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01. Juli 2012

Im Garten mit Pol Pot

Kambodscha, 20 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs

Erstaunliches Wirtschaftswachstum und extreme Ungleichheit, autoritäre Regierung und lebendige Zivilgesellschaft, alter Filz und junge Bevölkerung: Kambodschas Weg vom Extremfall eines Failed State zu einem Land, in dem es sich leben lässt, ist ein dramatischer, ambivalenter, schmutziger Prozess. Ein Reisebericht aus Phnom Penh.

Daran merkt man vielleicht, dass man älter wird: Dass man Geschichten für aktuell hält, die man vor zehn Jahren hörte. Es fühlt sich einfach nicht an, als sei es schon so lange her. So ging es mir, als ich nach Phnom Penh fuhr.

Bekannte hatten mir wilde Geschichten erzählt, in denen Revolver, Drogensucht, endemische Straßen­prostitution und sogar Handgranaten vorkamen. Eine dieser Geschichten handelte von einer Party bei einem französischen UN-Mitarbeiter. Es wurde spät und man war wohl etwas laut. Schließlich stand der Nachbar auf der Terrasse. Wenn nicht auf der Stelle Ruhe einkehre, sprach er, nur eine leise Drohung in der Stimme, dann werde er für Ruhe sorgen, und zwar mit einer Handgranate. Um ­seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hatte er die Granate gleich mitgebracht.

Mit solchen und ähnlichen Anekdoten im Ohr – eine Freundin erzählte mir, eine liebenswürdige Großmutter habe ihr auf dem Kleidermarkt zum Schnäppchenpreis eine Kalaschnikow angeboten – erwartete ich fast, in Phnom Penh einen postleviathanischen Krieg aller gegen alle anzutreffen. Doch so kann man sich irren.

Warnschüsse auf Meeresbiologen

Verglichen mit anderen südostasiatischen Metropolen ist Phnom Penh eine eher geruhsame Stadt. Der Straßenverkehr ist harmlos, weit entfernt vom rasenden, lärmenden Stillstand eines Molochs wie Bangkok. Das Straßenbild, zumindest in der Innenstadt, ist gepflegt und zeigt weder den lieblosen Bombast chinesischer Großstädte noch die resignierte Chaosergebenheit von Manila oder Jakarta.

Die moderne Khmer-Architektur kann sich sehen lassen, genauso wie die alten französischen Kolonialbauten. Alles in allem ist Phnom Penh die am wenigsten dysfunktionale Hauptstadt, die mir in Südostasien bislang untergekommen ist. Das dachte ich jedenfalls in den ersten Tagen in Kambodscha. Aber der Firnis der ­Zivilität ist noch dünn. Nach kurzer Zeit zeigten sich die ersten Risse.

Ein holländischer Meeresbiologe, der in Kambodscha arbeitet, erzählte mir von einem Kollegen, der einige Nächte zuvor fast von einem Lexus überfahren wurde, auf dem Bürgersteig. Zornig haute er dem Auto auf den Kofferraum und stieß eine Verwünschung aus. Daraufhin trat der jugendliche Fahrer auf die Bremse, stieg aus und bedrohte den Ausländer mit einem Revolver. Zum Spaß feuerte er einen Warnschuss ab. Die Kugel prallte vom Straßenpflaster ab und traf den Fußgänger im Oberschenkel. Die Jeunesse Dorée von Phnom Penh kann tun und lassen, was sie will. Ihre Eltern sind so einflussreich, dass sie vor Gericht nichts zu befürchten hat.
Solche Dinge sind nicht alltäglich, aber sie sind symptomatisch. Die Ungleichheit im Land, nicht nur die ökonomische, sondern auch die vor dem Gesetz, ist so extrem, dass sich die Angehörigen der Elite buchstäblich alles herausnehmen können. Nicht nur Warnschüsse auf ausländische Meeresbiologen. Sie können auch ruhig einmal einen Mord versuchen, ohne ein großes Risiko einzugehen.

