für die erweiterte EU festgeschrieben wurde.15 Freilich ist die EU, wie sich beim Irak-Konflikt zeigte, schon jetzt in der transatlantischen Frage gespalten; eine EU-25 wird es erst recht sein.

Einige mitteleuropäische Beitrittsländer sind ausdrücklich sowohl gegen das „Konzept vom Gegengewicht“ als auch grundsätzlich gegen eine „europäische Außenpolitik“ (wie der neue tschechische Staatspräsident, Václav Klaus, unlängst offen erklärt hat). Der Irak-Konflikt war das Menetekel für die Vorstellung, die EU-15 oder EU-25 könnte – über ihr geoökonomisches Gewicht hinaus – ein einheitlicher geopolitischer Machtpol sein oder werden. Gewogen und zu leicht befunden!

Ob dieser Sachverhalt und die Praxis der erweiterten EU dazu führen werden, dass die Möglichkeit einer „verstärkten Zusammenarbeit“ zwischen einigen EU-Mitgliedern – ausgehend von der neuen deutsch-französischen Gemeinsamkeit – auch im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich (innerhalb oder außerhalb des EU-Vertrags) genutzt wird („Kerneuropa“, „Pioniergruppe“), ist eine offene, aber zukunftsentscheidende Frage. Wenn sie mittelfristig positiv beantwortet würde, könnte in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie in der Währungspolitik so etwas wie „European integration of the willing“ entstehen. Einstweilen ist Europa in einer prekären Situation: Die hinreichende Akzeptanz der amerikanischen Hegemonie ist nicht mehr und „Europe-puissance“ noch nicht vorhanden.

Imperiale Ordnung

Diese hier nur skizzierten Auswirkungen, die der Dissens über den Antiterrorkrieg und den Irak-Konflikt auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Spitzengruppe hat bzw. haben kann, würden bei weitem übertroffen, wenn mit der amerikanischen Reaktion auf die Herausforderungen des grenzüberschreitenden islamistischen Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen die Durchsetzung eines neuen strukturellen Ordnungsprinzips in der internationalen Weltpolitik einherginge und erfolgreich wäre. Das wäre dann mehr als eine „Neuvermessung der internationalen Politik“, nämlich die Änderung des bisher gültigen Maßes.

In diesem Sinne haben Kissinger16 und andere Autoren die Ablösung des Souveränitätsprinzips, das seit dem Westfälischen Frieden trotz gewisser Relativierungen grundsätzlich gilt, propagiert. Bezeichnenderweise enthielt der Westfälische Frieden eine „Antiprotest“-Klausel, gegen einen Einspruch der universalen Ordnungsmächte, d.h. Kaiser und Papst. Die Ordnung des Westfälischen Friedens ist antiimperial; die derzeit propagierte Abkehr von dieser Ordnung richtet sich unausgesprochen gegen diesen fundamentalen Aspekt. Nachdem die Norm der Nichtintervention schon im Zeichen der Menschenrechtsdurchsetzung und „humanitären Intervention“ ausgehöhlt worden ist, wird nun die Politik der Eindämmung durch die Politik der präventiven Intervention des Hegemons (die den gewaltsamen Regierungswechsel einschließt) ersetzt. Das ist in der Tat ein gravierender Schritt in eine imperiale Richtung.

Ob auf diese Weise eine internationale Ordnung entstehen kann, die die Bezeichnung „Frieden“ verdient, ist höchst zweifelhaft. Nimmt man die offiziellen Erklärungen der amerikanischen Regierung ernst (und das sollte man), so ist die Verkündung des „Krieges“ und des „Langen Feldzugs“ gegen den internationalen Terrorismus nicht metaphorisch (wie „Krieg gegen die Armut“) gemeint; und der Kriegszustand wird zum Dauerzustand, denn der völlige und endgültige Sieg über alle international operierenden Terroristen und deren staatliche Unterstützer dürfte in dieser Welt realiter nicht erreichbar sein. Allerdings ist dieser Krieg bekanntlich weder in Amerika noch in den anderen Staaten von dem verfassungsmäßigen Staatsorgan förmlich erklärt worden – ebenso wenig wie die Kriege in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn Krieg ist ja seither kriminalisiert und semantisch eskamotiert worden.17 Aus Kriegsministerien wurden Verteidigungsministerien; aus Kriegsallianzen Verteidigungsbündnisse. Aus Kriegen wurden vom UN-Sicherheitsrat angeordnete oder mandatierte Zwangsmaßnahmen (collective measures) oder Akte der Selbstverteidigung gegen militärische Angriffe (bei gleichzeitig extensiver Auslegung dieses Begriffs).

Mit der Kriminalisierung des Krieges ist auch, wie bereits Carl Schmitt scharfsinnig bemerkt hat, die bemerkenswerte Errungenschaft des europäischen Völkerrechts, die „Hegung“ des Krieges, aufgegeben worden. Der Kriegsgegner wird zum Verbrecher, der vernichtet oder abgeurteilt werden muss. Und wenn es keine rechtliche Kriegserklärung gibt, nicht geben darf, gibt es logischerweise auch keinen Friedensschluss, sondern nur vom Sieger diktierte Waffenstillstände, die durch hegemonial-imperiale Macht aufrechtzuerhalten sind. Das heißt aktuell: Um „enduring freedom“ in einem globalen Frieden, der Pax Americana, herzustellen, wird ein „enduring war“ in verschiedenen Phasen (notfalls auch mit atomaren Waffen) geführt, gerechtfertigt als „präventive Selbstverteidigung“.