Dabei geht es Kambodscha gut, jedenfalls gemessen an den Schrecken seiner jüngeren Vergangenheit. Amerikanische Bombardements während des Vietnam-Krieges stürzten das Land in einen Tumult, der sich zu einem Bürgerkrieg auswuchs. 1975 schließlich mündete das blutige Chaos in die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Die forderte etwa zwei Millionen Todesopfer, bei einer Gesamt­bevölkerung von damals acht Millionen. Erst der Einmarsch vietname­sischer Truppen 1979 setzte dem Völkermord ein Ende, brachte aber neuen Krieg und Bürgerkrieg mit immer verwirrenderen Fronten in das Land. Hunderttausende von ausgehungerten Kambodschanern flohen nach Thailand, wo die grenznahen Flüchtlings­lager zum Teil unter den Einfluss der Roten Khmer, zum Teil unter vietnamesisches Raketenfeuer gerieten.

Die heillose Situation dauerte bis zum Friedensabkommen von Paris 1991 an. Selbst nach dem Friedensschluss und der darauf folgenden, größten UN-Operation aller Zeiten – die Vereinten Nationen schickten 1992 mehr als 20 000 Soldaten, Polizisten und zivile Mitarbeiter in das Land – kam Kambodscha nur allmählich zur Ruhe.

Tricks, Putsch, Betrug

Aus den politischen Kämpfen in den Neunzigern ging schließlich Hun Sen als Sieger hervor, ein früherer Rote-Khmer-Funktionär, der 1977 nach Vietnam geflohen war und seit Mitte der achtziger Jahre eine zentrale Rolle in der kambodschanischen Politik spielte. Er gelangte mit schmutzigen Tricks, Wahlbetrug und schließlich einem Putsch an die Macht. Aber die Stabilität, die seit Beginn des neuen Jahrtausends in Kambodscha einkehrte, hat der Wirtschaft des ­Landes Wachstumszahlen beschert, wie man sie sonst nur aus China kennt.

Der Vergleich mit China liegt in Kambodscha nie fern, schon deshalb, weil Premierminister Hun Sen es verstanden hat, unter den Bedingungen formaler Demokratie wesentliche Elemente einer Einparteienherrschaft chinesischer Prägung zu reproduzieren. Seine Anhänger argumentieren, genau dies sei das Erfolgsgeheimnis der kambodschanischen Wirtschaft.

Ob das stimmt, ist mindestens ungewiss. Die Opposition – sie ist auf entfernt ähnliche Weise kalt gestellt wie in Russland – wirft ihm vor, er habe die vielversprechenden Ansätze zu wirklicher Demokratie im Land zunichte gemacht. Sicher ist jedenfalls, dass sein Rezept – enge Kooperation zwischen Privatwirtschaft und Politik, die es mit der Legalität nicht so genau nimmt und der Korruption reichlich Spielraum gewährt – für die Schattenseiten der kambodscha­nischen Entwicklung mitverantwortlich ist. Diese Entwicklung ist ein Feuer, das zwar wirklich Licht pro­duziert, aber auch viel Rauch. Kambodschas Weg vom Extremfall eines Failed State zu einem Land, in dem es sich leben lässt, ist ein schmutziger, ambivalenter Prozess. Grelle Ungerechtigkeit gehört ebenso dazu wie ein erstaunliches Wirtschaftswachstum; eine autoritäre Regierung ebenso wie eine lebhafte Zivilgesellschaft.

Beides, viel Rauch und etwas Licht, ist nirgendwo deutlicher sichtbar als in den Arbeitsverhältnissen im Land. Als Industriestandort ist Kambodscha ein Neuling, dessen wesent­licher Wettbewerbsvorteil in Arbeitskräften besteht, die noch viel billiger sind als in der Volksrepublik China. Darum ist Kambodscha geeignet für arbeitsintensive Produktion, die nicht viel Technik erfordert. Mit anderen Worten: Textilien und Turnschuhe. Kein Wunder also, dass die größten Marken präsent sind. Puma, Adidas, Nike, H&M und andere lassen dort von heimischen Subunternehmern produzieren. Eine dieser Fabriken war der Schauplatz eines nahezu straffreien Mordversuchs.