Einige europäische „Atlantiker“, deutsche zumal, erklären, dass sie einen solchen imperialen Frieden dem sonst angeblich drohenden Chaos vorziehen; sie bekennen in aufschlussreicher Analogie: „Civis romanus (i.e. americanus) sum“.18 Hingegen wollen die „alten Europäer“ Bürger ihres Staates und europäische Bürger sein und bleiben; sie wollen die Freiheit der europäischen Staaten und Europas, die zugleich die Voraussetzung für Demokratie und Selbstbestimmung ist, bewahrt wissen.

Imperialer oder pluralistischer Frieden? Auf Dauer dürfte eine imperiale Politik der USA weder im demokratischen Europa noch in der demokratischen Gesellschaft Amerikas hinreichende Akzeptanz finden. Ohne „checks and balances“ gibt es im Staat und erst recht in der machtpolitisch bestimmten, nicht herrschaftsmäßig organisierten Staatenwelt keine Freiheit, keinen Frieden in Freiheit. Mit einer kooperativen Balancepolitik im Denken und Handeln könnte Europa (wohl am ehesten zunächst ein „Kerneuropa“) den „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ finden19 und so gemeinsam mit den anderen Mächten zu einer freiheitlichen Weltordnung und zum gemeinsamen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus beitragen. Das wäre gewiss ein langer, inkrementaler Prozess. Aber auch einzelne Schritte brauchen eine Zielorientierung, insbesondere an Weggabelungen.

Anmerkungen

1  William C. Wohlforth, The Stability of a Unipolar World, in: International Security, Jg.24, Nr. 1, S. 5–41.

2  Ausführlicher dazu und zu Folgendem Link, Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2001.

3  In Anlehnung an das Standardwerk von Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 2. Neudruck, Aalen 1974, wird hier zwischen Hegemonie und Imperium begrifflich unterschieden. Hegemonie ist ein Führungsverhältnis, bei dem ein Staat „bestimmenden Einfluss“ ausübt und die ihm folgenden Staaten dies akzeptieren. Hegemonie/Führung steht also „ungefähr in der Mitte“ zwischen bloßem Einfluss und Herrschaft/Imperium – mit Schwankungen in die eine oder andere Richtung. Überzeugung und Akzeptanz sind für Hegemonie, Befehl/Zwang und Gehorsam/Unterwerfung für Imperium die entscheidenden Kriterien.

4  Vgl. Rede des deutschen Bundeskanzlers, Gerhard Schröder, vor der französischen Nationalversammlung am 30. November 1999, in Auszügen abgedruckt in: Internationale Politik, 4/2000, S. 94 ff.

5  Vgl. dazu Link, Der UN-Sicherheitsrat – relevant wofür und für wen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 11.3.2003 und die ausführlichen Erörterungen in der oben zitierten Studie (a.a.O., Anm. 2), Kap. V.

6  G. John Ikenberry, America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, Jg. 81, Nr. 5, September/Oktober 2002, S. 44–62.

7  James Kurth, Confronting the Unipolar Moment, in: Current History, Jg. 101, Nr. 659, Dezember 2002, S. 403–408 (hier S. 403).

8  Henry Kissinger, Die Herausforderung Amerikas, München und Berlin 2002, S. 14.

9  Zitiert nach Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 11.2.2003. Vgl. auch Michael Hedtstück und Gunther Hellmann, Wir machen einen deutschen Weg, in: Bernd W. Kubbig (Hrsg.), Brandherd Irak, Frankfurt/Main 2003, S. 225–234.

10Vgl. Markus Wehner, Gewinner Putin, in: FAZ, 13.2.2003.

11Vgl. Michaela Wiegel, Letzte Etappe der Entfremdung, in: FAZ, 12.3.2003.

12Vgl. Kurth, a.a.O. (Anm. 7), S. 408.

13Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003, S. 114.

14So Außenminister Joschka Fischer in einem Interview mit der FAZ, 17.3.2003. Bundeskanzler Schröder hat sich jüngst mehrfach ähnlich geäußert.

15Vgl. Link, Die Entwicklungstendenzen der Europäischen Integration (EG/EU) und die neorealistische Theorie, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 48, H. 3, September 2001, S.302–321.

16S.  Henry Kissinger, Preemption and the End of Westphalia, in: New Perspectives Quarterly, Jg. 19, Nr. 4, Herbst 2002, S. 31–36.

17Am weitesten ist verfassungsrechtlich die Bundesrepublik Deutschland gegangen. Das Grundgesetz kennt keine Kriegserklärung, sondern nur die Feststellung des Verteidigungsfalls.

18Alexander Schuller, Wir brauchen das Imperium Americanum, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.3.2003.

19Vgl. Link, Europäische Sicherheitspolitik, Der Ausgang Europas aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, in: Merkur, Jg.54, H. 9/10, September/Oktober 2000, S.916–928. Der Untertitel paraphrasiert Kants berühmte Definition der Aufklärung („Was ist Aufklärung?“).