Ein einflussreicher Mann

Im Februar gab es einen Streik vor einer Fabrik der taiwanesischen Firma Kaoway, die für Puma produziert. Plötzlich feuerte jemand mit einer Kalaschnikow in die Menschenmenge hinein. Drei Menschen wurden verletzt, einer von ihnen schwer. Nachdem sich die Verwirrung einigermaßen gelegt hatte, fiel der Verdacht auf den Gouverneur der Provinz. Jetzt muss er sich vor Gericht verantworten. Aber nicht für versuchten Mord oder selbst Totschlag. Er ist der fahrlässigen Kör­perverletzung angeklagt. Der Gou­verneur ist eben ein einflussreicher Mann.

In welchem Sinn es fahrlässig ist, mit der Kalaschnikow auf eine Menschenmenge zu schießen, „das muss sich wohl jeder selber denken“, meint David Welsh. Ich traf den 39-jährigen Kanadier zufällig vor dem Gerichtsgebäude in Svay Rieng, etwa drei Stunden Autofahrt von Phnom Penh entfernt. Dort fand Ende Mai die erste Befragung der Zeugen statt. Welsh ist Rechtsanwalt. Er arbeitet in Kambodscha für eine amerikanische Gewerkschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hat, unabhängige Gewerkschaften in Niedriglohnländern mit Rat, juristischem Beistand und organisatorischem Können zu unterstützen.

Das wirklich Erstaunliche, meinte Welsh, sei nicht so sehr das Verbrechen, sondern vielmehr die Tatsache, dass es überhaupt eine Gerichtsverhandlung nach sich zieht. Solche Schießereien seien zwar nicht an der Tagesordnung, aber man müsse damit rechnen, dass ein mächtiger Politiker damit straffrei durchkommen könne.
Natürlich sei es absurd, bei einem derartigen Verbrechen von Fahrlässigkeit zu sprechen, meinte Welsh. Die Pointe sei aber, dass es überhaupt eine Anklage gebe. „Jetzt kann man sich natürlich streiten, ob das Glas halb voll ist oder halb leer“, setzte er hinzu. Er hält es für einen Fortschritt. Dieser Optimismus, noch dazu von einem Gewerkschafter, sagt etwas über die juristischen Zustände in dem Land.

Aber Welsh hat recht. Das verdeutlicht wiederum der Vergleich mit China, wo jemand wie er überhaupt nicht arbeiten dürfte. Es waren auch viele kambodschanische Gewerkschafter bei der Befragung zugegen. Sie gehören zu einer unabhängigen, das heißt: nicht staatlich kontrollierten Gewerkschaft, wie sie in China vollkommen undenkbar wäre.

Nun lebt man allerdings gefährlich als Gewerkschafter in Kambodscha – in den vergangenen sieben Jahren wurden drei erschossen, die Morde wurden nie aufgeklärt. Inzwischen haben prominente Gewerkschafter eine gewisse Nonchalance gegen Morddrohungen entwickelt, von denen sie sich nicht an ihrer ­Arbeit hindern lassen.
Das ist schlimm, aber es bedeutet auch, dass eine zivilgesellschaftliche Dynamik in Kambodscha trotz allem existiert. Was ebenfalls einen Unterschied zu China markiert, ist die Tatsache, dass ich vor dem Gerichtsgebäude ungestört mit Mikrofon und Kamera hantieren konnte. Wenn ich das in Peking versuchen würde, hätte ich sofort die Polizei auf dem Hals.

Zustände wie bei Charles Dickens

Nach der Befragung der Zeugen hatte ich Gelegenheit, mit den Opfern zu sprechen. Eines von ihnen, ihr Name ist Bun Chenda, ist 20 Jahre alt und sieht aus, als sei sie 14. Der Täter hat ihr in den Rücken geschossen, als sie davonzulaufen versuchte. Sie hätte es beinahe nicht überlebt. Sie war sehr schüchtern und wirkte so, als erlebe sie die ganze Gerichtsszene wie im Traum. Ihre Mutter war auch da, eine Bäuerin mit einem Gesichtsausdruck von versteinerter Expressivität, wie ich ihn sonst nur von 100 Jahre alten Fotos kenne.

Bun Chenda konnte nicht verstehen, warum man auf sie geschossen hatte. Sie arbeitet zehn Stunden am Tag, sagte sie, häufig auch mehr, sechs, manchmal sieben Tage die Woche. Der Lohn dafür sind 120 Dollar im Monat. Das reicht auch in Kambodscha nicht und entspricht in etwa dem Preis, den westliche Konsumenten für ein Paar der Puma-Turnschuhe zahlen, die sie zusammenzukleben hilft. Der „Überlebenslohn“, den die Gewerkschaft ermittelt hat, liegt bei etwa 270 Dollar. Immerhin hatte der Vorfall auch gute Konsequenzen, meinte Bun. Es gebe jetzt zehn Dollar mehr als vorher, und wenn man die Überstunden, zum Beispiel am Sonntag, verweigert, werde man nun nicht mehr sofort gefeuert, sondern erst nach einer Verwarnung.

Aber die Charles-Dickens-artigen Zustände in der jungen Industrie des Landes sind nicht das allein definierende Merkmal der Gesellschaft. Schon deshalb, weil die Mehrheit der Kambodschaner – etwa 80 Prozent von ihnen – in Dörfern lebt, in denen es gar keine Industrie gibt.

Mit Kunst gegen das Chaos

Der junge Maler Nov Cheanick wohnt in einem Bauerndorf etwas außerhalb der nordkambodschanischen Stadt Battambang, knapp 300 Kilometer oder sieben Stunden Busfahrt von Phnom Penh entfernt. Cheanick wurde 1988 in einem Flüchtlings­lager in Thailand geboren. Seine ­Eltern flohen 1979 über die Grenze. Cheanicks Nachbarn im Ort sind ebenfalls heimgekehrte Flüchtlinge.

Als Anfang, Mitte der neunziger Jahre Zehntausende von ihnen nach Battambang kamen, drohte die kleine Stadt im Chaos zu versinken. Slums wuchsen in den Außenbezirken, Armut, Gewalt und organisiertes Verbrechen machten das Städtchen zu einem harten Pflaster. Dass Cheanick einmal Bilder in Galerien in Phnom Penh, Hongkong und demnächst vielleicht in den USA ausstellen würde, dafür standen die Chancen wirklich schlecht. Aber die Heimkehrer in Battambang haben es verstanden, sich selbst zu helfen. Die Gewalt ist aus den Straßen verschwunden. Einige der früheren Slums haben sich sogar zu ganz hübschen Vororten entwickelt.
Teil der Selbsthilfe ist eine Kunstschule, gegründet 1994 von acht jungen Heimkehrern unter dem Namen Phar Ponleu Selpak. Der Plan war, den Straßenkindern von Battambang zu einer Ausbildung und zu neuen Möglichkeiten zu verhelfen, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen.

Das zweite Ziel besteht darin, eine neue Generation von kambodschanischen Künstlern zu fördern, nachdem die Roten Khmer fast alle umgebracht haben. Der Plan geht offenbar auf. Neben der Kunstschule betreibt Phar Ponleu Selpak heute eine gebührenfreie Grund- und Mittelschule mit 1200 Schülern, eine Zirkusakademie, ein Animationsstudio, eine Musikschule und ein Büro für Grafikdesign. Einige Absolventen der Kunstschule spielen inzwischen eine bedeutende Rolle in der kambodschanischen Gegenwartskunst. Rund die Hälfte ihrer Unkosten kann die Organisation selbst erwirtschaften, die andere Hälfte kommt aus Spenden. Ihr Erfolg zeigt, was zivilgesellschaftliches Engagement vermag, wenn man es lässt.

Nov Cheanick ist einer der Absolventen der Kunstakademie. Zurzeit bereitet er eine Soloausstellung in Phnom Penh vor, die im November beginnen soll. Neuerdings interessieren sich Sammler in der Hauptstadt für seine Bilder. Das bedeutet unter anderem, dass es ihm finanziell ganz passabel geht. Reich ist er allerdings nicht. Cheanick lebt in einem Schuppen – er nennt ihn sein Haus –, den er selber gebaut hat: Vier Pflöcke eingeschlagen, Spanplatten drangenagelt, fertig. Die anderen Häuser im Dorf sehen auch so aus, nur dass die Wände meist aus geflochtenen Palmenblättern bestehen.

Farce eines Prozesses

Auch bei Cheanick sind die Spanplatten neu. Vorher hatte er Leinwandbahnen als Wände. Die hat er mit großformatigen Porträts der Bauern aus seiner Nachbarschaft bemalt. ­Außerdem mit Porträts von Opfern aus dem Tuol-Sleng-Gefängnis in Phnom Penh, die kurz vor ihrer Hinrichtung durch die Roten Khmer für die Akten fotografiert wurden, und mit einem Bild von Pol Pot. Nachdem die Porträts einige ­Monate seine Wände zierten, hat Cheanick sie ab­genommen, sie auf Bambusstangen getackert und damit das Dach auf dem Treibhaus seines Vaters gedeckt. Kürzlich hat ein Sturm das Treibhaus zum Einsturz gebracht. Jetzt liegen Pol Pot, seine Opfer und die Bauern halb von Grünzeug überwuchert zwischen den Mangobäumen hinter ­Cheanicks Haus.

Etwa zur gleichen Zeit, in der die Porträts entstanden, entwickelten sich die Prozesse gegen die Roten-Khmer-Anführer in Phnom Penh immer mehr zu einer Farce. 150 Millionen Dollar haben die Prozesse bis jetzt verschlungen. Dafür wurden insgesamt fünf Rote-Khmer-Funktionäre vor Gericht gestellt.

Die Regierung hat schon klar gemacht, dass es zu weiteren Prozessen nicht kommen wird. Die Verbindungen zwischen der neuen und der alten Elite sind einfach zu eng, als dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden könnte. Darum trat Laurant Kasper-Ansermet, der Schweizer Ermittlungsrichter beim Rote-Khmer-Tribunal, im März zurück, genau wie sein Vorgänger, der Deutsche Siegfried Blunk, wenige Monate zuvor.

Wer allzu renitent gegen das Unter- den-Teppich-Kehren aufmuckt, für den kann es auch leicht gefährlich werden, wenn er nicht gerade unter dem Schutz der UN steht. Der kam­bodschanische Filmemacher Thet Sambath – er hat eine Dokumentation über die Zeit der Roten Khmer gedreht, „Enemies of the People“ – lebt in Todesangst. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Wenn er sich doch einmal mit Journalisten trifft, dann nie zweimal hintereinander am selben Ort.

Nov Cheanick hat noch nie von dem Film gehört. Indessen findet er es passend, dass die Bilder von Pol Pot, seinen Opfern und den Bauern zusammen in seinem Garten liegen und dass sie gemeinsam demselben Regen und derselben Sonne ausgesetzt sind. „Wir müssen ja doch alle zusammenleben“, meint Cheanick. „Da ist es besser, wenn wir einander verzeihen.“

Vielleicht nimmt er die Vergangenheit deshalb relativ leicht, weil er erst 23 Jahre alt ist. Die Roten Khmer kennt er zu seinem Glück nur aus Erzählungen. Das hat er mit den meisten anderen Kambodschanern gemeinsam. Das Durchschnittsalter im Land liegt bei 21 Jahren. Knapp 70 Prozent der Kambodschaner sind jünger als 30. Für sie rückt die schlimme Geschichte ihres Landes rasch hinter den Horizont des Vergebens und Vergessens, schon deshalb, weil sie den meisten von ihnen gar nicht vollständig bekannt ist.

Ich bin 37 Jahre alt und liege damit in Kambodscha schon weit über dem Durchschnitt. Auch daran merkt man, dass man älter wird: Dass die anderen jünger sind. Woran wohl Cheanick und Bun Chenda, die junge Arbeiterin in Svay Rieng, merken werden, dass sie älter werden? Wenn sie großes Glück haben, dann daran, dass die harten Zeiten in den Fabriken und den Slums sich in 20 Jahren für sie fast ebenso weit entfernt anfühlen werden wie heute die schreckliche Geschichte der Roten Khmer.

JUSTUS KRÜGER ist freier Journalist und berichtet u.a. für die Neue Zürcher Zeitung  aus Hongkong.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 84-90

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